Am Volkstrauertag, Sonntag, 15. 11. 2015, wurde auf dem Waldfriedhof in Wolfschlugen an die Opfer der sogenannten Euthanasiemorde im Dritten Reich erinnert, 75 Jahre nach den schrecklichen Ermordungen von mehr als zehntausend geistig-behinderten und psychisch kranken Menschen. Die Veranstaltung war eingebettet in das alljährliche Gedenken des VdK Wolfschlugen/ Grötzingen an die Toten der beiden Weltkriege. Bürgermeister Matthias Ruckh und der Vorsitzende des VdK Wolfschlugen, Georg du Mont, enthüllten fünf schlichte Erinnerungssteine für die Opfer, die aus Wolfschlugen stammten.
„Jedes Menschenleben ist von unschätzbarem Wert“, betonte Bürgermeister Ruckh. „Heute schlagen wir eine bislang unbekannte Seite in der Geschichte des lokalen Geschehens auf. Am diesjährigen Volkstrauertag wollen wir an die Euthanasiemorde erinnern“.
Pfarrer Norbert Graf las das Friedensgebet von Franz von Assisi. Die feierliche musikalische Umrahmung gestalteten Mitglieder des Musikvereins Wolfschlugen unter Paul Jacot und des Posaunenchors unter Joschi Lorenz. Günter und Irene Kaßberger, geborene Balz, aus Unterensingen berichteten vom Schicksal der fünf namentlich bekannten Bürger aus Wolfschlugen, die den Euthanasiemorden zum Opfer fielen. Nach der Enthüllung verharrten die Angehörigen der Opfer in einer Schweigeminute vor den Erinnerungssteinen.
Der Impuls für diese Veranstaltung kam von Familie Kaßberger. Irene Kaßberger, deren Großvater zu diesen Opfern gehörte, hatte im September 2015 beim „Männerfrühstück“ in Wolfschlugen von der „Spur der Erinnerung“ berichtet, die vor fünf Jahren zwischen dem Innenministerium in Stuttgart und der Gedenkstätte Grafeneck als lila Band und sichtbarer und mahnender Ausdruck des Unrechts auf die Straßen gemalt wurde.
In Grafeneck hatte 1940 die sogenannte Aktion „Gnadentod“ oder „Aktion T4“ begonnen. Mehr als 10.000 Menschen wurden als „lebensunwert“ bezeichnet und im Rahmen der „Euthanasie“ systematisch ermordet. Euthanasie bedeutet Eu-: gut, richtig, leicht, schön; und –thànatos: der Tod. Der Betrieb in Grafeneck wurde mit cirka 200 „Bediensteten“ durchgeführt. Erfahrungen aus dieser „Tötungsanstalt“ wurden in Konzentrationslagern (KZ), unter anderem in Auschwitz, angewandt. Die Mörder von Grafeneck bekamen nach 1940 in anderen KZs erweiterte Macht und Kompetenzen. Die wenigsten wurden später zur Rechenschaft gezogen.
Quellen:
Amtsblatt Wolfschlugen, 23. 09. 2015
Wikipedia
Iris Raupp, Januar 2016
Karl Wilhelm Balz wurde in Wolfschlugen geboren. Seine Mutter starb, als Karl sieben Jahre alt war. Danach wuchs er bei Verwandten in Wolfschlugen auf. Im Oktober 1896 heiratete er Christiane Friederike Stoll. Mit seiner Frau und sieben Kindern, drei Töchtern und vier Söhnen, lebte er in einem kleinen Haus in der Waldhäuser Straße. Die Familie war arm, die Kinder mussten bei Bauern auf deren Höfen helfen, damit sie etwas zu essen bekamen. In diese Zeit fiel auch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Karl Balz arbeitete im Sommer als Gipser und im Winter und zeitigen Frühjahr als Waldarbeiter. 1929 starb seine Frau. Im Jahr 1931 kam er wegen Wahnvorstellungen in die Universitätsnervenklinik nach Tübingen. Der Arztbericht aus dem Jahr 1932 gibt die Äußerungen seines 26-jährigen Sohnes zur Vorgeschichte bei der Aufnahme wie folgt wieder: „Der Patient habe geklagt, er höre dauernd Stimmen. Er glaube, man wolle ihn umbringen und fühle sich von Leuten verfolgt.“ Ärztlicherseits wurde eine endogene Depression festgestellt.
Im Juli 1932 kam er in die Heil- und Pflegeanstalt Weißenau bei Ravensburg. Regelmäßig wurde Karl Balz von seinen Kindern in Weißenau besucht, sie hielten auch mit Briefen den Kontakt zu ihrem Vater aufrecht. Fast neun Jahre lebte er dort. Aufgrund des Tipps eines Oberensingers, der aus Weißenau geflohen war und berichtet hatte, dass dort schlimme Dinge passieren, wollten Karls Sohn Otto und die Tochter Rosine, genannt „Rösle“, ihren Vater nach Hause holen. Ein Zimmer für den Vater war im Haus seiner Tochter Emma in Oberensingen schon für ihn hergerichtet. Der dortige Arzt riet ihnen dringend davon ab mit der Begründung, sie würden ihres Vaters nicht Herr werden. Diesem Urteil mussten sie sich schweren Herzens beugen.
Das standesamtliche und damit „offizielle “Sterbedatum von Karl Balz ist der 19.09.1940 in Grafeneck, ein Datum, das zum Zwecke der Täuschung von Angehörigen und Behörden gefälscht worden war. Nach seiner Ermordung erhielt sein Sohn Otto folgenden Brief vom zuständigen Arzt, der sich zynisch als "Dr. Jäger" tarnte: „Sehr geehrter Herr Balz, zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Karl Balz, der am 9. September 1940 auf ministerielle Anordnung gemäß Weisung des Reichsverteidigungskommissars in die hiesige Anstalt verlegt werden musste, unerwartet am 19. September 1940 an einem Hirnschlag verstorben ist. Bei seiner unheilbaren geistigen Erkrankung bedeutet sein Tod Erlösung für ihn“. Weiter wurde der Familie mitgeteilt, dass der Verstorbene aus „seuchenpolitischen Erwägungen“ heraus sofort eingeäschert werden musste. Man bat um Mitteilung, zu welchem Friedhof die Übersendung der Urne veranlasst werden solle. Als Name des Standesbeamten in Grafeneck, der die Sterbeurkunde ausstellte, war in der Urkunde „Zorn“ angegeben. Die Kinder von Karl Balz glaubten nie an einen natürlichen Tod des Vaters. Dem Sohn Otto Balz war klar, dass sein Vater in Grafeneck ermordet worden war. Bis heute schwingt dieses Geschehen als kollektives Trauergefühl in den Familien der Nachkommen nach.
Irene Kaßberger wurde drei Jahre nach dem Tod ihres Großvaters geboren. Sie erzählt: „Die Geschichte meines Großvaters hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. In mir wuchs der Wunsch, ihm ein Gedenken in seinem Heimatort zu schaffen. Wir sind neun Enkel, sieben Frauen und zwei Männer. Auch sie waren für diesen Gedanken aufgeschlossen. Nachdem ich erfahren habe, dass noch weitere vier Personen aus Wolfschlugen in NS-Tötungsanstalten ermordet worden waren, war für mich klar, dass auch diese in das Gedenken eingeschlossen werden müssten. Dieses Anliegen besprach ich mit Bürgermeister Ruckh aus Wolfschlugen. Er zeigte sich sehr aufgeschlossen hierfür und stellte unseren Wunsch dem Gemeinderat vor, der die Errichtung einer Gedenkstätte in Wolfschlugen im Sommer 2015 einstimmig beschloss". Entwurf, Ausführung und Standort wurden zwischen Bürgermeister und Angehörigen abgestimmt. Die Finanzierung erfolgte durch die Angehörigen und weitere Spender.
Luise Karoline Mühlhäuser wurde in Hochdorf, Oberamt Kirchheim/Teck (heute Kreis Esslingen/Neckar), geboren. Im April 1906 heiratete sie dort den Maurer Albert Balz aus Wolfschlugen, einen jüngeren Halbbruder von Karl Balz. Die Ehe wurde wegen „Geisteskrankheit der Ehefrau“ im Jahr 1930 geschieden.
Es ist nicht bekannt, ab wann sich Luise Balz in der Diakonissenanstalt Schwäbisch-Hall aufhielt. Am 20.11.1940 wurde sie von Schwäbisch-Hall in die Heilanstalt Weinsberg verlegt. Die Anstalt Weinsberg war eine sogenannte Zwischenanstalt auf dem Weg in die Gaskammer. Auf der Transportliste für den 10.03.1941 ist ihr Name mit dem Vermerk „mit unbekanntem Ziel“ zu finden. Sie gehörte zu den Patienten, die an diesem Tag in die Heilanstalt Hadamar bei Limburg in Hessen transportiert und dort sofort getötet wurden. Die standesamtliche Falschmeldung nennt als Todesdatum den 20.03.1941.
Im Sommer 2015 berichtete der 83-jährige Erwin Maier, in Wolfschlugen unter dem Namen “Gässlesbäck” bekannt, von einem Ereignis, das sich vor 75 Jahren in seiner Familie zugetragen hat: „Als achtjähriger Bub musste ich erleben und mit ansehen, wie meine Tante Emma an einem sonnigen Tag von zwei Männern aus unserem Haus abgeholt wurde und nie wieder kam. Sie waren in einem Militärfahrzeug vorgefahren und trugen lange dunkle Ledermäntel und breite Hüte. Emmas Mutter Christiane, meine Großmutter, stellte sich vor ihre Tochter und verlangte empört Auskunft von den Männern, warum sie ihre Tochter mitnehmen wollten. Einer der beiden fuhr sie an, wenn sie Schwierigkeiten mache, werde auch sie mitgenommen. Nach einigen Wochen kamen Emmas Kleider unverpackt, nur mit Schnüren zusammengehalten, bei ihren Eltern an. Bis heute treibt mich die Frage um, wer meine Tante den Behörden gemeldet und damit ihre Abholung verursacht hat. Emma hatte eine körperliche Behinderung, einen verkürzten rechten Arm. Außerdem hatte sie gelegentlich epileptische Anfälle. Trotz dieser Beeinträchtigungen hat sie ein normales Leben im Rahmen ihrer Familie geführt. Sie half mit in der Familien-Bäckerei. Für niemand stellte sie eine Belastung dar.“ Dieses Ereignis brannte sich in die Seele des Kindes ein und ist ihm heute noch so gegenwärtig, als wäre es gestern geschehen.
Emma Johanna Maier war ledig. Ihre Mutter Hanna war in zweiter Ehe verheiratet mit Julius Maier, Emmas Stiefvater. Die Familie betrieb in der Friedhofstraße 11 eine Bäckerei. - Nach Dokumenten der Erinnerungsstätte Grafeneck wurde Emma Maier am 07 04.1940 in die Heilanstalt Weißenau bei Ravensburg eingeliefert. Von dort aus wurde sie am 05.12.1940 mit einem der grauen Busse in die Tötungsanstalt Grafeneck abtransportiert und dort am selben Tag in der Gaskammer ermordet. Dieser sogenannte Sondertransport bestand aus 56 Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Weißenau. Als ihr „offizielles“ "Sterbe"datum gilt der 18.12.1940, angeblich „gestorben“ in der „Heilanstalt“ Schloss Hartheim bei Linz in Oberösterreich.
Johannes Schäfer wurde in Wolfschlugen geboren. Im Jahr 1906 heiratete er Luise Anna Fahrion in Esslingen/ Mettingen. Seit Herbst 1929 befand er sich in der Landesfürsorgeanstalt Rabenhof/Ellwangen. Sein Tod wurde vom Standesamt II Brandenburg/Havel gemeldet und vom Standesamt Wolfschlugen im Taufregister vermerkt, allerdings ohne Datum. In Wirklichkeit war er von Ellwangen am 17.10.1940 mit einem der grauen Busse nach Grafeneck geschafft und dort am gleichen Tag mit Gas getötet
Der ledige Karl Gustav Trautwein wurde in Wolfschlugen geboren. Er war geistig behindert. Auch sein Todesdatum wurde gefälscht. Es soll der 09.06.1940 gewesen sein, tatsächlich wurde er zwei Wochen zuvor in Grafeneck vergast. Aus der Heilanstalt Weißenau war er, wie alle anderen Opfer der Euthanasie-Morde, mit einem der berüchtigten grauen Busse nach Grafeneck transportiert und am Tag der Ankunft getötet worden.
Mündliche Quellen:
Irene und Günter Kaßberger (Unterensingen), basierend auf Informationen der Gedenkstätten Grafeneck, Hadamar, Brandenburg, Juli bis Oktober 2015
Zeitzeugenaussage von Erwin Maier („Gässlesbäck“ in Wolfschlugen), 11. 09. 2015
Schriftliche Quellen:
G. Ehehalt, Nürtinger Zeitung vom 05. 08. 2015, Seite 17, Gedenksteine für Wolfschlüger Naziopfer
Hans Haussmann, Wolfschlugen, Juli 2014
StALB: F1/ 234 Band 315, Nr. 1207; E 180 al, Nr. 52 bis 56; F I 234, Bü 1127, Transport vom 10. 03. 1941
StAS: Wü 42 T 94, 444
www.tenhumbergreinhard.de
Anne Schaude, Januar 2016
Personen-Fotos: Privatbesitz Familie Kaßberger, alle Rechte vorbehalten!
Fotos der Erinnerungssteine: Anne Schaude. alle Rechte vorbehalten!