Das Nürtinger Tagblatt (heute: Nürtinger Zeitung) formulierte fünf Tage nach dem Novemberpogrom vom 9. November und zwei Tage vor der Predigt von Julius von Jan am Buß- und Bettag:
„Der Jude ist d e r B a z i l l u s m i t M e n s c h e n g e s i c h t , und deshalb ist er der gefährlichste. Mögen in diesen Tagen auch einige Fensterscheiben eingeshlagen und einige Sachwerte vernichtet worden sein, das mag bedauerlich erscheinen. Nicht zu bedauern aber ist, daß die Juden a u s u n s e r e m V o l k e a u s g e t i l g t werden. Wir müssen diese Brutalität aufbringen, denn es geht hier um das Sein oder Nichtsein unseres Volkes und mit dem sogenannten „Taktgefühl der feinen Leute" kann man diesen jüdischen Parasiten nicht beikommen. ... Wir lassen uns von niemandem die Existenz unserer Rasse wegleugnen."
(Zitiert nach Manuel Werner: Eleven Nine und Nürtingen: einige Blitzlichter und Entwicklungen - 18.11.2008, in Nürtinger STATTzeitung, Sperrsatz nach dem Original)
"(Jeremia 22,29)
In diesen Tagen geht durch unser Volk ein Fragen: […] Wo ist der Mann, der im Namen Gottes und der Gerechtigkeit ruft, wie Jeremia gerufen hat: Haltet Recht und Gerechtigkeit, errettet den
Beraubten von des Frevlers Hand! Schindet nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen, und tut niemand Gewalt, und vergießt nicht unschuldig Blut!
Gott hat uns solche Männer gesandt! Sie sind heute entweder im Konzentrationslager oder mundtot gemacht. Die aber, die in der Fürsten Häuser kommen und dort noch heilige Handlungen vollziehen
können, sind Lügenprediger wie die nationalen Schwärmer zu Jeremias Zeiten und können nur „Heil“ und „Sieg“ rufen, aber nicht des Herrn Wort verkündigen. […] Wir haben die Quittung bekommen auf
den großen Abfall von Gott und Christus, auf das organisierte Antichristentum. Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote missachtet, Gotteshäuser, die andern heilig waren, sind ungestraft
niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört. Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben […], wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse
angehörten! Mag das Unrecht auch von oben nicht zugegeben werden – das gesunde Volksempfinden fühlt es deutlich, auch wo man darüber nicht zu sprechen wagt. Und wir als Christen sehen, wie dieses
Unrecht unser Volk vor Gott belastet und seine Strafen über Deutschland herbeiziehen muss. […] Gott lässt seiner nicht spotten. Was der Mensch säet, wird er auch ernten!…"
Einer der Nürtinger Organisatoren und Aufhetzer der Ausschreitungen gegen Pfarrer Julius von Jan am 25. November 1938: Oskar
Riegraf
Hierbei war Oskar Riegraf, ein Nürtinger Stadrat, "einer der Initiatoren und Leiter der 'Aktion' der Nazis des Parteikreises Nürtingen gegen den" evangelischen "Pfarrer Julius von Jan, der den Novemberpogrom gegen die Juden in einer Predigt kritisiert hatte. Die Nürtinger NSDAP-Kreisleitung unter 'Kreisleiter' Eugen Wahler und 'Kreisgeschäftsführer' Wilhelm Gruel organisierte, dass 300 bis 500 Nürtinger 'Parteimitglieder' und SA sich in Nürtingen zusammentaten und in mehreren Lastwagen, einem Omnibus, Motorrädern und PKWs nach Oberlenningen gekarrt wurden. Der Nürtinger Ratsherr und HJ-Oberbannführer Oskar Riegraf putschte die Männer jeden Alters vor der Oberlenninger Turnhalle durch eine flammende Rede auf. Auch einige andere taten sich als Anführer hervor. Danach schlugen die Nürtinger den Pfarrer brutal zusammen, bevor er in 'Schutzhaft' genommen wurde..."(1)
Neben Oskar Riegraf war auch "Pg" ["Parteigenosse"] Dr. Walker bei der 'Aktion' dabei, der sich mit einem großen Schlapphut und sonstigem "Räuberzivil" ausgestattet hatte. Während der "Haft"zeit in Kirchheim/Teck fragte ihn der evangelische Kirchenpräsident Theophil Wurm bei einem Besuch, wen er denn bei seiner Predigt mit den Lügenpredigern und den nationalen Schwärmern gemeint hatte, die Heil und Sieg rufen. Ende März 1939 wurde Julius von Jan der Gestapo überstellt. Am 13. April wurde er aus Württemberg und Hohenzollern ausgewiesen und fand in Bayern Zuflucht. Von einem Sondergericht in Stuttgart unter dem Vorsitz von Hermann Cuhorst in Stuttgart wurde er wegen Vergehens gegen den „Kanzelparagraphen“ und gegen das „Heimtückegesetz“ zu sechzehn Monaten Haft verurteilt. Nun wurde er in die Justizvollzugsanstalt in Landsberg am Lech eingewiesen. Mitte 1943 wurde er als Artillerist in eine Strafkompanie an die Ostfront in Russland und in der Ukraine beordert. Verleumderische Briefe - wie er selbst es formulierte - der NSDAP-Kreisleitung Nürtingen sollten sein absichtliches Umkommen an der Front „nach Art des Urija“ bewirken, was glücklicherweise nicht stattfand. In der Bibel steht, welches Schicksal König David dem Urija - und welches die Nürtinger Kreisleitung dem Pfarrer Julius von Jan - zugedacht hatte. König David befahl: "Stellt Urija nach vorn, wo der Kampf am heftigsten ist, dann zieht euch von ihm zurück, sodass er getroffen wird und den Tod findet" ( 2 Samuel 12, 15). Diese Umstände berichtet Julius von Jan 1957 in seinem Artikel "Im Kampfe gegen den Antisemitismus - Erlebnisse im Dritten Reich" im Stuttgarter Evangelischen Sonntagsblatt.(2)
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Ein ehemaliger "Siftler" beteiligt sich somit auch organisatorisch und aktiv an einer brutalen "Aktion" gegen einen anderen früheren "Stiftler", der hierbei schwer misshandelt wurde.(2)
Siehe hierzu:
Was versteht man unter dem Novemberpogrom? - online hier lesbar.
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(1) Zitiert nach (fett hervorgehobene Begriffe nicht im Original): WERNER 1998, vgl. LÄCHELE 1988, S. 175f.
(2) Formuliert in enger Anlehnung an Manuel Werner (2013): Oskar Riegraf. Ein Nürtinger Stadtrat, vormals Theologiestudent, der einen Wirt erschießt, einen ehemaligen Bürgermeister erschießen lässt und von den deutschen Behörden nie gefunden wird, in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 4. November 2013, abgerufen am: 3. April 2014.
Zusammengestellt: Manuel Werner, Stand: 3. April 2014