Außer Anna Frank und Josef Herrmann wurden mindestens zwei jüdische Frauen, die in Nürtingen geboren sind, in der Schoa ermordet:
Nürtingen war aber auch Sitz des Oberamts, später Landratsamts und der Kreisleitung der NSDAP.
Deshalb ist hier auch das Schicksal von Heinrich Wolff (Jahrgang 1886) zu nennen. Er war Christ, für die Nationalsozialisten aber Jude, wohnte seit 1908 in Frickenhausen und wurde in der Schoa ermordet, weil er als Jude angesehen wurde. Da seine Töchter evangelisch und nicht jüdischer Religionszugehörigkeit waren sowie seine Frau Anna nach ersten "Fehleinschätzungen" als "arisch" eingestuft war, wurden seine Familienverhältnisse als "privilegierte Mischehe" gewertet, doch zu dieser Zeit war er bereits im KZ. Nach der Aussage seiner Tochter Marianne war er bereits vor dem Novemberpogrom verschleppt worden, vermutlich im Juni 1938 bei der so genannten "Asozialenaktion", denn er galt als vorbestraft. Hierbei ist zu bedenken, dass es sich um ein Urteil aus der NS-Zeit handelte. Zu dem Urteil kam es so: Die Schuhfabrik Bacher, in der er Prokurist war, hatte im Jahr 1935 Konkurs anmelden müssen. In diesem Zusammenhang war Heinrich Wolff 1936 wegen "Bankrottvergehens und Betrug" zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der andere Angeklagte, ein NSDAP-Mitglied, habe seine Strafe nicht absitzen müssen, so Marianne E: Der Familie ging es wirtschaftlich schlecht, nachdem der Ernährer weggesperrt war. Als vorbestrafter Jude wurde Heinrich Wolff nach seiner Haftentlassung schnell wieder festgesetzt und in das KZ Dachau verbracht. Von dort kam er in das KZ Buchenwald. Seine Frau versuchte, ab Oktober 1938 die Auswanderung zu betreiben, hatte aber damit keine Chance, weil ihr Mann vorbestraft war, Sie hatte deswegen sogar an Heinrich Himmler geschrieben. Heinrich Wolff wurde am 4. März 1941 ermordet, vermutlich vergast, wie eine Aussage eines KZ-Kameraden nahe legt. Offiziell hieß es, er sei an Lungenentzündung verstorben. Mit zittriger Schrift hatte er in einer letzten Postkarte an seine Angehörigen geschrieben: "Mir geht es gut". Zur Zeit des Datums, das auf der Karte stand, war er bereits ermordet.(1)
Seine Töchter wurden gemäß dem im Nürtinger Landratsamt und der Stadt damals behördlich fixierten Rassenwahn der Nationalsozialisten als "Halbjüdinnen" bzw. "Mischlinge" ersten Grades eingestuft und deswegen schlecht behandelt. Auch sie sollten ermordet werden, in der Reiterkaserne in Cannstatt, wie sich Marianne E. erinnert. aber der Vorstoß der amerikanischen Armee verhinderte dies.
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Für das Schicksal von Wilhelm Weißburger (Jahrgang 1902) war zur Zeit seiner Verschleppung ebenfalls das Nürtinger Landratsamt und die Nürtinger Kreisleitung, zuvor das Oberamt Kirchheim und die Kirchheimer Kreisleitung, zuständig gewesen. Auch ihn erfassten sie wie Heinrich Wolff gemäß der Vorgaben als jüdisch, obwohl er Christ war.
Im Alter von sieben Jahren war Wilhelm Weißburger Vollwaise geworden. Als Jugendlicher kam er 1916 als Knecht zu einer Bauern- und Schäferfamilie in Bissingen/Teck.. Da der Vierzehnjährige "bescheiden, ehrlich und genügsam" war, wurde er von seinem Arbeitgeber sehr geschätzt".(2) Obwohl bereits Hitler an der Macht war, kam es im Oktober 1933 zu einem mutigen Schritt. Maria Ehni und er heirateten. Einen Monat nach seiner Hochzeit ließ er sich taufen. "Damit sei jedoch seine jüdische Herkunft nicht beseitigt, schrieb damals der Oberkirchenrat."(3)
Wie hoch der Druck auf Maria Weißburger geborene Ehni war, wird aus dem Satz ersichtlich, den sie erinnert. Ihr Mann sagte zu ihr: "Wenn ich sterbe, ist alles vorüber und du hast deine Ruhe.“(4)
Das Paar lebte in einem Haus gegenüber der Kelter in Bissingen in der Hinteren Straße 41. Vom Kreisbauernführer wurde er aus seiner Arbeit in der Landwirtschaft "hinausgedrückt".(5)
Wilhelm Weißburger arbeitete fortan in der Kirchheimer Firma Grüninger & Prem, einer Gießerei.
Das Bissinger Bürgermeisteramt duldete offensichtlich, dass er keinen "Judenstern" trug.
Seine Verhaftung und Deportation wurde von den Nürtinger Behörden auf Betreiben von Parteifunktionären im Oktober 1942 angeordnet.
Während einer Abwesenheit des Bürgermeisters Ernst Nägele verhaftete der Landjäger Schnabel Wilhelm Weißburger und überführte ihn nach Nürtingen, von seiner Ehefrau durfte er sich nicht mehr verabschieden. Von Nürtingen kam er nicht mehr zurück.
Sein ihm zugedachter Weg führte nach Auschwitz. Dort wurde Wilhelm Weißburger ermordet, vermutlich am 19. Januar 1943. Offiziell hieß es, er sei an Lungenentzündung verstorben. Im Januar 1943 erhielt das Bürgermeisteramt und seine Frau diese Version übermittelt.
Am 26. September 2012 wurde an dem Haus, in dem Wilhelm Weißburger gewohnt hatte, aufgrund des Engagements eines Bissinger Initiativkreises ein eineinhalb Meter hoher Gedenkstein aus Travertin zur Erinnerung an das Schicksal Weißburgers aufgestellt. Er enthält unter anderem den Spruch:
"Sich erinnern heißt wachsam bleiben".
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Unter einer "Mischehe" verstanden die Nationalsozialisten per Erlass vom 26. April 1935 eine eheliche Lebensgemeinschaft zwischen einem Angehörigen "deutschen oder artverwandten Blutes" und einer Person "anderer rassischer Zugehörigkeit".(6) Es ist eine traurige Tatsache, dass beide in einer so genannten "Mischehe" lebenden und trotz ihrer christlichen Religionszugehörigkeit als "jüdisch" eingestuften Männer des Partei- und Landkreises Nürtingen, Heinrich Wolff (1938) und Wilhelm Weißburger (1941), bereits vergleichsweise so früh in Gefängnisse und aus dem Landkreis verbracht und in Konzentrationslagern umgebracht wurden.
Weiterhin sind die jüdischen und als jüdisch angesehen NS-Opfer aus Kirchheim unter Teck auch im Zusammenhang mit Nürtingen als Sitz des Oberamts, später Landratsamts, und der Kreisleitung der NSDAP zu sehen.
Quellen:
Fußnoten:
(1) WERNER 1998, Anm. 122 u. 125, S. 137, S. 37-39, von dort stammt auch das Zitat..
(2) Zitiert: Brigitte Kneher: Chronik der jüdischen Bürger Kirchheims seit 1896, in: Stadt Kirchheim unter Teck. Schriftenreihe des Stadtarchivs 3 (1985), S. 139
(3) Zitiert nach: Richard Umstadt: Das bewegende Schicksal Wilhelm Weißburgers, in: Der Teckbote, 12.11.2011. Auch viele Informationen in der Beschreibung oben stützen sich auf diesen Zeitungsartikel.
(4) Zitiert nach ebda.
(5) Zitiert: Brigitte Kneher: Chronik der jüdischen Bürger Kirchheims seit 1896, in: Stadt Kirchheim unter Teck. Schriftenreihe des Stadtarchivs 3 (1985), S. 140.
(6) Zitiert nach WERNER, Anm. 65, S. 135. Vgl. auch WERNER, S. 27.
Bearbeitet von Manuel Werner, Nürtingen, Stand: 20. Oktober 2013
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