Weitere Ermordete

"Sich erinnern heißt wachsam bleiben"

von Manuel Werner, Nürtingen

Außer Anna Frank und Josef Herrmann wurden mindestens zwei jüdische Frauen, die in Nürtingen geboren sind, in der Schoa ermordet:

  • Ida Schlesinger geborene Wallerstein,
    geboren am 31. Oktober 1881 in Nürtingen, vor der "Deportation" wohnhaft in Heilbronn, mit ihrem Mann und 14 weiteren Leidensgenossen "deportiert" von Stuttgart am 26. April 1942 nach Izbica in Polen. Unter dieser Ortsangabe wurde sie für tot erklärt. Die offizielle Wortwahl bei ihrer Deportation war, die 16 namentlich Genannten "reisen am 24. April von hier ab zwecks Abtransports nach dem Osten". 
    Ida Schlesinger war Hausfrau, später „Verkäuferin", wohnte in Heilbronn zunächst in der Gartenstraße 31, später in der Bismarckstraße 3 a bzw. 3/1 1 und war verheiratet mit dem "Arbeiter" Simon Schlesinger (Jahrgang 1876), der allerdings zuvor Kaufmann gewesen war und ein Zigarrengeschäft betrieb. Das Zigarrengeschäft Schlesinger bestand vermutlich ab 1920. Anfangs hatte Simon Schlesinger in der Lohtorstraße 30 gewohnt. - Ihre ebenfalls in Nürtingen geborene Hedwig Wallerstein wurde 1942 in das jüdische Zwangsaltersheim im Schloss Dellmensingen gebracht. In dieser Vorstufe der "Deportation" verstarb sie am 19. April 1942. Ihr Grab mit der Nummer S 29/15 (S = Süd- bzw. Frauenseite) befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim,(Mitteilung von
    Dr. Michael Koch vom 11. September 2018))

 

Nürtingen war aber auch Sitz des Oberamts, später Landratsamts und der Kreisleitung der NSDAP.

Heinrich Wolff

Nationalsozialistische Stigmatisierung: Abzeichen "Asozialer Jude" in Konzentrationslagern"
Nationalsozialistische Stigmatisierung: Abzeichen "Asozialer Jude" in Konzentrationslagern"

Deshalb ist hier auch das Schicksal von Heinrich Wolff (Jahrgang 1886) zu nennen. Er war Christ, für die Nationalsozialisten aber Jude, wohnte seit 1908 in Frickenhausen und wurde in der Schoa ermordet, weil er als Jude angesehen wurde. Da seine Töchter evangelisch und nicht jüdischer Religionszugehörigkeit waren sowie seine Frau Anna nach ersten "Fehleinschätzungen" als "arisch" eingestuft war, wurden seine Familienverhältnisse als "privilegierte Mischehe" gewertet, doch zu dieser Zeit war er bereits im KZ. Nach der Aussage seiner Tochter Marianne war er bereits vor dem Novemberpogrom verschleppt worden, vermutlich im Juni 1938 bei der so genannten "Asozialenaktion", denn er galt als vorbestraft. Hierbei ist zu bedenken, dass es sich um ein Urteil aus der NS-Zeit handelte. Zu dem Urteil kam es so: Die Schuhfabrik Bacher, in der er Prokurist war, hatte im Jahr 1935 Konkurs anmelden müssen. In diesem Zusammenhang war Heinrich Wolff 1936 wegen "Bankrottvergehens und Betrug" zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der andere Angeklagte, ein NSDAP-Mitglied, habe seine Strafe nicht absitzen müssen, so Marianne E: Der Familie ging es wirtschaftlich schlecht, nachdem der Ernährer weggesperrt war. Als vorbestrafter Jude wurde Heinrich Wolff nach seiner Haftentlassung schnell wieder festgesetzt und in das KZ Dachau verbracht. Von dort kam er in das KZ Buchenwald. Seine Frau versuchte, ab Oktober 1938 die Auswanderung zu betreiben, hatte aber damit keine Chance, weil ihr Mann vorbestraft war, Sie hatte deswegen sogar an Heinrich Himmler geschrieben. Heinrich Wolff wurde am 4. März 1941 ermordet, vermutlich vergast, wie eine Aussage eines KZ-Kameraden nahe legt. Offiziell hieß es, er sei an Lungenentzündung verstorben. Mit zittriger Schrift hatte er in einer letzten Postkarte an seine Angehörigen geschrieben: "Mir geht es gut". Zur Zeit des Datums, das auf der Karte stand, war er bereits ermordet.(1)

 

Seine Töchter wurden gemäß dem im Nürtinger Landratsamt und der Stadt damals behördlich fixierten Rassenwahn der Nationalsozialisten als "Halbjüdinnen" bzw. "Mischlinge" ersten Grades eingestuft und deswegen schlecht behandelt. Auch sie sollten ermordet werden, in der Reiterkaserne in Cannstatt, wie sich Marianne E. erinnert. aber der Vorstoß der amerikanischen Armee verhinderte dies.

Wilhelm Weißburger

Abzeichen für "Jude" in Konzentrationslagern, Ersteller: Domie (siehe unten), Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
Nationalsozialistische Stigmatisierung: Abzeichen für "Jude" in Konzentrationslagern, Ersteller: Domie (siehe unten), Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

 

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Für das Schicksal von Wilhelm Weißburger (Jahrgang 1902) war zur Zeit seiner Verschleppung ebenfalls das Nürtinger Landratsamt und die Nürtinger Kreisleitung, zuvor das Oberamt Kirchheim und die Kirchheimer Kreisleitung, zuständig gewesen. Auch ihn erfassten sie wie Heinrich Wolff gemäß der Vorgaben als jüdisch, obwohl er Christ war.

 

Im Alter von sieben Jahren war Wilhelm Weißburger Vollwaise geworden. Als Jugendlicher kam er 1916 als Knecht zu einer Bauern- und Schäferfamilie in Bissingen/Teck.. Da der Vierzehnjährige "bescheiden, ehrlich und genügsam" war, wurde er von seinem Arbeitgeber sehr geschätzt".(2) Obwohl bereits Hitler an der Macht war, kam es im Oktober 1933 zu einem mutigen Schritt. Maria Ehni und er heirateten. Einen Monat nach seiner Hochzeit ließ er sich taufen. "Damit sei jedoch seine jüdische Herkunft nicht beseitigt, schrieb damals der Oberkirchenrat."(3)

Wie hoch der Druck auf Maria Weißburger geborene Ehni war, wird aus dem Satz ersichtlich, den sie erinnert. Ihr Mann sagte zu ihr: "Wenn ich sterbe, ist alles vorüber und du hast deine Ruhe.“(4)

Das Paar lebte in einem Haus gegenüber der Kelter in Bissingen in der Hinteren Straße 41. Vom Kreisbauernführer wurde er aus seiner Arbeit in der Landwirtschaft "hinausgedrückt".(5)

Wilhelm Weißburger  arbeitete fortan in der Kirchheimer Firma Grüninger & Prem, einer Gießerei.

Das Bissinger Bürgermeisteramt duldete offensichtlich, dass er keinen "Judenstern" trug.

Seine Verhaftung und Deportation wurde von den Nürtinger Behörden auf Betreiben von Parteifunktionären im Oktober 1942 angeordnet.

Während einer Abwesenheit des Bürgermeisters Ernst Nägele verhaftete der Landjäger Schnabel Wilhelm Weißburger und überführte ihn nach Nürtingen, von seiner Ehefrau durfte er sich nicht mehr verabschieden. Von Nürtingen kam er nicht mehr zurück.

Sein ihm zugedachter Weg führte nach Auschwitz. Dort wurde Wilhelm Weißburger ermordet, vermutlich am 19. Januar 1943. Offiziell hieß es, er sei an Lungenentzündung verstorben. Im Januar 1943 erhielt das Bürgermeisteramt und seine Frau diese Version übermittelt.

 

Am 26. September 2012 wurde an dem Haus, in dem Wilhelm Weißburger gewohnt hatte, aufgrund des Engagements eines Bissinger Initiativkreises ein eineinhalb Meter hoher Gedenkstein aus Travertin zur Erinnerung an das Schicksal Weißburgers aufgestellt. Er enthält unter anderem den Spruch:

"Sich erinnern heißt wachsam bleiben".

 

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Unter einer "Mischehe" verstanden die Nationalsozialisten per Erlass vom 26. April 1935 eine eheliche Lebensgemeinschaft zwischen einem Angehörigen "deutschen oder artverwandten Blutes" und einer Person "anderer rassischer Zugehörigkeit".(6)  Es ist eine traurige Tatsache, dass beide in einer so genannten "Mischehe"  lebenden und trotz ihrer christlichen Religionszugehörigkeit als "jüdisch" eingestuften Männer des Partei- und Landkreises Nürtingen, Heinrich Wolff (1938) und Wilhelm Weißburger (1941), bereits vergleichsweise so früh in Gefängnisse und aus dem Landkreis verbracht und in Konzentrationslagern umgebracht wurden.

Weiterhin sind die jüdischen und als jüdisch angesehen NS-Opfer aus Kirchheim unter Teck auch im Zusammenhang mit Nürtingen als Sitz des Oberamts, später Landratsamts, und der Kreisleitung der NSDAP zu sehen.

Quellen:

 

  • StadtA HN, B11-73 (Kopien aus der sog. Lohnsteuerkartei, die aber erst ab 1940 erhalten ist)
  • Hans Franke: Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn. Vom Mittelalter bis zu der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgungen (1050-1945), Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Heilbronn 11. Heilbronn 1963. Um Korrekturen ergänzte Online-Version Heilbronn 2009/2011
  • Auskunft des Stadtarchivs Heilbronn vom 10. Juni 2013.
  • Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, Bundesarchiv, Koblenz 1986
  • Behörde zum Gedenken an die Märtyrer und Helden des Holocaust: Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer
  • Richard Umstadt: Das bewegende Schicksal Wilhelm Weißburgers, in: Der Teckbote, 12.11.2011
  • Brigitte Kneher: Chronik der jüdischen Bürger Kirchheims seit 1896, in: Stadt Kirchheim unter Teck. Schriftenreihe des Stadtarchivs 3 (1985), S. 126. 139f, 142.
  • WERNER 1998, S. 37-39 inklusive Anmerkungen.
  • Joachim Hahn: Bissingen an der Teck (Kreis Esslingen). Jüdische Geschichte, in: http://www.alemannia-judaica.de/bissingen_juedgeschichte.htm, abgerufen am 21. August 2013
  • eigene Recherchen

Fußnoten:

 

(1) WERNER 1998, Anm. 122 u. 125, S. 137, S. 37-39, von dort stammt auch das Zitat..

(2) Zitiert: Brigitte Kneher: Chronik der jüdischen Bürger Kirchheims seit 1896, in: Stadt Kirchheim unter Teck. Schriftenreihe des Stadtarchivs 3 (1985), S. 139

(3) Zitiert nach: Richard Umstadt: Das bewegende Schicksal Wilhelm Weißburgers, in: Der Teckbote, 12.11.2011. Auch viele Informationen in der Beschreibung oben stützen sich auf diesen Zeitungsartikel.

(4) Zitiert nach ebda.

(5) Zitiert: Brigitte Kneher: Chronik der jüdischen Bürger Kirchheims seit 1896, in: Stadt Kirchheim unter Teck. Schriftenreihe des Stadtarchivs 3 (1985), S. 140.

(6) Zitiert nach WERNER, Anm. 65, S. 135. Vgl. auch WERNER, S. 27.

Bearbeitet von Manuel Werner, Nürtingen, Stand: 20. Oktober 2013

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