Erzählkunst deutscher Sinti und Roma

Vier Beispiele aus Baden-Württemberg

Am Beispiel von Anton Reinhardts Geschichte vom "Menschenglauben" sieht man, dass Sinti eine Tradition haben, ihren Kindern wichtige Geschichten zu erzählen. Ein Grund dieser Sinti-Erzählkunst liegt darin, dass Kinder mit solchen Geschichten einprägsame Leitlinien für eine gute innere Lebenshaltung mit auf ihren Lebensweg bekommen.

Reinhold Lagrene

Reinhold Lagrene aus Heidelberg hebt folgende Charakteristika zur Erzählkultur und Erzählkunst deutscher Sinti und Roma hervor:

 

  1. "Sinti und Roma leben meinem Eindruck nach gemeinschaftsorientierter als die Mehrheitsbevölkerung"
  2. "Über wieder und wieder erzählte Geschichten reflektieren wir die grundlegenden historischen Erfahrungen unseres Volkes"
  3. "Ein dritter Unterschied der Bedeutung des Erzählens für unsere Kultur im Vergleich zur Mehrheitskultur liegt darin, daß wir Sinti/Roma das Erzählen wohl immer gebraucht haben, um uns selbst zu bestärken und unseren Stolz zu behaupten"
  4. "Damit eng verbunden ist ein vierter Aspekt: bei uns werden Geschichten erzählt, um Kinder in eine gute Lebenshaltung einzuführen, um ihnen deutlich zu machen, wie sie sich verhalten sollen, um ihnen die Richtung anzuzeigen"
  5. "Eine fünfte Besonderheit sehe ich darin, daß sich bei vielen Erzählungen das Wirkliche und das Unwirkliche vermischen, z.B. dadurch, daß meine Verwandten persönliche Erlebnisse erzählten, die ganz unwirklich erschienen"(1)

 

Als Beispiel für eine Geschichte, die Kinder in ihre "spätere Lebenshaltung einführen sollte" nennt Reinhold Lagrene die Geschichte vom Wolf und der Krähe, die sein Vater ihm erzählt hatte.

 

Die Geschichte vom Wolf und der Krähe

 

"Ein Wolf und eine Krähe hatten "sich zeitlebens gegenseitig geplagt und bekämpft"... "Eines Tages kam ein Jäger in den wald. Die Krähe erspähte den Jäger und brachte sich in Sicherheit. Von ihrem Platz in einer dunklen Tanne aus sah sie, wie der Jäger sich an den Wolf anschlich, der in der warmen Sonne ein Mittagsschläfchen hielt. Statt den Wol mit ihrem Ruf zu warnen, hielt sie gespannt den Atem an. Der Jäger legte an und schoß den schlafenden Wolf ungehindert ab. Die Krähe feixte und freute sich über den frühen Tod ihres Erzfeindes und meinte, sich nun ihres Lebens so recht erfreuen zu können. So verging ein Jahr. Es war wieder ein warmer Sommertag, die SOnne schien auf das schwarze Gefieder der Krähe, sodaß es im Licht in wunderbar blauschwarzen Tönen schimemrte. Die Krähe, welche ganz beschäftigt war mit dem Picken von Beeren, Maden und Würmern, hüpfte etwas unachtsam auf eine Schale, die - ihren Weg behindernd - vor ihr auf der Erde lag. Sie hüpfte so ungeschickt auf den Rand dieser Schale, daß diese umkippte und dabei die Krähe unter sich begrub. Die Krähe mochte sich mühen,.wie sie nur wollte, sie kam nicht mehr frei. Und so starb sie einen grausamen Tod. Nun fragte uns mein Vater, was für eine Schale es wohl gewesen sei, die die Krähe unter sich begrub: Es war die ausgeblichene Hirnschale des Wolfes, die den Tod der Krähe verursacht hatte...."(2)

Welche Sinnspitze liegt in dieser Geschichte?

 

Erst selber überlegen...

 

Reinhold Lagrene nennt als eine der Lehren dieser Fabel: hier klicken!

Reinhold Lagrene erläutert weiter:

 

"Ich erinnere mich gut: wir hatten uns große Teile des Tages in der Welt der Nicht-Sinti bewegt: wir waren in der Schule gewesen, hatten draußen auf der Straße gespielt, waren vielleicht zum Einkaufen gegangen oder hatten den Vater, die Mutter oder andere begleitet, wenn sie Möbel, Bilder und andere Antiquitäten aufkauften oder an die Händler verkaufen wollten. Dabei mussten wir erleben, daß wir als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden.

 

Wenn wir Kinder damit zu kämpfen hatten, uns gedemütigt zu fühlen und wütend, enttäuscht und unglücklich nach Hause kamen, dann erzählte uns oft irgend jemand eine Geschichte."(3)

 

Als Beipiel für eine Gechichte der Selbstbestärkung und Behauptung des Stolzes nennt Reinhold Lagrene folgende Erzählung, von der hier nur zwei Drittel zitiert werden:

 

"Ja, unsere Leute, die konnten mit Feuer umgehen! Was aber, wenn der Förster kommt? Um Gottes willen! Immer gibt es Ärger. Schnell weg mit dem Topf, die Flammen austreten und Sand über die Glut, zuletzt die Decke drauf und allemann draufsitzen. Nein, zu verbergen haben wir nichts. Alles wie es sein soll, ganz normal. Grüß Gott, Herr Oberförster.

 

Der Förster aber, der Hund, will's wieder besser wissen. "und - was riecht es hier nach Feuer?" - Vielleicht sind ein paar Köhler im Wald. - "So, und den brandheißen Topf da habt ihr auch von ganz allein!" - Ja, dieser Wundertopf, da haben sie ganz recht, der ist allerdings etwas besonderes, ein Schatz ist er, immer voll und stellt man ihn auf den Boden, so fängt die Suppe auch schon zu kochen an. Was brauchen wir da ein Feuer. Nein, Herr Oberförster, so gut wie uns möcht's Euch bestimmt auch gehen. Mit so einem Topf hat man ausgesorgt.

 

Den Förster aber hat's gepackt! Schon will er um den Topf handeln, als sei der wie jeder andere käuflich zu haben. Shrecklich zerrt der Mensch. Was soll man machen, er will's und erzwingt das Geschäft. Und der Topf, das gute Stück wechselt für einige Dukaten seinen Besitzer. 

 

Ob der Topf aber kann. was der jetzt von ihm will? Man sieht schon und hört den Förster schreien daheim, als sei er der Betrogene. "Wenn ich die nochmal erwische -!

 

Nun gut, über ein Jahr später kamen die Leute wieder in die Gegend. Schlechte Zeiten waren es, der Hunger riß an den Bäuchen, was sollte man tun? Besser es kostet einen Hasen als das Leben der Kinder. Das Wild war schnell gefangen, erlegt und ausgeweidet. Da kam einer von den jungen Burschen angerannt. Er hatte den Föster gesehen, ja genau den vom vergangenen Jahr. Ohweh, was tun, das gibt Ärger. Nur weg mit dem Hasen, dem Fell, - und das Eingeweide? Wird halt dem Nächststehenden in den Wams gestopft. So alles in Ordnung: Wir haben nichts zu verbergen. Alles wie es sein soll, ganz normal, Grüß Gott, Herr Oberförster.

 

Aber der? Nicht gut zu sprechen ist er auf die Leute, hat nichts vergessen und meint noch, er wüßte schon alles. Das Blut im Gras? - Ja, was wird gewesen sein - ein Fuchs hat sich ein Täubchen geschnappt oder einen jungen Hasen´. Wer weiß. Herr Oberförster, in so einem Wald, - Und - was soll schon sein mit dem Messer? - Blut? - Ja, g'rad hab ich's noch demonstriert. Ist halt ein besonderes Messer, ein ganz besonderes Messer. Den Bauch aufschneiden kannst Du damit und kaum ziehst Du das Messer wieder raus, ist nichts mehr zu sehen, und mehr noch, wer's zuvor mit dem Magen ahtte oder an der galle, der ist wieder gesund, so wahr ich hier stehe! Der Herr Oberförster will es nicht gluaben? Ich zeig's ihm gern. Komm her, ja Du, grad' Du! Ziehr Dich nicht, hast doch eben noch über Leibschmerzen geklagt. Wirst Dich halt wieder überfressen haben, Das haben wir gleich!

Und schnitt den Wams auf, daß die Eingeweide recht grauslich hervorquollen. Der so Aufgeschlitzte aber lachte, als sei rein gar nichts.

 

Mein Gott, hat's da den Oberförster gepackt. Das Messer mußte er haben, gleich wa es kosten sollte. Dem Teufel hätte er sich verraten und seine Frau dazu, wenn er nur das Messer bekäme.

Was war da anderes zu tun, als es ihm zu geben und den gerechten Preis zu nehmen, weiß man doch, was nichts kostet, taugt nichts.

 

Und schon lief der Förster davon, seine Frau zu kurieren, wie er noch rief..."(4)

 

 

Ein weiteres Beispiel für eine Sinti-Erzählung ist die Geschichte von Chinto Mari, erzählt von Reinhold Lagrene: hier klicken!

Eine weitere hintergründige Erzählung der Sinti:

 

"Railo  und die Buche 

 

Railo war ein junger Sinto. Auf seiner Reise kam er mit seiner Familie immer bei einer alten Buche vorbei. Wenn die anderen schon im vurdi schliefen, schlich er sich noch hinaus um sich unbemerkt neben dem Baum zu setzen.Er redete mit dem Herzen zu dem Baum : "Ich bin froh, dass du lebst, Blätter trägst und wunderbar duftest."Monate vergingen.Der Sommer war schon vorbei und Railos Familie kamen wieder bei der alten Buche vorbei. Die Herbststürme hatten schon fast alle Blätter von ihr gefegt. Railo war traurig. Da sprach eine Stimme in seinem si: "Warum bist du traurig?" Railo antwortete:" Im Sommer waren deine Blätter, so frisch und rauschten so lieblich wenn der Wind durch sie blies."Und jetzt bist du kahl, ohne Leben. Da hörte Railo in seinem si: " Wenn ich die Blätter nicht losgelassen hätte wäre ich erfroren. Weil ich die Blätter losgelassen habe, werde ich aufblühen und einen neuen Sommer erleben. Meine Blätter sind wie deine Gedanken. Lass sie einfach gehen, dann kommen neue."

 

Quelle: www.minderheiten.org, Direktlink zur Geschichte: hier!

Quellen:

 

(1) Reinhold Lagrene: Die Erzählkunst Deutscher Sinti und Roma, in: Daniel Strauß (Hrsg.): Die Sinti-Roma-Erzählkunst im Kontext europäischer Märchenkultur: Berichte und Ergebnisse einer Tagung. Heidelberg (Dokumentations- und Kulturzentrum Dt. Sinti und Roma) 1992, S. 132-141.

(2) ebda, S. 140f.

(3) ebda, S. 136.

(4) ebda, S. 136f.