Josef Herrmann war der erstgeborene Sohn des Viehhändlers Leopold Herrmann (Jahrgang 1893) und dessen Frau Fanny geborene Liebmann (Jahrgang 1844). Er kam am 4. November des Jahres 1866 im badischen Flehingen zur Welt.
Fanny geborene Liebmann stammte aus Nürtingen.
Von Flehingen nach Nürtingen
Flehingen war der Wohnort seiner Großeltern mütterlicherseits. Schon bald übersiedelte Josef Herrmann mit seinen Eltern nach Nürtingen, der Herkunftsstadt seiner Mutter Fanny Herrmann geborene Liebmann.
Die Nürtinger Großeltern
Fanny Herrmann geborene Liebmann war eine Tochter von Veit Liebmann (Jahrgang 1907) und Wilhelmine geborene Singer, die mit zwei Kindern als erste Juden wieder nach
Nürtingen kamen. Dies war im Jahr 1862 und erst möglich gewesen, nachdem die Juden seit 1850 staatsbürgerlich
ebenbürtig gleichgestellt waren und in Württemberg das Bürgerrecht erwerben konnten. Zuvor war Juden die Niederlassung in Württemberg und somit auch in Nürtingen im wesentlichen verboten
gewesen.
Veit Liebmann betrieb einen Gemischtwarenladen in der Frickenhauser Straße 20. Sein Schwiegersohn Leopold Herrmann war Viehhändler. Er betrieb den Viehhandel
zunächst gemeinsam mit seinem Schwiegervater, während sein Schwager August Wallerstein wohl ebenfalls mit seinem Schwiegervater in der angestammten Branche von Veit Liebmann, in dessen Handlung,
tätig war.
Ein guter Schüler
Josef Herrmann ging zunächst in die Volksschule in Nürtingen. Im Jahr 1874 wechselte er in das neue Nürtinger Reallyzeum über. Die Sexta des Reallyzeums beinhaltete 58 Schüler [die verschiedenen Jahrgänge wurden früher mit lateinischen Zahlen, angefangen von der größten zur kleinsten Zahl, als Sexta, Quinta, Quarta, usw. bezeichnet]. Im Schuljahr 1876/77 stand Josef Herrmann im ersten Halbjahr der Quinta unter 36 Mitschülern leistungsmäßig an siebter Stelle. Im zweiten Halbjahr belegte er von seinen Leistungen her den achten Platz. Somit war er ein guter Schüler auch im Reallyzeum. Er erreichte einen höheren Schulabschluss, die Obersekundareife. Sie ist einer heutigen Mittleren Reife vergreichbar. Nach der Schule dürfte er in den väterlichen Viehhandelsbetrieb eingetreten sein.
Freiwillger beim Militär
1886 ging er dank seines höheren Bildungsabschlusses und des Vermögens seines Vaters als Einjährig-Freiwilliger in das Grenadierregiment Königin Olga Nr. 119. Danach wird er wieder im Viehhandelsbetrieb seines Vaters tätig gewesen sein.
Ein eigenes Viehhandelsgeschäft in der Laiblinstegstraße
Am 22. Mai 1895 heiratete Josef Herrmann in Bretten die von dort stammende Frieda Herzer. 1896 eröffnete der knapp Dreißigjährige ein eigenes Viehhandelsgeschäfts in der Laiblinstegstraße.
Als einer der Nürtinger Honoratioren im Liederkranz
Dem Nürtinger Liederkranz gehörten zahlreiche Honoratioren der Stadt an. Seine Mitglieder waren Geschäftsinhaber, Fabrikanten, Männer aus dem Bankwesen wie auch Beamte der Stadt und des Oberamtes und Lehrer. Nun beruflich selbstständig, trat auch Joserf Herrmann er in den Nürtinger Liederkranz ein. Dies markiert seine hohe gesellschaftliche Stellung und sein Ansehen in der Stadt.
Flora, Ludwig und Fanny
Ein Jahr später kam Josef und Frieda Herrmann bekamen drei Kinder: Flora (Jahrgang 1897), Ludwig (Jahrgang 1902), und Fanny (Jahrgang 1904). Bis um 1910 wohnte die Familie in der damaligen Laiblinstegstraße 6 (heute Laiblinstegstraße 7–9).
Ein respektierter Viehhändler mit hohem Ansehen
Josef Herrmann war ein respektierter Viehhändler, sein Wort hatte auch bei den Stadtbehörden Gewicht.
Auch sonst genoss Josef Herrmann in Nürtingen großes Ansehen.
Aufsichtsratsmitglied der Handwerkerbank (heute Volksbank)
War schon die Mitgliedschaft im Nürtinger Liederkranz ein Indiz dafür, dass Josef Herrmann zu den Honoratioren gehörte, so ist seine Funktion als Aufsichtsratsmitglied in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen. Ab 1908 war er Aufsichtsratsmitglied der Handwerkerbank Nürtingen, der späteren Volksbank.
Mitglied der Deutschen Volkspartei
In der Zeit der Weimarer Republik gehörte Josef Herrmann der Deutschen Volkspartei (DVP) an, der Partei Gustav Stresemanns. Die DVP war eine der beiden liberalen Mittelparteien, die in Württemberg jedoch nur eine untergeordnetere Rolle spielte, mit einem durchaus zwiespältigen Verhältnis zur ersten deutschen Republik. In ihrem Parteiprogramm von 1919 befürwortete sie unter anderem die legale Wiederherstellung des Kaisertums und betonte den nationalen Machtstaatsgedanken.
Umzug in die Schafstraße 22 in der Vendelau/Kirchheimer Vorstadt
1911 plante Josef Herrmann, für seine fünfköpfige Familie in der Marienstraße ein zweistöckiges Wohn-, Stall- und Scheunengebäude zu bauen. Er entschied sich dann aber dafür, ein schon weitgehend fertiges reines Wohnhaus in der Schafstraße 22 auszubauen. Es steht heute noch.
Außerdem erwarb er in unmittelbarer Nachbarschaft davon das Gebäude Kanalstraße 3, wo er in einem 1912 angebauten Stall das Vieh, mit dem er handelte, unterbringen konnte.
"Gottlieb, was hasch?"
Die Nürtingerin Friedel Herrmann, Jahrgang 1911, deren Eltern in der Nähe des Stalls von Josef Herrmann eine kleine Landwirtschaft betrieben, erinnert sich, dass dieser immer ein paar Worte wechselte, wenn er bei ihnen vorbeikam: "Grüß Gott!, Au scho unterwegs?" Wenn die Stalltüre bei ihnen offenstand, pflegte er – ganz geschäftstüchtiger Viehhändler – mit den Worten "Gottlieb, was hasch?" (= Gottlieb, was hast Du mir anzubieten?) hereinzuschauen. "Da kann ich mir den Josef noch gut vorstellen. Er taxierte das Vieh, hat immer sein Spazierstöckle da beigehabt. Damit hat er dann die Kühe von einer Seite auf die andere herumdirigiert, mit dem Stöckle, daß sie einen Schritt nach links oder nach rechts machten, damit er sie von allen Seiten anschauen konnte. Mit der ausgestreckten rechten sagte er: 'Komm, schlag ein!'" Aber ihr Vater wollte prinzipiell keine Geschäfte mit jüdischen Viehhändlern machen. Als ihr Vater im Ersten Weltkrieg im Feld war, musste die Familie aus Not wohl oder übel eine Kuh verkaufen. Josef Herrmann war der Käufer.
In der Schafstraße 22 wohnte Josef Herrmann bis Juni 1936. Seit 1931 war der Kaufmann Wilhelm Stingle Hauseigentümer.
Seine Schwägerin Anna Frank geborene Herzer wohnte schräg gegenüber in der Katharinenstraße.
Heute ist dieses Haus auffällig rot verputzt. Anna Frank wohnte im Erdgeschoss, auch noch nachdem Josef Herrmann nicht mehr hier wohnte.
Ein gutes Verhältnis - Gesprochen haben die Herrmann "wie wir auch"
In der Schafstraße 22 wohnten Herrmanns im ersten Stock. "Die Familie Stingle, die hat unten gewohnt. Die Herrmanns haben oben gewohnt. Es war ein gutes Verhältnis."
Gesprochen haben die Herrmanns "wie wir auch", so erinnert sich Luise Fischer, die 1934/35 als Aushilfe im Haushalt der Familie Herrmann tätig war.
Gute Wiesen in der „Ruthmännin“ am Fuße des Ersbergs
Außer den erwähnten Gebäuden haben Josef Herrmann gute Wiesen am Fuße des Ersbergs in der „Ruthmännin“ gehört.
Die Enkel Peter und Suse - Pinchas und Schoschana
Die Ehe der älteren Tochter Flora Essinger geborene Herrmann war kinderlos. Doch Fanny Erlanger geborene Liebmann bekam zehn Monate nach der Hochzeit, die im Jahre 1925 stattgefunden hatte, einen Sohn, Peter. Zwei Jahre später erblickte Enkelkind Suse das Licht der Welt. Wie alle Großväter war auch Josef Herrmann stolz auf seine zwei Enkelkinder. Sie kamen oft und gerne aus Ravensburg zu Besuch. Dort, in Ravensburg, wohnten Fanny und ihr Mann Dr. Ludwig Erlanger auf dem Burachhof.
Peter Erlanger, der sich in Israel in Pinchas Erlanger umnannte, erinnerte sich an die Verhältnisse in Nürtingen. So schrieb er mir: "Vor dem Haus in der Schafstraße war in den 30er Jahren eine kleine Anlage mit einem funktionierenden Ziehbrunnen, für uns Kinder natürlich eine Attraktion." Hiermit meint er das "Rosengärtle", wo heute ein elektrisches Umspannwerk hinter einer Einfriedung aus Hecken steht. Pinchas Erlanger weiter: "Die Schafstraße bestand damals stadteinwärts aus Bauernhöfen mit Scheunen und Kuhställen. Ochsen dienten als Zugtiere. Für uns aus dem schwäbischen Oberland, wo man nur Pferde einspannte, war das etwas Besonderes... Der Großvater, wie ich ihn im Gedächtnis habe, war eine große und stattliche Erscheinung. Er war ein großer Patriot und bedauerte zeitlebens, wegen seines damals schon fortgeschrittenen Alters nicht im Ersten Weltkrieg gedient zu haben. Stolz trug er die eiserne Uhrkette um den Bauch mit der Inschrift: „Gold gab ich für Eisen“. Die goldene Kette hatte er 1914 abgeliefert, um die Kriegswirtschaft zu unterstützen... Der Großvater nahm uns oft zum Einkaufen mit und stellte meine Schwester und mich allen Verkäufern vor. Er sorgte dafür, daß wir im Kolonialwarenladen immer Bonbons und beim Metzger das obligatorische Rädle Wurst bekamen. Am Bahnübergang versäumten wir nie die Abfahrt des NeuffenBähnleins, und er grüßte den Lokführer mit dem Spazierstock an der Hutkrempe. Wir platzten vor Stolz, wenn der Lokführer diesen Salut erwiderte."
Religöse Juden
Trotz seines beruflichen Kontakts mit Bauern und seiner häufigen Geschäftsreisen aß Josef Herrmann kein Schweinefleisch: "Der war da stur!", berichtete eine Zeitzeugin. Im „Löwen“ in Sielmingen etwa hatte man sich schon auf ihn und seine jüdischen Kollegen eingestellt und hielt Siedfleisch für sie bereit. Auch sonst wurden im Hause Josef Herrmann die jüdischen Bräuche gehalten und die jüdischen Feste begangen. Enkel Pinchas Erlanger erinnert sich, dass der Großvater jedes Jahr bei ihnen auf dem Burachhof den Seder abhielt. Das heißt, alljährlich im Frühling zu Beginn des Pesachfestes, im allgemeinen Sprachgebrauch auch Passah genannt, saß er als Familienoberhaupt am Ehrenplatz des Sedertisches. Er leitete in dieser häuslichen Feier den Ablauf des Abends.
Auch den „Schabbes“ am Ende jeder Woche segnete Josef Herrmann nach gutem Brauch am Freitagabend ein. Er sprach den Kiddusch, das Weihegebet über dem Becher mit Wein, und nach dem Abendessen das Tischgebet. Er erfüllte den verbreiteten jüdischen Spruch mit Leben: "Freitag zur Nacht ist jeder Jude ein König. Das ganze Stübele lacht und die Menschen alle sind fröhlich."
Ruhestand und gesundheitliche Beeinträchtigungen
Josef Herrmann war schon seit einiger Zeit gesundheitlich beeinträchtigt, sodass er um 1930 mit Mitte Sechzig an die Aufgabe seines Viehhandelsgeschäftes denken musste. Den Stall in der Kanalstraße verkaufte er an seinen langjährigen Angestellten Christian Altdörfer. Offiziell stellte Josef Herrmann seinen Betrieb am 31. Juli 1931 ein. Auch sein Wohnhaus in der Schafstraße verkaufte Josef Herrmann in diesem Jahr. Den Grund hierfür kennen wir nicht. Dieser Verkauf, der schon vor der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte, hatte jedoch nichts mit der Ausnutzung einer Notlage zu tun. Der Käufer, Wilhelm Stingle, war Buchhalter beim Sägewerk Löffler und hatte zu diesem Zeitpunkt mit seiner Frau bereits im Erdgeschoss des Hauses gewohnt.
In der schon erwähnten NS-Broschüre „Deutscher – kaufe nicht beim Juden!“ aus dem Jahr 1935 ist die Viehhandlung Josef Herrmann allerdings noch als zu meidendes Geschäft aufgelistet. Des Rätsels Lösung dürfte darin liegen, dass die Überwachungsberichte des Nürtinger Bürgermeisters Hermann Weilenmann und des Landrates Karl Benz ihn zu jener Zeit noch mit der Berufsbezeichnung „Viehhändler“ führten, auch nachdem sein Betrieb schon eingestellt war.
"Zweimal zwei sind vier und um eine bescheiß' ich Sie, sind also fünf."
Pinchas Erlanger (Jahrgang1926) schreibt in einem Brief: "So lange ich mich erinnern kann, war der Großvater herzkrank. Die Großeltern fuhren jedes Jahr für ein paar Wochen zur Kur nach Bad Nauheim. Der Großvater hatte des öfteren Anfälle von Angina pectoris. Er legte sich aufs Sofa und rang nach Luft. 'Der Opa schnauft!' ging der Alarm und die Oma kam schnell mit denTropfen. Übrigens: Geraucht hat er auch mit seiner Angina pectoris... Stolz erzählte er, wie sein Arzt ihm das Rauchen verbot, er den Arzt mürbe machte, bis er ihm zwei Zigarren täglich genehmigte. Darauf sagte er zum Arzt: 'Zweimal zwei sind vier und um eine bescheiß' ich Sie, sind also fünf.' Und bei den fünf Zigarren pro Tag ist es dann geblieben."
"Juden unerwünscht" - Nationalsozialistische Hetze im Nürtinger Tagblatt
Was mag sich Josef Herrmann gedacht haben und wie mag er sich gefühlt haben, als er im Nürtinger Tagblatt Zeilen wie die folgenden las: "Juden haben die russische Revolution gemacht und haben den bolschewistischen Staat errichtet mit dem Ziel der Weltrevolution, zur Unterdrückung der Gojims (Nichtjuden)... Ihm (dem Juden) verdanken wir Deutschen den Kriegsausgang mit seiner Leidenszeit bis 1933."
Wie muß es für ihn gewesen sein, wenn er lesen musste, dass Juden schädliche Krankheitserreger seien, die in ihren Wirtsvölkern zersetzend wirkten, dass Juden Söhne des Satans seien? Gegen solche und andere antisemitische Hetze konnte er sich nicht mehr zur Wehr setzen. Und Josef Herrmann wird wohl mehr und mehr klargeworden sein, dass beileibe nicht „nur“ die Ostjuden, sondern auch und gerade Leute wie er gemeint waren. Was mag er empfunden haben, als er sich in Nürtingen den Schildern „Juden unerwünscht“ an den vertrauten Läden, an gebracht von ihm bekannten Geschäftsleuten, gegenübersehen musste?
Eine Haushaltshilfe aus Reudern, die bei Herrmanns beschäftigt war, wurde als „Judenmagd“ bezeichnet.
Das Verhältnis zur Familie Stingle im Haus war bis zuletzt gut. Josef Herrmann schwenkte den Hauseigentümern und Mitbewohnern bei seinem Abschied 1936 Fotografien zur Erinnerung geschenkt.
Die „Nürnberger Rassengesetze“ vom September 1935 stellten die seit 1933 schon erfolgten Diskriminierungen auf eine legale Grundlage. Verordnete Bosheiten und persönliche Schicksalsschläge folgten im Leben Josef Herrmanns nun dicht aufeinander. Schmerzhaft war aber auch, wie die meisten Nürtinger nach Beginn der NS-Zeit sofort ihren Anstand Juden gegenüber verloren.
Die Frau des Sohnes Lothar verlässt ihn und ihren Sohn H. wegen der Nürnberger Rassengesetze
Die „Mischehe“ seines Sohnes Ludwig wurde – wohl unter dem direkten Eindruck der Nürnberger Rassengesetze – bereits Mitte November 1935 geschieden. Dessen Frau war als nicht jüdisch eingestuft worden, konnte offensichtlich den Druck nicht aushalten und eines Morgens lag der Ehering auf dem Nachttisch, die Ehefrau war weg und Kind wie Mann blieben allein zurück.
Viereinhalb Monate später, am 2. April 1936, meldete der Nürtinger Bürgermeister Weilenmann dem Oberamt anläßlich einer Überwachung von Juden, daß Ludwig Herrmann sein zweijähriges Kind H. (Name annoymisert) bei den Großeltern gelassen habe.
Frieda Herrmann stirbt
Kurz darauf, am 12. April, starb Frieda Herrmann während eines Besuchs zu Pesach bei der Familie von Tochter Fanny in Burach bei Ravensburg. Sie wurde in einem Doppelgrab des jüdischen
Steigfriedhofes in Cannstatt beigesetzt. Das noch zu belegende Reservegrab ließ Josef Herrmann bei dem Israelitischen Gemeinde Vorsteheramt Stuttgart Cannstatt für sich vorsehen. Doch es ist
nicht belegt, denn Josef Herrmann wurde später "deportiert", seine Leiche verbrannt, selbst seine Asche blieb unbestattet.
1936: Josef Herrmann verlässt Nürtingen und zieht nach Ravensburg
Am 23. Juni 1936 übergab der nun auf sich alleine gestellte Josef Herrmann sein bis dahin bei ihm lebendes jüngstes Enkelkind der Tochter Flora Essinger und ihrem Mann in Ulm und verließ Nürtingen, um in die Nähe seiner zweiten Tochter, Fanny Erlanger, nach Ravensburg-Burach überzusiedeln.
Die Geschwister Stegmann: katholisch, ohne antisemitische Gesinnung und voll Zivilcourage
In der Unteren Burachstraße bezog er ein Zimmer bei den drei Schwestern Anna, Frieda und Maria Stegmann. Die Möglichkeit, in Nürtingen eine Haushälterin oder andere Unterstützung zu erhalten, bestand für ihn seit den Nürnberger Gesetzen nicht mehr. Am 26. Juni 1936 meldete sich Josef Herrmann in Ravensburg polizeilich an. Die Familienregister wurden bereits am 9. Juli von Nürtingen nach Ravensburg übergeben. Der Enkel Pinchas Erlanger erinnert sich: „Der Großvater übersiedelte nach Ravensburg und lebte in einem gemieteten Zimmer in der Nähe unseres Anwesens. (Nach dem Tod seiner Frau) konnte er schon wegen seines Gesundheitszustandes nicht alleine sein und er entschloss sich, nach Ravensburg in die Nähe seiner Tochter zu ziehen. Minuten von unserem Anwesen entfernt mietete er sich bei den Geschwistern Stegmann ein. Das waren drei unverheiratete Frauen, die einen Kolonialwarenladen betrieben, in dem wir von jeher unsere Lebensmittel kauften. Sie waren streng katholisch, fern von jeglichem Antisemitismus, bewiesen viel Zivilcourage bei der Vermietung des Zimmers an einen Juden, auch indem sie ihn bis zu unserem letzten Tag in Ravensburg treu bedienten und betreuten. Er machte seinen täglichen Spaziergang über unseren Hof nach Weingarten, wo er Stammgast zum Nachmittagskaffee in einem der Cafés wurde."
Immer wieder Nürtingen
Obwohl er nun in Ravensburg lebte, kam Josef Herrmann immer wieder in die vertraute Stadt Nürtingen, an der er wohl gehangen hat. Luise Fischer erinnert sich, ihm öfters auf der Straße begegnet zu sein. Josef Herrmann hatte in seiner Heimatstadt, in der er als ehemals angesehener und dann verfemter Bürger gelebt hatte, außerdem noch seine Besitz und Vermögensverhältnisse zu ordnen. Vermutlich hat er auch seinen Bruder, Heinrich Herrmann, besucht, der sein Viehhandelsgeschäft und sein Wohnhaus in der Plochinger Straße 10 hatte. Vom 7. Dezember 1936 ist im Stadtarchiv Nürtingen ein Kaufvertrag zwischen Heinrich Josef Herrmann, früher Viehhändler, jetzt Privatmann in Ravensburg, Untere Burachstraße 78, handelnd zugleich als Alleinerbe seiner verstorbenen Ehefrau und Bürgermeister Hermann Weilenmann als Vertreter der Stadt erhalten. Josef Herrmann verkaufte danach für 26 660 Reichsmark an die Stadtgemeinde Nürtingen seine Wiesen auf der Ruthmännin, bestehend aus Parzellen im Umfang von fast einem Hektar. Bereits einen Tag später erwarb er von Maurermeister Schall das Gebäude Vendelaustraße 46 um 20 000 Reichsmark. Am 27. Dezember 1937 gab er mit diesem Haus, für das er dann 21 300 Reichsmark erhielt, seinen letzten Nürtinger Besitz auf. Wofür verwendete Josef Herrmann dieses Geld? Benötigte er es für sich, für die Pflegekosten? Gab er es seinen Kindern, damit sie auswandern, dem Unheil entkommen konnten? Wollte er sich seinen Lebensabend sichern? Wenn dies der Fall sein sollte, wurde er schändlich betrogen.
Die Atmosphäre in Nürtingen wird eisiger
Die Atmosphäre in Nürtingen war 1936/37 schon ganz anders als noch 1934, das geht auch aus der Aussage von Luise Fischer hervor: „Wissen Sie, er ist dann hier noch herumgelaufen in Nürtingen. Aber können Sie so einen Mann verstecken? Das will etwas heißen, wenn da eine Frau irgendeinen versteckt hat. Sie haben ja nie gewusst, wer da aufpasst. Die Leute sehen ja weiß was! Also, da hat er mir Leid getan, als er da noch da war.“
Die Pogromnacht in Ravensburg
In Ravensburg wurde Josef Herrmann – vermutlich am 10. November 1938 im Zusammenhang mit dem von den Nazis inszenierten Pogrom – verhaftet, kam aber bald wieder frei. Bei der an das Finanzamt Weingarten zu zahlenden Judenabgabe in Höhe von 8500 Reichsmark, die in seiner weiter unten zitierten Beschwerde vom 7. März 1940 genannt wird, handelte es sich um die so genannte Sühneleistung für die von den Nazis inszenierten Verwüstungen der Pogromnacht.
Der Novemberpogrom verlief nach den Erinnerungen seines Enkels Pinchas Erlanger, der allerdings in Ravensburg nicht Augenzeuge war, für Josef Herrmann offensichtlich vergleichsweise glimpflich: „Die SA-Helden fuhren im Morgengrauen mit abgeblendeten Lichtern auf dem Hof (der Eltern) vor, warfen ein paar Fenster ein und verzogen sich fluchtartig. Mein Großvater wurde wie alle jüdischen Männer in Ravensburg verhaftet und ins Gestapogefängnis in Ravensburg eingeliefert. Um bei der Wahrheit zu bleiben, war die Behandlung dort sehr menschlich und keinem der Häftlinge wurde ein Haar gekrümmt.“ Nach ein paar Tagen wurden die Ravensburger Juden aus der Haft entlassen. Die beiden Praktikanten des Burachhofes jedoch, junge jüdische Menschen, die sich auf die Auswanderung nach Palästina und eine landwirtschaftliche Tätigkeit dort vorbereiteten, kamen als Auswärtige nach Ulm und von dort als sogenannte Schutzhäftlinge ins KZ Dachau. Doch auch für Josef Herrmann gingen die Schikanen weiter.
Zwangsvorname Israel
Auf den Namen Josef Israel Herrmann musste er sich am 19. Dezember 1938 seine Kennkarte ausstellen lassen. Nicht nur, dass er mit dem Zwangsvornamen belegt worden war, über die handschriftlichen Eintragungen war ein großes rotes „J“ gestempelt, damit jeder gleich wusste, dass man es mit einem Juden zu tun hatte. Vom Ravensburger Bürgermeister als Ortspolizeibehörde und dem dortigen Landratsamt wurde er genauso überwacht wie zuvor in Nürtingen.
Jüdisches Altersheim Herrlingen
Am 1. August 1939 musste er ins jüdische Altersheim nach Herrlingen, wenige Kilometer westlich von Ulm, ziehen. Das Heim war im Frühjahr 1939 vom Oberrat der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg an der Stelle eines kurz zuvor aufgelösten jüdischen Landschulheimes errichtet worden. Es sollte helfen, die zahlreichen alten Menschen aufzunehmen, die nach der „Auswanderung“ ihrer Angehörigen alleine zurückgeblieben waren. Vielleicht spielte bei der Gründung aber auch – in einem ganz anderen Sinn – Druck der Gestapo eine Rolle, denn reichsweit gab es damals schon Bestrebungen, Juden in besonderen Häusern („Judenhäusern“) zusammenzupferchen, um die spätere „Entjudung“ der Gemeinden dann einfacher durchführen zu können. Und tatsächlich wurden im Sommer 1939 schon viele alte Menschen ins Heim aufgenommen, die man nach Aufhebung des Mieterschutzes für Juden aus ihren bisherigen Wohnungen und Wohngemeinden vertrieben hatte.
Hetzkampagne in Herrlingen
Im Ort Herrlingen selbst gab es im Vorfeld der Einrichtung des Heims eine Hetzkampagne gegen die zukünftigen Bewohner. Bürgermeister Alfons Brielmaier beschwerte sich gegenüber dem Landrat in Ulm, dass „die alten Juden, welche den Weltkrieg und den Zusammenbruch Deutschlands 1918 mit verschuldet haben, nicht zum Lohn dafür als Ruhesitz fürs Alter einen der sonnigsten, landschaftlich hervorragendsten Plätze vor den Toren Ulms erhalten sollten… Die alten Juden sollen büßen für die Verbrechen der Talmud-Lehre. Barackenlager in der sumpfigsten Gegend wären für die alten Juden gerade gut genug; je bälder sie absterben würden, umso besser.“ Trotz dieser bedrohlichen Atmosphäre dürfte auch Josef Herrmann gehofft haben, sich mit dem Einkauf ins Altersheim einen gewissen Schutz und lebenslängliche Betreuung erworben zu haben.
Akribische Überwachung
Sechzehn Tage nach seiner Ankunft in Herrlingen mußte Josef Herrmann wie die anderen Heimbewohner einen Vernehmungsbogen zur Überwachung von Juden ausfüllen. Die Heimverwaltung gab diese Bögen in doppelter Ausfertigung an das Bürgermeisteramt weiter. Ein Exemplar verblieb bei der Gemeindeverwaltung, das zweite wurde noch am selben Tag dem Landrat in Ulm vorgelegt und war nach Ergänzung der dortigen „Judenkartei“ zur Weiterleitung an die Gestapo in Stuttgart bestimmt. Diese hatte hierdurch den landesweiten Überblick und wusste jederzeit über den Aufenthaltsort der jüdischen Einwohner, Vermögensverhältnisse und anderes Bescheid. Genauestens wurde nach den Namen und dem Aufenthaltsort der nächsten Verwandten gefragt. Zwei von Josef Herrmanns Kindern waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Sicherheit:
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs als "Reichsfeind" eingestuft
Nach dem Kriegsbeginn mit dem deutschen Überfall auf Polen verschärfte sich die Situation auch für Josef Herrmann. Als Jude galt er nun als Reichsfeind.
Von Anfang an war der Krieg auch von schlimmen Verbrechen gegen polnische Juden begleitet. Die deutschen Juden im Reich wurden so behandelt, als seien sie Verbündete des Feindes, die in den eigenen Reihen wirkten. Allen Juden wurde ein nächtliches Ausgehverbot von 20 Uhr abends bis 7 Uhr morgens auferlegt. Die jüdischen Heiminsassen durften im Falle eines Luftangriffes nicht in öffentliche Luftschutzräume flüchten. Auf Veranlassung der Gestapo in Stuttgart suchte der Herrlinger Gendarm am 23. September 1939 – es war Jom Kippur – das Altersheim auf und zog die Radios von Josef Herrmann und einem Mitbewohner ein. Mit der Beschlagnahme sollte unter anderem das Abhören von sogenannten Feindsendern unmöglich gemacht werden. Für die Altersheimbewohner bedeutete dieser Verlust, dass sie von nun an vom äußeren Geschehen weitgehend abgeschnitten waren. Die beschlagnahmten Radiogeräte blieben bis Anfang November 1939 bei der Gendarmerie, bevor sie an die SS abgeliefert wurden. Außerdem wurden die Lebensmittelrationen der Heimbewohner durch die diversen Sonderbestimmungen schrittweise gekürzt, sodass sich im folgenden die Verpflegungssituation der Zwangsgemeinschaft immer mehr verschlechterte.
Massive Belästigungen
Josef Herrmann, der im Vergleich zu anderen Heimbewohnern noch ein rüstiger Rentner war, unternahm häufig längere Spaziergänge in den Wäldern der Umgebung. Allerdings kam es im Herbst 1939 zu massiven Belästigungen der alten Leute durch Herrlinger Jugendliche. Sie beschimpften und verhöhnten die Menschen, die im Alter ihrer Großväter und Großmütter waren, und bewarfen sie sogar mit Steinen – auch die alten Frauen! Ein Rädelsführer wurde vom Leiter der Volksschule gedeckt. Die eingeschüchterten und vogelfreien Altersheimbewohner trauten sich nach den Pöbeleien und Tätlichkeiten immer seltener auf die Straße. Außerdem mussten die alten Leute die Ausgangssperre beachten. Josef Herrmanns Kontakte beschränkten sich zwangsläufig auf den Kreis seiner Schicksalsgenossen.
Tochter Fanny und die Enkel gehen nach Palästina - "Einen alten Baum verpflanzt man nicht."
Ende November 1939 kamen für seine noch in Deutschland weilende Tochter Fanny Erlanger und deren Familie endlich die lang ersehnten Visa für Palästina. Pinchas Erlanger schreibt: "Wir mußten ganz überstürzt abreisen. Der Großvater wollte Deutschland nicht verlassen, obwohl die Möglichkeit dafür bestand. Sein Argument: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Weder er noch wir ahnten, welches Schicksal ihm bevorstand. Wir verabschiedeten uns von ihm auf dem Bahnhof in Ulm. Der Abschied war unsäglich schwer, und viele Tränen flossen. Der Abschied war fürs Leben. Geblieben ist die wehmütige Erinnerung an einen lieben und liebenden Großvater, an einen edlen Menschen und einen von den sechs Millionen."
"Judenstern"
Die alten Menschen im Altersheim mussten ab dem 19. September 1941 den "Judenstern" tragen.
Das brandmarkte sie noch mehr und zwang sie noch mehr, unter sich zu bleiben..
Das "jüdische Altersheim" wird aufgelöst, die Einwohner nach Oberstotzingen überführt
Seit Ende 1941 liefen Vorbereitungen zur Auflösung des jüdischen Altersheimes Herrlingen. Die Bewohner sollten zusammen mit den verbliebenen Ulmer Juden in das ganz heruntergekommene und nur notdürftig instandgesetzte Oberstotzinger Schloss eingewiesen werden. Oberstotzingen liegt knapp 30 Kilometer nordöstlich von Herrlingen im Landkreis Heidenheim. Ab dem 10. Juni 1942 mußten die Heimbewohner nach und nach Herrlingen verlassen. Am 9. Juli kam die Reihe an Josef Herrmann. Wie die anderen Mitbewohner konnte er nur sehr wenig persönliches Inventar mitnehmen. Die Verlegung wurde von den Heimbewohnern mit großer Verzweiflung aufgenommen. Es war ihnen bewusst, dass Oberstotzingen für sie nur eine Übergangsstation darstellen sollte und die Absicht bestand, sie in absehbarer Zeit im so genannten „jüdischen Reichsaltersheim“ Theresienstadt anzusiedeln.
"Entjudung": Das Sammellager Oberstotzingen wird aufgelöst
Doch bereits am 14. August 1942 verfügte der Leiter der Staatspolizeileitstelle Stuttgart, Friedrich Mußgay, die vollständige Auflösung des Sammellagers im Oberstotzinger Schloß. Alle seine Bewohner sollten einem Transport mit Juden "dem Protektorat" zugeteilt werden, der Stuttgart am 22. August 1942 verlassen sollte. Gemeint war das so genannten "Protektorat Böhmen und Mähren". In den Tagen vor dem Abtransport wurden alle ehemaligen Altersheimbewohner, die noch noch über finanzielle Mittel verfügten, gezwungen, so genannte „Heimeinkaufsverträge“ für Theresienstadt abzuschließen. In Wirklichkeit war dies eine getarnte staatliche Ausplünderung. Josef Herrmann müssen auf diese Weise fast 15 000 Reichsmark abgepresst worden sein. Friedrich Mußgay verwies in seinem Erlaß vom 14. August im Blick auf das zu beachtende Verfahren auf eine Anweisung, die er bei zwei vorhergehenden Deportationen aus Württemberg und Hohenzollern im Frühjahr 1942 erteilt hatte. Darin heißt es entlarvend: "Die in der letzten Zeit in einzelnen Gebieten durchgeführte Umsiedlung von Juden nach dem Osten stellt den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark und im Protektorat Böhmen und Mähren dar... Ausfälle (durch Selbstmord usw.) sind unverzüglich mitzuteilen." Zweck der Maßnahme sei die "Entjudung der einzelnen Kreise." Durch die Ortspolizeibehörde sei eine eingehende Durchsuchung jeder Person unter anderem nach Bargeld, Devisen und Schmuck vorzunehmen. Zu einem reibungslosen Transport hierher (nach Stuttgart) sind eine entsprechende Anzahl Polizeibeamter bereitzuhalten. Verschärfend kam die Anweisung hinzu: "Ein Ausscheiden eines namhaft ge machten Teilnehmers aus irgendeinem Grunde, Krankheit, Gebrechlichkeit usw. kann nicht erfolgen. Vorkehrungen für den Transport der sogenannten Transportunfähigen sind rechtzeitig zu treffen, so daß sämtliche eingeteilten Juden rechtzeitig in Stuttgart eintreffen." Als Gepäck wurde je dem Betroffenen nur ein Koffer oder Rucksack zugestanden, der etwas Kleidung, Bettzeug und Essgeschirr enthalten durfte.
Mit den verschleiernden und zynischen Begriffen „Umsiedlung nach dem Osten“, „Endlösung der Judenfrage“ und „Entjudung“ wardie planmäßige Deportation und massenhafte Ermordung gemeint.
Jammern und Wehklagen
Am 19. August frühmorgens, noch bei Dunkelheit, wurden die meist gebrechlichen Lagerinsassen von Oberstotzinger Dorfbewohnern mit Fuhrwerken zum Bahnhof in Niederstotzingen gebracht. "Die Juden waren sehr verzweifelt und der Abtransport ging keineswegs so still und unbemerkt vonstatten, wie es sich die Gestapo wohl gewünscht hatte. Ihr Jammern und Wehklagen ging mir durch Mark und Bein. Noch heute habe ich das Schreien der alten Leute in den Ohren und kann es wohl nie wieder vergessen", so erinnerte sich ein Zeitzeuge nach über 50 Jahren. Dies spricht dafür, dass die alten Menschen eine Ahnung davon hatten, was sie in Theresienstadt erwartete.
Wie ein Heuschreckenschwarm
Für die Bevölkerung aus der Umgebung galten die Deportierten als auf Nimmerwiedersehen verschwunden, denn sie fiel bald wie ein Heuschreckenschwarm über das unbewohnte Schloss her. Bevor das Finanzamt Heidenheim, wie vorgesehen, die zurückgelassenen Möbel zu Geld machen konnte, bereicherten sich die Leute aus dem Ort und den umliegenden Dörfern daran.
Von Niederstotzingen nach Stuttgart
Auf dem Bahnhof Niederstotzingen wiesen Polizisten die Bewohner des Sammellagers Oberstotzingen zwei Eisenbahnzügen zu, die von der Reichsbahndirektion Stuttgart trotz großer kriegsbedingter Probleme zur Verfügung gestellt worden waren. Der Vernichtung der deutschen Juden wurde offen sichtlich die gleiche Priorität zugemessen wie dem Vernichtungskrieg im Osten. Alles war genauestens geplant, man hatte sogar besondere Fahrpläne erstellt. Der eine Zug verließ Niederstotzingen um 5.19 Uhr mit den ersten 45 Juden, erreichte den Ulmer Bahnhof um 6.04 Uhr, hatte dort Aufenthalt bis 8.10 Uhr und erreichte Stuttgart um 11.41 Uhr. Der zweite Transport mit den übrigen etwa 50 Juden folgte um 7.35 Uhr, hielt in Ulm vier Stunden von 8.16 Uhr bis 12.15 Uhr und kam in Stuttgart um 14.34 Uhr an.
Auf den Killesberg
In Stuttgart wurden die Oberstotzinger Juden, darunter auch Josef Herrmann, mit Omnibussen auf den Killesberg gebracht. Dort wurden sie von der Gestapo übernommen, in die Ausstellungshallen verbracht und einer entwürdigenden Leibesvisitation unterzogen. Sie trafen auf eine große Zahl von Leidensgenossen, die aus anderen Gemeinden Württembergs hierher gebracht worden waren. Die folgenden Nächte mussten die 1076, vielfach gebrechlichen, Menschen zusammengepfercht unter katastrophalen Umständen zubringen. In der ersten Nacht kamen acht der alten Menschen um. An der Durchführung der Deportation musste sich die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ beteiligen. Die als gehfähig Eingestuften mußten am nächsten Tag zum Güterbahnhof marschieren. Der Marsch der vielen hundert erfolgte am hellichten Tag, und die mit dem grellgelben „Judenstern“ Versehenen gingen ihren Weg in glühender Hitze und unter scharfer Bewachung, vor aller Augen.
Von Stuttgart nach Theresienstadt
Nach dem „Verladen“ plombierten die Bewacher die Waggons, und der Zug setzte sich in Bewegung. Es war der Deptationstransport mit der Bezeichnung XIII/1. Sein Ziel war Theresienstadt (Terezín). Dort hatte Josef Herrmann nur noch etwas über einen Monat zu leben. Nach dreißigstündiger Fahrt unter Bewachung von SS und SD kam der Zug mit den Deportierten aus Stuttgart am 23. August in Theresienstadt an. Die nach der österreichischen Herrscherin Maria Theresia benannte Festung und Militärstadt liegt zwischen Dresden und Prag nahe der Mündung der Eger in die Elbe. Den mit zahlreichen leerstehenden Kasernen ausgestatteten und ringsum befestigten Ort richteten die Nationalsozialisten im November 1941 als Gettolager ein. Zunächst wurden dorthin böhmische und mährische Juden "deportiert", nachdem die vom Deutschen Reich 1938 durch Besetzung einverleibten Gebiete der Tschechoslowakei zum "Reichsgau Sudetenland" geworden waren und 1939 die von Adolf Hitler so genannte "Rest-Tschechei" durch Schaffungs eines "Protektorats Böhmen und Mähren" "erledigt" worden war. Später wurden auch Juden aus anderen Regionen, wie zum Beispiel aus württembergischem und hohenzollerischem Gebiet dorthin deportiert.
Links: Terezín (Theresienstadt) in Nordböhmen (Tschechien), rechts: Plan des Gettolagers Theresienstadt
"Unbarmherzig schlugen die Gendarmen mit ihren Reitpeitschen auf die Armen ein"
Resi Weglein, eine als Krankenschwester eingeteilte Ulmer Jüdin (Jahrgang 1894), die das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte, berichtet über die Ankunft des Transports aus Stuttgart, dem sie selbst angehörte: "Als der Zug hielt, stiegen zuerst die SS-Männer mit Sturmbannführer Koch aus. Auf dem Bahnsteig stand Lagerkommandant Dr. Seidl mit weiteren SS-Männern und sehr vielen tschechischen Gendarmen. Junge tschechische Juden übernahmen das Ausladen... Zwei sehr schlechte Lastkraftwagen standen zur Beförderung (der) Kranken bereit. Damit ja niemand eine Bequemlichkeit hatte, mußten die Kranken stehen, gleichgültig ob sie dazu in der Lage waren oder nicht. In rasendem Tempo fuhren die Wagen nach Theresienstadt, wo die Menschen halb tot in der sogenannten Schleuse abgeliefert wurden. Eines der Fahrzeuge war in so schlechtem Zustand, daß es Tote und Verletzte gab, als während der Fahrt die Ladefläche durchbrach. Der Zug der Gehfähigen: Bei glühender Hitze, beladen mit dem verschiedenen Handgepäck, marschierten zwi schen 900 und 1000 Menschen nach Theresienstadt (bis zum Lager waren es etwa drei Kilometer). Es waren traurige Gestalten, die unter Bewachung der tschechischen Gendarmen (sie unterstanden der SS) über die Landstraße mehr krochen als gingen. Viele brachen unterwegs zusammen. Aber unbarmherzig schlugen die Gendarmen mit ihren Reitpeitschen auf die Armen ein, oder sie hetzten ihre großen Schäferhunde auf sie."
Nach zweistündigem Marsch gelangten die Deportierten am Abend ins eigentliche Gettolager. In der „Schleuse“ hatten sie sich stundenlangen, entwürdigenden Prozeduren zu unterziehen. Alle Habe wurde ihnen abgenommen. Die alten Menschen mußten sich nackt ausziehen und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, bei der ihnen oft noch Teile der Kleidung geraubt wurden. Auch ihr Gepäck sahen sie nie wieder. Nach Mitternacht wurden sie zusammengetrieben und in die „Dresdener Kaserne“ gebracht.
"Die Leute lagen auf dem Boden"
Die Überlebende Johanna Gottschalk, zeitweise einmal stellvertretende Leiterin des Herrlinger Altersheimes und selbst Angehörige des Stuttgarter Transports, berichtete.
"Der größte Teil der Transportteilnehmer wurde ... auf dem Dachboden untergebracht, d. h. die Leute lagen auf dem Boden, in den ersten Wochen ohne irgendetwas; nur das, was sie auf dem Leibe hatten. Die Klosetts waren in einem tieferen Stockwerk, und die wenigsten der alten Menschen konnten sie rechtzeitig erreichen, zumal die meisten von ihnen in den ersten Tagen an Durchfall erkrankten. Es gab zu der Zeit natürlich keinerlei Desinfektionsmittel, nicht einmal Eimer oder Putztücher. So war es für das Pflegepersonal sehr schwer, den Dachboden sauber zu halten. Die alten Leuten erkrankten fast alle und ... in den ersten Wochen (starben) täg lich zwischen 180 und 200 Menschen!"
Josef Herrmann kam zu einem Zeitpunkt nach Theresienstadt, als die Lebensbedin gungen hier immer katastrophalere Ausmaße annahmen. Die Zahl der Menschen im Lager, das als Festungsstadt zuvor einmal 7000 Einwohner hatte, stieg seit dem Winter 1941/42 monatlich um etwa 6000 an. Im Juli 1942 hatte sich dieser Zuwachs auf mehr als 25 000 gesteigert. Ende August war folglich die Überfüllung so schlimm, daß für die aus Stuttgart Deportierten nur noch ein Quartier wie der erwähnte Dachboden zur Verfügung stand. Das Durchschnittsalter etwa der von Oberstotzingen aus Deportierten lag bei fast 70 Jahren. Die wenigsten von ihnen konnten sich selbst versorgen, und das mit ihnen deportierte Pflegepersonal war in dem ungeheuren Chaos hoffnungslos überfordert. Stundenlandes Anstehen für meist verdorbenes Essen war den gebrechlichen Menschen meist nicht mehr möglich. Und selbst wer das noch konnte, litt bei den knappen Rationen unbeschreiblichen Hunger. Der Mangel an Hygiene führte dazu, daß sich Infektionskrankhei ten wie Typhus und Ruhr rasch ausbreiteten. Unter den deprimierten und schnell verfal lenden alten Menschen setzte ein Massen sterben ein. Von 82 ehemaligen Herrlinger Altersheimbewohnern starb fast jeder Dritte in den ersten Wochen.
"Die Menschen starben friedlos"
Hans Günther Adler, der selbst zu den Lagerinsassen gehörte, schreibt über den Sommer 1942: "Die Menschen starben friedlos und unbehütet, ohne Zuspruch, ohne freundlichen Blick. Dieser Jammer unterschied sich in nichts von dem Verenden im „Revier“ eines jeden Konzentrationslagers – es war ein namenloses Sterben." Das alles hatte tödliche Methode. Die SS, der das Gettolager unterstand, wusste ja, in was für Verhältnisse hinein abertausende Juden mit immer neuen Transporten absichtlich geschickt wurden; mehr noch: Sie erzeugte bewusst diese todbringenden Zustände.
"Ich konnte nie begreifen, daß Menschen soviel Vergnügen daran haben, ihre Mitmenschen leiden zu sehen."
Resi Weglein erinnert sich: "Die SS mußte die größte Freude daran haben, uns auszuhungern. Anders sind alle Vorgänge nicht zu erklären. Ich konnte nie begreifen, daß Menschen soviel Vergnügen daran haben, ihre Mitmenschen leiden zu sehen."
Treblinka
Als die Verhältnisse im Lager die Propagandawirkung des „Altersgettos“ Theresienstadt gefährdeten, sorgte die SS nicht für einen raschen Stopp der Zugänge, sondern deportierte vom 19. September bis Ende Oktober1942 in einer großangelegten Aktion etwa 21 000 Theresienstädter Gefangene, die wegen ihres Alters und Gesundheitszustandes eine besondere Belastung für das Lager dar stellten, in die neu eingerichteten Massenvernichtungslager im Osten, vor allem nach Treblinka. In Treblinka wurden (seit Juli1942) die Verschleppten in der Regel gleich nach ihrer Ankunft ermordet – in fingierten Duschkammern mit Hilfe der Abgase von Dieselmotoren.
"Furchtbare Ereignisse"
Hans Günther Adler bescheibt in seinem Buch über Theresienstadt diese „Alterstransporte“ im Herbst 1942: "Beim Abtransport spielten sich furchtbare Ereignisse ab, die selbst in der an Unmenschlichkeiten überreichen Geschichte der Deportationen einmalig sind. Zunächst kamen die deutschen Juden an die Reihe. Diese hilflos verlassenen Menschen wußten nicht, was sie beginnen sollten, und waren gar nicht in der Lage, sich für das Unglück vorzubereiten. Viele lagen in sogenannten Krankenstuben und „Siechenheimen“, in sogenannten Zimmern und auf Dachböden, keiner Entschlüsse und Handlungen fähig. Viele waren verfallen, krank, verlaust, halb verhungert, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, viele vom Tode gezeichnet, der sie gewiß in wenigen Tagen an Ort und Stelle ereilt hätte. Aber nun mußten sie fort – ein Funke Erbarmens hätte sie hier sterben lassen. Gnadenlos wurden sie eingetrieben und aufgelesen, auf Bahren geschleift, auf Karren wie Abfall geladen. Man schleppte sie mit ihren Lumpenbündeln bei Wind und Wetter auf die jämmerlichen skurrilen Leichenwagen, die man wenige Monate zuvor aus allen Judengemeinden Böhmens und Mährens als Verkehrsmittel nach Theresien stadt geschafft hatte, und schob die lebende Fracht zur Sammelstelle in der „Schleuse“. Zu tröstlichem Zuspruch war keiner da, die Zeit eilte, und die sogenannte „Transporthilfe“ wie die „Transportleitung“ sahen nur darauf, daß die genaue Anzahl der Opfer pünktlich zur Stelle war. Man dachte gar nicht daran, Halbtote, Schatten menschlicher Wesen in Agonie, wegen „Transportunfähigkeit“ zurückzustellen. Zur Verladung in Vieh oder Personenwagen, 15 bis 20 in ein Abteil gepreßt, schien jeder noch geeignet."
Josef Herrmann kommt ums Leben
Josef Herrmann kam am 26. September 1942 in Theresienstadt ums Leben. Am selben Tag ging von hier aus ein solcher Transport nach Treblinka, dem auch Angehörige der Stuttgarter Deportation vom 22. August zu gewiesen worden waren, darunter die Schwägerin von Josef Herrmann, Sophie Dreifuß-Herzer. Vielleicht war auch Josef Herrmann für diesen Abtransport in die Ermordung vorgesehen. Kam Josef Herrmann in direktem Zusammenhang mit einer letzten Verschleppung ums Leben? Starb er an einer Herzattacke, als er von seinem Todes urteil, der Zuweisung zum Transport erfuhr? Oder war er kurz davor friedlos und unbehütet zugrunde gegangen? Hat ihn noch eine Krankenschwester versorgt? Führten die fehlenden Medikamente zu seinem Tod oder war er verhungert? Wer kann davon berichten?
Gestorben? Ermordet?
Welche Wortwahl wäre auf einem Gedenkstein für Josef Herrmann passend? "Gestorben 1942 in Theresienstadt"? "Ermordet 1942 in Theresienstadt?"
Die Stadt Nürtingen erfährt 1946 von dem Schicksal Josef Herrmanns
Dass Josef Herrmann im Gettolager Theresienstadt ums Leben gekommen war, davon erfuhr der Nürtinger Bürgermeister Hermann Weilenmann aus einem Brief des Sohnes Ludwig Herrmann vom 11. August 1946.
Alle waren lediglich "verzogen"
Liest man unbefangen ein Schreiben des Nach-Nachfolgers von Hermann Weilenmann vom 4. Juni 1962, dann scheint man Anfang der 60er Jahre beim Nürtinger Bürgermeisteramt selbst über diesen knappen Kenntnisstand nicht mehr verfügt zu haben. Auf die Anfrage der Archivdirektion Stuttgart, die sich im Auftrag des Landtags darum bemühte, die Schicksale der jüdischen Bewohner des Landes in den Jahren1933 bis 1945 aufzuklären, lautete die Antwort: "Irgendwelche Aufzeichnungen den jüdischen Familien sind nicht vorhanden. Die in Frage stehenden Familien Heinrich, Josef Hermann (sic !) sowie Abraham Landauer sind teils 1933, 1936 und 1938 nach Stuttgart bzw. Ravensburg verzogen. Sie leben nun in England und Amerika. Ihre Anschriften sind hier bekannt. Frau Anna Frank, Witwe ist im Oktober 1941 nach Haigerloch verzogen und dort auch gestorben."
Fehlendes Interesse
Nach den sich lange hinziehenden Wiedergutmachungsverhandlungen, die Josef und Heinrich Herrmann betrafen, muss man jedoch über den Tod Josef Herrmanns informiert gewesen sein. An der Aufklärung seines Schicksals wie am Lebensweg aller 1933 in Nürtingen lebenden Juden zeigte das Bürgermeisteramt nach dieser Antwort und dem weiteren Schriftverkehr mit der Archivdirektion nur geringes Interesse, auch wenn man mit der Übermittlung besonders von Daten aus den Standesamts und Melderegistern schließlich weiter half. Führten hier bürokratisches Denken und Arbeitsüberlastung die Feder, oder handelte es sich um einen Akt der Verdrängung? Hat man sich für das Schicksal eines Mannes wie Josef Herrmann, der als angesehener Bürger über Jahrzehnte in der Stadt lebte, nicht mehr „zuständig“ gefühlt, weil er 1936 von Nürtingen weggezogen war? War die Erinnerung so schnell verblasst?
Wie bei Anna Frank schon angeführt, kümmerte sich auch die Nürtinger Heimatgeschichte lange nicht um das Schicksal der ehemaligen jüdischen Einwohner, und so auch nicht um das von Josef Herrmann. Da zudem zwei Brüder von Josef Herrmann in Nürtingen lebten, vermischte sich die Erinnerung an seine Person nur zu leicht mit der Erinnerung an diese.
"Keine Ahnung"
Pinchas Erlanger, ein Enkel von Josef Herrmann, besuchte im Jahr 1984 Nürtingen. Er war auf der Suche nach Spuren seiner Großeltern und Erinnerungen an sie. Doch er stieß er auf Unwissenheit:
"Ich war nur ein einziges Mal in Nürtingen, besuchte auch das Haus in der Schafstraße. Die jetzigen Bewohner – eine katholische Jugendorganisation. Die Leute hatten keine Ahnung von den ehemaligen jüdischen Besitzern des Hauses."
Seine Schwester Schoschanna betrat nach der Alijah nie wieder deutschen Boden. Ihr Großvater hatte zuletzt zu ihnen gesagt: "Einen alten Baum verpflanzt man nicht!".
Und Pinchas pflanzte einen Baum.
Text: Manuel Werner, Nürtingen, Stand: 21. September 2013
Grundlegende Quelle und empfohlene Literatur:
Danke an Marlies Glaser für die drei sehr passenden und stimmigen Bilder!
Zitiervorschlag. Manuel Werner (2013): Ermordet: Josef Herrmann. "Einen alten Baum verpflanzt man nicht", in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 21. September 2013, abgerufen am: XY.YX.20XY.
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Flüsse und Städte in Nordböhmen (Tschechien), Grafik: Leonce49, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Germany, kurz.
Plan des Gettolagers Theresienstadt (1940 - 1945), Foto und Bearbeitung: Hans Weingartz. Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Germany, kurz.
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