Im Januar 1950 teilte die Zentral-Berufungskammer Nord-Württemberg in Ludwigsburg der Witwe des ehemaligen Nürtinger Justiz-Oberwachtmeisters Josef Küchle, E...
Küchle, mit, dass ihr 1947 verstorbener Ehemann auch nach seinem Tod als „Belasteter“ eingestuft bleibt. Somit bestätigte die Berufungskammer das Urteil der Nürtinger Spruchkammer vom April
1948. Die Kammer sah es weiterhin als erwiesen an,
„dass Küchle hauptsächlich in den Jahren 1943/ 44 sich fortgesetzter Misshandlungen seiner Gefangenen schuldig gemacht hat. Die von ihm Misshandelten waren teils wegen Verfehlungen gegen das
Heimtückegesetz oder Wehrkraftzersetzung teils wegen Verfehlung gegen die Kriegswirtschaftsgesetze oder Verkehrs mit Ausländern u.a. untergebracht. ... ,Würdigt man alle Zeugenaussagen in ihrer
Gesamtheit ... so ist die Überzeugung wohl begründet, dass Küchle die fortgesetzten Misshandlungen, deren er beschuldigt wird, tatsächlich auch begangen hat.’ - Als Nazi hat er sich
zurückgehalten: ,Aber mit der Zeit hat er offensichtlich sich vom nazistischen Geist beeinflussen lassen und ist so erbarmungslos gegen seine Gefangenen geworden. ... Er war sich wohl bewusst,
dass seine Drohungen und Misshandlungen die Partei, der er angehörte, deckte und dass er deshalb als Justiz-Oberwachtmeister seine Gefangenen so behandeln dürfe, wie er es getan hat, ohne Strafe
gewärtigen zu müssen.“ (1/124)
Josef Küchle war in den Kriegsjahren als Aufseher für das Nürtinger Amtsgerichtsgefängnis in der Mädchenschulstraße 1 zuständig und dort für einen reibungslosen Ablauf verantwortlich. Der Nürtinger Historiker Dr. Steffen Seischab schrieb im Jahr 2011 im Heimatbuch „Nürtingen 1918 – 1950“, dass im hiesigen Gefängnis „unter Wachtmeister Josef Küchle ein schikanöses Regiment herrschte“. (4 S. 312) Wer war also dieser Mann, von dem ein ehemaliger Häftling des Nürtinger Gefängnisses nach dem Krieg aussagte: „Küchle war der schlimmste Mensch, den die Welt je gesehen hat ... Beschweren konnte man sich nicht, dem wäre es dreckig gegangen, der das gemacht hätte“ ? (1/86)
Im Jahr 1898 wurde Josef Küchle in Bartholomä, Kreis Schwäbisch Gmünd, geboren. Er wuchs in Schnittlingen, Kreis Göppingen, auf. (1/141) Von 1917 bis Anfang 1919 diente er „im früheren Heer“. (1/22) Als Soldat gehörte er im Jahr 1920 zu einer Schutzpolizei-Einheit in Raidwangen. (1/147) Von 1922 bis 1931 verpflichtete sich Josef Küchle für zwölf Jahre zum Dienst in der Württ. Schutzpolizei, wobei hier vermutlich seine Arbeitszeit ab 1919 mit eingerechnet wurde. „Er zeigte ... fertige Ausbildung in der Pferdepflege sowie im Stalldienst, so dass man sich auf ihn verlassen konnte.“ (1/22) Sein Einsatzort befand sich auch in Reutlingen. (1/124) „Nach seinem Ausscheiden aus der Reichswehr arbeitete er ... bei seinen Angehörigen in Schnittlingen in einem landwirtschaftlichen Betrieb, wo er sehr viel mit Pferdefuhrwerk (Langholzfahren) beschäftigt war. Später bekam er eine Anstellung als Gefangenenwärter.“ (1/141)
Von 1933 bis 1945 gehörte Küchle der NSDAP an, dabei „ohne Amt und Rang“. Im Jahr 1933 war er einige Monate als sogenannter Blockhelfer tätig. (1/124) Als Justiz-Wachtmeister und Gefängnisaufseher arbeitete er von 1935 bis 1939 am Amtsgericht Blaubeuren. Wann und wo er seine Frau E... (Anm. AS: Vorname ist bekannt) heiratete, ist nicht bekannt. 1935 und 1936 wurden zwei Söhne geboren. (1/143) Ab 1939 bis Kriegsende war er Justiz-Oberwachtmeister und Gefängnisaufseher am Amtsgericht Nürtingen. (1/124) Mit seiner Familie wohnte er im Erdgeschoss des Amtsgerichtsgefängnisses. (2)
Im hiesigen Gefängnis gab es 14 Zellen, die sich im ersten und zweiten Obergeschoss befanden. (2) Sie waren ursprünglich für 15 Gefangene ausgelegt. Saßen hier im Juli 1944 etwa 10 Häftlinge ein, so waren es im Oktober 1944 schon 23 Häftlinge und im Februar 1945 27 Häftlinge, die auf die 14 Zellen verteilt werden mussten. (1/5) Hier soll Josef Küchle seine ihm zur Beaufsichtigung zugewiesenen Häftlinge unter anderem mit einem „Farrenschwanz“ misshandelt haben, der „war daumendick und etwa ½ m lang“. (1/124)
Lassen wir ein paar ehemalige Häftlinge mit ihren eigenen Worten beschreiben, welch unendliches Leid sie durch Josef Küchle erfahren mussten. Nach dem Krieg sagten sie vor der Spruchkammer Nürtingen folgendes aus:
Ein lediger Mechaniker aus Neckarhausen (1900 geboren):
Ein Nürtinger (1901 geboren):
Ein Nürtinger Schlosser (1903 geboren):
Ein Nürtinger Schreiner (1886 geboren), der von Dezember 1941 bis April 1942 zur Untersuchungshaft im Nürtinger Gefängnis untergebracht war:
Eine Nürtingerin (1922 geboren):
Eine Nürtingerin (1925 geboren), die von Mai bis Juli 1943 im Gefängnis einsaß und wegen Suizidgefahr Handschellen tragen musste:
Eine Nürtingerin (1912 geboren):
Da nach Kriegsende bei der Nürtinger Polizei alle Mitarbeiter entlassen wurden, (4 S. 407) ist davon auszugehen, dass auch Josef Küchle seinen Arbeitsplatz verlor. Im Mai 1945, unmittelbar nach der Besetzung, zog Familie Küchle vom Gefängnisgebäude in die Apothekerstraße um. Im November desselben Jahres übersiedelte die Familie nach Weißenstein. (3) (Anm. AS: heute Stadt Lauterstein, Kreis Göppingen) Hier war Josef Küchle als Sägearbeiter in einem Sägewerk in Eislingen tätig. Er soll „äußerst fleißig und strebsam“ gewesen sein, ist überliefert. (1/142) Wann Josef Küchle selbst ins Nürtinger Gefängnis eingeliefert wurde und wer ihn von Weißenstein nach Nürtingen, an den Ort seiner Gräueltaten, zurückbrachte, ist nicht bekannt. Im Januar 1947 „hat er sich im Amtsgerichtsgefängnis Nürtingen, in dem er als Betroffener inhaftiert war, durch Erhängen das Leben genommen.“ (1/124)
Im April 1948 entschied die Spruchkammer Nürtingen, den Betroffenen, der ja inzwischen verstorben war, als „Aktivist“, also als Belasteten, einzustufen. Dreißig Prozent seines Vermögens, mindestens 3.000 RM, wurden eingezogen. Gemeinsam mit seiner Frau soll ihm ein Zweifamilienhaus gehört haben. (1/124) Am 16. Januar 1950 bekam Josef Küchle’s Witwe „die Kostenberechnung der Spruchkammer an den Nachlass des Josef Küchle ...“, zugeschickt. Die Kosten des Verfahrens gingen „in voller Höhe zu Lasten des Küchle, bezw. seines Nachlasses“. E... Küchle musste insgesamt 151,- DM bezahlen. (1/133) Daraufhin bat sie um Ratenzahlungen von monatlich 5 DM: „Da ich keinerlei Einkommen habe, bedeuten diese monatlichen Raten von 5 DM für mich ein großes Opfer“. (1/149)
Im Mai 1950 wurde „sie ersucht, diese Ratenzahlungen pünktlich fortzusetzen ... . Diese Regelung gilt zunächst bis zum Vermögenseinzug, worauf dann über die Bezahlung der restlichen Verfahrenskosten erneut entschieden wird.“ (1/117) - Die Witwe muss sehr darunter gelitten haben, sich jetzt für ihren Ehemann verantworten zu müssen. Unter anderem ging es wohl auch um Pensionsansprüche, die ihr, so meinte sie, zustehen würden. (1/Jan. 1950) Mit mehreren Entlastungsschreiben und einer Intervention an das Ministerium für politische Befreiung versuchte sie nun, Urteil und Strafmaß noch abmildern zu können.
Anfang Februar 1950 schrieb sie deshalb einen Brief an das Ministerium für politische Befreiung in Ludwigsburg. Darin berief sie sich auf ein vom württembergisch-badischen Ministerrat erlassenes Gesetz von Januar 1950 mit der Bitte „um Nachprüfung des Spruchkammerverfahrens gegen meinen verstorbenen Ehemann Josef Küchle mit dem Ziel, ihn in diesem Nachprüfungsverfahren in die Gruppe der Mitläufer einzustufen“, ihn also herunter zu stufen. (1/117)
Als Gründe nannte sie: „Mein verstorbener Ehemann hat 24 Jahre seinen Dienst als Beamter zuverlässig und gewissenhaft versehen. Er hat als Justizwachtmeister nie daran gedacht, gegen Ausländer eine gehässige Haltung einzunehmen. Ihm war es gleichgültig, ob er Ausländer oder Inländer einsperren musste. Er sah aber grundsätzlich nur auf Sauberkeit und Disziplin in seinem Gefängnis. Wenn auch die Spruchkammer festgestellt hat, dass mein Mann in mehreren Fällen Ausländer misshandelt haben soll, so ist es eben doch Tatsache, dass mein Mann nur in einem Fall einen Ausländer, der eben nicht in die Zelle wollte, etwas härter anfassen musste, als es sonst Gewohnheit war. Wenn man wegen einer solchen Bagatelle eine Witwe mit zwei unmündigen Kindern unglücklich machen will, so glaube ich bestimmt annehmen zu können, dass dies nichts mit Demokratie zu tun hat. Tatsache ist weiterhin, dass mein Mann und seine Familie im Dritten Reich keinerlei Verdienste und Nutznießung hatte. E.... Küchle“ (1/117)
Sie ließ den ehemaligen Bürgermeister von Weißenstein und einen Arzt Entlastungsschreiben aufsetzen, in denen diese erklärten, dass Josef Küchle sich nie politisch betätigt habe und sie selbst seit Jahren an einer starken Beeinträchtigung ihres seelischen Zustandes leide. (1/145, 146) Auch der katholische Pfarrer teilte mit: „ ... Sie hat wahrhaftig, wenn je etwas zu büßen gewesen sein sollte, das mehr als genug gebüßt mit dem, was sie und ihre Familie in den letzten Jahren, besonders auch durch den damit zusammenhängenden tragischen Tod ihres Mannes und Vater durchgemacht haben. ...“ (1/Jan. 1950)
Die Spruchkammer-Gremien konnten die Betroffenen in fünf Kategorien einteilen: in „Hauptschuldige“ (I), „Belastete“ (II), „Minderbelastete“ (III), „Mitläufer“ (IV) oder „Entlastete“ (V). Als „belastet“ eingestuft wurden unter anderem „Inhaber unterer Ränge in NS-Organisationen, NSDAP-Mitglieder vor dem 1. Mai 1937, Angehörige der Waffen-SS und der SS sowie Berufsoffiziere der Wehrmacht vom Generalmajor aufwärts“. Für „Belastete“ konnte als Strafe/ Sühne höchstens fünf Jahre Lagerhaft und teilweiser Vermögensentzug, aber auch „Renten- und Pensionsansprüche aus öffentlichen Mitteln aberkannt sowie ein zehn- bis fünfjähriges Arbeitsverbot ...“, verhängt werden. „Gegen diese Einstufungen konnten die Betroffenen Berufung einlegen, wodurch das Verfahren einer Berufungskammer zur erneuten Entscheidung vorgelegt wurde, der ein Berufsrichter vorsaß.“ (4 S. 409ff)
Dieses Berufungsverfahren nahm E. Küchle nun wahr. Wie schon am Anfang beschrieben, wurde die Einstufung ihres Ehemanns von April 1948 in die Gruppe der „Belasteten“ im Januar 1950 bestätigt. Josef Küchle blieb also ein „Belasteter“, auch wenn er sich durch Suizid einer Strafverfolgung entzogen hatte. Wie seine hinterbliebene Ehefrau und die beiden Söhne mit diesem Urteil weiterlebten, ist nicht überliefert.
April 2015, Anne Schaude
Quellen