Rosalie Wallerstein wurde am 17. Dezember 1882 in Nürtingen geboren. Am 30. Mai 1941 zog die Jüdin von Stuttgart nach Heilbronn. Dort wohnte die gelernte Krankenpflegerin in der Bismarckstraße 3a.(1) Ansässig war hier bereits ihre Schwester Ida Schlesinger geborene Wallerstein mit Familie, wie auch Hedwig Wallerstein. Am 27. Juni 2017 wird vor dem Haus Gartenstr. 31 ein Stolperstein für Ida Schlesinger verlegt, zusammen mit Steinen für ihren Ehemann Simon Schlesinger (Jahrgang 1876) und für Clothilde Schlesinger geb. Gumbel. Der späte Zuzug nach Heilbronn ist ein Hinweis, dass der Umzug nicht freiwillig erfolgte.(2) Deshalb wird in Heilbronn kein Stolperstein für sie verlegt.(3) Dadurch ist die Erinnerung an sie in Nürtingen - am besten auch in Stuttgart - umso wichtiger.
Am 31. Oktober 1941 gab das Referat des SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann Richtlinien für die „Abschiebung“ von deutschen Juden in ein Gebiet, das damals von den deutschen Besatzern
"Reichskommissariat Ostland" genannt wurde. Demgemäß deportierten die Erfüllungsgehilfen vom November 1941 bis zum Winter 1942 in ungefähr 28 Transporten mehr als 25 000 Juden, Männer, Frauen und
Kinder, aus dem damaligen Deutschen Reich in den baltischen Raum, in erster Linie nach Riga in Lettland. Mit anderen Schicksalsgefährtinnen und Leidensgenossen wurde auch Rosalie Wallerstein im
Dezember 1941 über Stuttgart in die Gegend von Riga, in das KZ Jungfernhof, "deportiert“. Die Behörden hatten ihnen zuvor vorgegaukelt, dass sie als Aufbaukräfte in den neu besetzten Ostgebieten
Arbeit und Unterkunft fänden. In die Lohnsteuerkartei in Heilbronn wurde damals handschriftlich der Zwangsname "Sara" eingetragen und im Feld Wegzug: "Weg nach Osten".(4) Zunächst rafften die
Finanzämter und andere Behörden das Hab und Gut der Deportierten an sich. Danach versteigerte und verteilte die NSDAP den Rest in aller Öffentlichkeit an die Bevölkerung. Am 1. Dezember verließ
der "Deportationszug" mit Rosalie Wallerstein Stuttgart mit Ziel KZ Jungfernhof. Nach drei Tagen und drei Nächten Fahrt kam der Zug an der Bahnstation Šķirotava bei Riga an(5). Von dort mussten
die Insassen ins KZ Jungfernhof nahe des Dorfes Jumpravmuiža laufen. Wer das Angebot, gefahren zu werden, annahm, wurde daraufhin sofort errmordet.
„Einsatzgruppen“
Das Lager Jungfernhof lag 12 km von Riga entfernt. Das Gebiet stand unter der Verwaltung des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg. Seine Hauptziele dort waren die vollständige Vernichtung der
jüdischen Bevölkerung und die „Germanisierung“ von Teilen der übrigen Bevölkerung. Die "Einsatzgruppen" A und B ermordeten im "Reichskommissariat Ostland" etwa eine Million Juden. Nachdem die
Erschießungskommandos durch die Wucht der aus naher Entfernung abgegebenen Gewehrsalven von Blut und Gehirnmasse beschmutzt wurden und ihnen diese Form des Erschießens zu lange dauerte, gingen
sie dazu über, ihren Opfern in den zuvor ausgehobenen Gruben mit Maschinenpistolen der Reihe nach in den Hinterkopf zu schießen. Der Tarnbegriff der planenden Nationalsozialisten und der
ausführenden Täter für den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas war „Endlösung der Judenfrage“.
Das KZ Jungfernhof
Der Jungfernhof war zunächst ein landwirtschaftliches Gut. Dessen völlig heruntergekommene Gebäude waren zu Beginn für die Aufnahme vieler Menschen völlig ungeeignet. Viele Insassen erfroren,
verhungerten oder erlagen den dort grassierenden Krankheiten.(6) Ab Januar 1942 wurden die Kranken des Lagers zum Erschießen abtransportiert.
"Aktion Dünamünder Konservenfabrik"
Im März 1942 verbreitete SS-Obersturmführer Gerhard Maywald unter den Lagerinsassen die Lüge, manche könnten in einer Konservenfabrik in Dünamünde arbeiten. Die Arbeit dort sei erheblich
leichter. Daraufhin meldeten sich viele freiwillig. Gerhard Maywald wollte jedoch nur den Abtransport der Unglücklichen für die Täter erleichtern. Am Morgen und Nachmittag des 26. März 1942
fuhren die Täter insgesamt zwischen 1600 und 1800 Insassen in ein nahes Birkenwäldchen, genannt Biķernieki. Dort wurden die dorthin Verbrachten im Laufe des Tages erschossen und in Massengräbern
verscharrt. Der Tarnbegriff für diese Erschießungen war: "Aktion Dünamünder Konservenfabrik".(2) Viktor Marx, ein Überlebender, dessen Frau Marga und Tochter Ruth dort erschossen wurden,
berichtete: „Im Lager wurde uns gesagt, dass alle Frauen und Kinder vom Jungfernhof wegkämen, und zwar nach Dünamünde. Dort seien Krankenhäuser, Schulen und massiv gebaute Steinhäuser, wo sie
wohnen könnten. Ich bat den Kommandanten, auch mich nach Dünamünde zu verschicken, was er jedoch ablehnte, weil ich ein zu guter Arbeiter sei.“. Salomon Carlebach, ebenfalls Überlebender des
Lagers Jungfernhof, ergönzt: „Ich weiß, dass mein seliger Vater in diesem Moment wusste, dass die letzte Stunde gekommen war und dass er in den sicheren Tod gehen würde, obwohl er nichts gesagt
hat. Natürlich haben viele der Leute gemeint, dass sie jetzt wirklich in ein anderes Lager gebracht würden, in dem die Umstände viel besser wären (...) „Ohne einen festen Glauben hätte man so
etwas gar nicht überleben können.“(7)
Mit Unterstützung des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge konnte 2001 im Wald von Biķernieki eine Gedenkstätte eröffnet werden. Auf dem Gedenkstein steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch
und Deutsch der Vers aus dem Buch Ijob: „Ach Erde, bedecke mein Blut nicht, und mein Schreien finde keine Ruhestatt!“(8) "Das Denkmal befindet sich im Waldgelände am Ende der zentralen Magistrale
der Stadt Riga – Brīvības iela".(9)
Im Jahr 1944 gab die SS das Lager Jungfernhof auf. Von den etwa 4000 dorthin Verschleppten überlebten nur 148. Rosalie Wallerstein war nicht darunter.(10)
Manuel Werner, 26. April 2017
Einzelnachweise:
(1) Vgl. Hans Franke: Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn.
Vom Mittelalter bis zu der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgungen (1050-1945)
Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Heilbronn 11,
Heilbronn 1963, Online-Publikationen des Stadtarchivs Heilbronn 3, S. 351, auch online abrufbar.
(2) Auskunft von Stadtarchivar Peter Wanner, Heilbronn, an Manuel Werner am 26. April 2017 in litt., vgl. auch den erzwungenen "Umzug" von Anna Frank aus Nürtingen nach Haigerloch ins Getto Haag.
(3) Auskunft von Stadtarchivar Peter Wanner, Heilbronn, an Manuel Werner am 26. April 2017 in litt.
(4) Zugänglich gemacht durch Stadtarchivar Peter Wanner, Heilbronn, auch online abrufbar.
(5) Nach Manuel Werner: Der letzte jüdische Lehrer und Rabbinatsverweser, in: https://synagogehechingen.jimdo.com/geschichte/der-letzte-j%C3%BCdische-lehrer-und-rabbinatsverweser/ - siehe auch:
Otto Werner: Leon Schmalzbach (1882-1942). Lehrer und Rabbinatsverweser in Hechingen, in: ZHG 103 (1980), sowie,
Otto Werner: Deportation und Vernichtung hohenzollerischer Juden, Hechingen 2011, Seite 63-70.
(6) Otto Werner: Leon Schmalzbach (1882-1942). Lehrer und Rabbinatsverweser in Hechingen, in: ZHG 103 (1980
(7) Zitiert nach Rena Jacob: Das Konzentrations- und Vernichtungslagerlager Jungfernhof: http://www.wider-des-vergessens.org/index.php?option=com_content&view=article&id=67%3Ashoah-in-lettland&catid=7&Itemid=36&limitstart=2
(8) Mündliche Mitteilung von Enrico Loewenthal an Otto Werner
und N.N. (Sergejs Rizhs?): Gedenkrede bei der Gedenkstunde im Wald von Bikernieki
(9) Holocaust Memorials, in: http://www.gedenkstaetten-uebersicht.de/europa/cl/lettland/inst/denkmal-bikernieki/, in: http://www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee/redebeitraege-zur-gedenkveranstaltung-10-jahre-deutsches-riga-komitee/bikernieki.html
(10) THE CENTRAL DATABASE OF SHOAH VICTIMS' NAMES Beta, Yad Waschem, Rosalie Wallerstein
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Informationen zum Heilbronner Stolpersteinprojekt finden sich unter http://www.stolpersteine-heilbronn.de/
Empfehlenswert sind auch die Artikel aus der deutschen Wikipedia:
- Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD
- Gut Jungfernhof (Lager)
Informationen daraus wurden ebenfalls verwendet.