„Es sind noch mehr da wie Sie, die es mit Franzosen haben“

Hohe Gefängnisstrafen für acht junge Frauen 

Cover von "Die Heller-Betriebsgemeinschaft", aus www,nuertinger-stattzeitung.de, Artikel "Heller" vom 29.5.2005
Cover von "Die Heller-Betriebsgemeinschaft", aus www,nuertinger-stattzeitung.de, Artikel "Heller" vom 29.5.2005

Auch in der Nürtinger Maschinenfabrik Heller, die als sogenannter NS-Musterbetrieb galt,  wurden im Krieg deutsche Frauen und ausländische Zwangsarbeiter eingestellt, die die als Soldaten eingezogenen Beschäftigten ersetzten. Die sozialen Angebote der Firma sollen vorbildlich gewesen sein, zudem bot ein „leistungsorientiertes Lohnsystem“ Anreiz zur  Produktivitätssteigerung jedes Einzelnen. Mit dem Ziel der Bestleistung sollte eine Betriebsgemeinschaft geschaffen werden, „die den höchstmöglichen Beitrag zum Lebenskampf unseres Volkes sichert.“ Betriebsleiter Paul Haußmann erwartete unter anderem von der Belegschaft, die hier „Gefolgschaft“ genannt wurde, „die Verpflichtung, ihre charakterlichen Werte zu steigern und (zu) entwickeln“. Er unterstrich: „Notwendig ist nicht hemmungsloses Ausleben seiner eigenen Wünsche und Begierden, sondern charaktervolles Handeln sich selbst und anderen gegenüber. ...“ (1/333ff)

 

Aus obigen Aussagen wird ersichtlich, dass sich die Vorgesetzten in der Firma Heller auch als eine Art Bewacher der moralischen Werte verstanden. Verstöße gegen die aufgestellten  Regeln wurden streng geahndet,  – besonders dann, wenn die Arbeitsleistung einzelner zu wünschen übrig ließ. So fasste 1948 Ermittler Manhold (Vorname unbekannt) in einer Klageschrift für die Spruchkammer Stuttgart zusammen: „Der Zweck der Höchstleistungen hat neben skrupelloser Gewinnsucht wahrscheinlich in der Hauptsache darin bestanden, für die unmittelbar Beteiligten persönliche Vorteile durch den Nationalsozialismus zu erlangen. Man hängte sich ein soziales Mäntelchen um, um darunter mit umso größeren Zwangsmethoden die gesteckten Ziele zu erreichen. Wer von den Betriebsangehörigen nicht mitmachte, bekam die Nazi-Methoden ... zu spüren. Schon um geringfügiger Angelegenheiten willen wurden die Leute verwarnt, mit Strafen bedroht usw. Hat dann jemand versucht, aus sachlichen Gründen seine Arbeitsstelle aufzugeben, wurde er sogleich dem Arbeitsamt gemeldet, der Wehrmacht zur Verfügung gestellt oder der Gestapo gemeldet. ... Wenn nun schon mit deutschen Arbeitern so verfahren wurde, lässt sich leicht überschauen, in wie unmenschlich rigoroserer Weise gegen die Fremdarbeiter vorgegangen ist.“  (2/143)

Im Jahr 1942 hatte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) die Landräte über den „Einsatz der Partei bei der Überwachung fremdvölkischer Arbeitskräfte zur Begegnung volkspolitischer Gefahren“ informiert. Demnach war unter anderem der Geschlechtsverkehr (GV) zwischen Deutschen und Ostarbeitern verboten. Für die fremdvölkischen Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten im Westen und Südosten des Reiches war der GV mit Deutschen nicht verboten, er war aber zur Erhaltung der rassischen Substanz des deutschen Volkes nicht erwünscht. (3)


Eine vollständige Rekonstruktion ist nicht mehr möglich 


Ein eben solches Ereignis in der Firma Heller sorgte im Herbst 1942 über die Grenzen der Stadt hinaus für „erhebliches Aufsehen“ (4): Insgesamt acht bis zehn junge Frauen, die dort zum Teil  als dienstverpflichtete Arbeiterinnen tätig waren, wurden gleichzeitig denunziert und danach verhaftet. Man warf den ledigen (soweit bekannt) Frauen, die zwischen 1912 und 1922 geboren waren und aus Nürtingen, Oberboihingen, Neuffen und Wolfschlugen stammten, GV mit französischen Kriegsgefangenen vor. Aufgrund fehlender Unterlagen können Tathergang und Prozessverlauf heute nicht mehr vollständig rekonstruiert werden. Überliefert sind aber Spruchkammer-Aussagen aus der Nachkriegszeit von einer von diesen Denunziationen betroffenen Nürtingerin, von ihren ehemaligen Kollegen und von damaligen Heller-Vorgesetzten. Zudem berichtete das Nürtinger Tagblatt im Dezember 1942 über die Verurteilung der acht Frauen, die „sich gegen die Ehre der deutschen Frauen vergangen haben“ sollen.


Eingesetzt waren diese Frauen, die man bei Heller „Mädchen“ nannte, unter anderem in der Sägeblattschleiferei, abwechselnd in der Tag- und Nachtschicht. (5/18) Mit ihnen zusammen arbeiteten auch französische Kriegsgefangene, sogenannte Fremdarbeiter. (5/48) Der Leistungsdruck muss enorm gewesen sein! So berichtete ein deutscher Arbeiter aus Tischardt: „Im dritten Jahr des Krieges wurde ich einmal auf das Büro Werner Heller (Anm. AS: Ingenieur) bestellt. Ich bekam 1a Vorhalte und man sagte mir: Sie sind verantwortlich, wenn in der Sägeblattschleiferei zu wenig gearbeitet wird. Es waren 6 Mädchen und 2 Franzosen da. ... Das Jagen nach den Punkten ... Wettbewerb ,Schönheit der Arbeit’, das von Haus(s)mann inszeniert wurde, war alles weniger denn eine schöne Sache. Es war ein Verdruss der Arbeit!“ (5/18) 


Dass private Kontakte zu den Franzosen nicht erwünscht waren, wussten die Arbeiter und Arbeiterinnen. So berichtete besagte Nürtingerin nach dem Krieg: „Im Kriege waren ja Unterhaltungen mit Kriegsgefangenen verboten. Dieses Verbot wurde selbstverständlicher Weise durchlöchert und nicht eingehalten. Die Gefangenen erhielten immer wieder Lebensmittel oder Brote zugesteckt. Nicht nur von den Mädchen, auch von männlichen Arbeitern, die nicht gerade von der nationalsozialistischen Idee besessen waren. Das geschah dann immer heimlicherweise.“ (5/48) 


Die Frauen selbst sollen über ihre Kontakte zu den Franzosen gesprochen haben

 

Verborgen blieb aber im Betrieb nicht, dass sich immer wieder einzelne Frauen vom Arbeitsplatz entfernten. Dazu Lagerarbeiter H. 1949 in einem Zeugenvernehmungsprotokoll: „Bei der Nachtschicht arbeiteten in meinem Arbeitsraum vier Frauen. Zwei von diesen sind immer weggelaufen. Einer von den Franzosen hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Frauen es mit den Franzosen hätten. Ich habe über diese Angelegenheit nicht gesprochen. Schon lange, bevor die Frauen verhaftet worden sind, hat man im Betrieb davon gesprochen, dass die Frauen es mit den Franzosen hätten. Die Frauen selbst haben davon gesprochen.“ (6/8)


Seinen Anfang nahm das Drama vermutlich, als Vorarbeiter B. in der Nachtschicht seine „Kranenführerin“ am Arbeitsplatz vermisste. Als er nach ihr suchte, „fand er sie in einem dunklen Treppenhaus bei einem Franzosen in einem intimen Beisammensein. Bei seinem Erscheinen rannten beide auseinander.“ (7/12) Dieses „intime Beisammensein“ bestand aus einem Kuss (7/9), wie eine ehemalige Kollegin später aussagte. Am nächsten Morgen besprach B. die Angelegenheit mit seinem Meister S.. Unter Tränen soll die Kranführerin die direkten Vorgesetzten gebeten haben, sie nicht zu melden. Beide meinten aber, diesen Vorfall nicht verschweigen zu können und handelten pflichtgemäß. (7/12) 1948 sagte B. aus, dass er die Kranführerin nicht gemeldet habe. Er habe sie zwar mit dem Franzosen angetroffen, gemeldet habe sie sich aber nach ein oder zwei Tagen selbst. (7/18) Der betroffene Franzose wurde an die „deutsche vorgesetzte militärische Stelle für Kriegsgefangene“, Stalag 5a, in Ludwigsburg gemeldet. Von dort wurde er in Nürtingen „abgeholt und abgeurteilt. Über das verhängte Strafmaß erhielt die Firma keinerlei Nachricht.“ (7/10)


Unklar ist also, wer die Kranführerin denunzierte und wer dafür verantwortlich war, dass auch die Namen der anderen Frauen bekannt wurden. Die noch vorhandenen Akten lassen darauf schließen, dass die Kranführerin ihre Kolleginnen denunzierte und weitere Namen nannte. (8/22) Es liegen keine Informationen darüber vor, wie weit man sie diesbezüglich unter Druck gesetzt und/ oder ihr möglicherweise Strafmilderung versprochen hatte.  


Als ihr ein Hilfsarbeiter immer nachlief, fühlte sich nun auch die Nürtingerin überwacht. Sie ging zu Obermeister L. und sagte ihm, dass sie keinen Aufpasser brauche. L. wurde wütend und antwortete ihr: „Es sind noch mehr da wie Sie, die es mit Franzosen haben.“ In seinem Büro wollte er von ihr mehr über die Heimlichkeiten der Arbeiterinnen auskundschaften. Weil er nichts erfuhr, drohte er mit der Polizei. Am nächsten Tag wurde die Nürtingerin ins Büro von Werner Heller gerufen. Dieser schrie sie an: „ ... Pfui Teufel von einer deutschen Frau, die sich mit Kriegsgefangenen abgibt, schämen Sie sich, Sie sind entlassen.“ Mit ihren Papieren verließ die Nürtingerin den Betrieb. (5/48)


So genannte Schutzhaft im Nürtinger Gefängnis

Artikel "Deutsche Frauenehre" im Nürtinger Tagblatt vom 22.12.1942, per Klick vergrößerbar und lesbarer
Artikel "Deutsche Frauenehre" im Nürtinger Tagblatt vom 22.12.1942, per Klick vergrößerbar und lesbarer

Etwa vier Wochen später erhielt sie eine Vorladung und musste sich im Rathaus bei Kriminalkommissar Widmann melden. Ihr wurde verbotener Kontakt mit Kriegsgefangenen vorgeworfen. Im hiesigen Amtsgerichtsgefängnis trafen sich alle Kolleginnen wieder. Inzwischen waren es acht bis zehn junge Frauen der Firma Heller, die hier in sogenannter Schutzhaft einsaßen. (5/48) Es wird berichtet, dass eine der Frauen noch auf der Polizeiwache ein Kind bekommen haben soll (7/12), „dessen Vater ein kriegsgefangener Franzose war“. (5/46) Der Nürtinger Justizoberwachtmeister Josef Küchle ging nicht zimperlich mit seinen Gefangenen um, „alle wurden hart und schlecht behandelt, so als ob alle Schwerverbrecher wären“, berichtete die Nürtingerin nach dem Krieg. (8/22) 


Wenige Wochen später wurden acht Frauen ins Polizeipräsidium 3 (in die so genannte „Büchsenschmiere“) nach Stuttgart gebracht. Im Untersuchungsgefängnis Cannstatt verbrachten sie dann ein Vierteljahr. Die Nürtingerin berichtete: „Unter dem Vorsitz des bekannten Cuhorst wurden wir vor dem Sondergericht Stuttgart wegen verbotenem Umgangs mit Krieggefangenen verurteilt.“ Hermann Cuhorst unterstrich: „Trotzdem das Verhältnis Frankreichs zu Deutschland augenblicklich ein gutes ist, müssen wir den Angeklagten eine sehr empfindliche Strafe geben.“ Das Urteil für die acht Frauen fiel entsprechend hart aus: es waren insgesamt 90 Monate Gefängnishaft – obwohl, wie die Nürtingerin berichtete, „zwei Mädchen der Umgang nicht nachgewiesen“ werden konnte. (5/48) An welchem Ort die Frauen ihre Haftstrafen antreten mussten, ist nicht bekannt. Zum Beispiel sind ihre Namen im Gefangenenbuch der Frauenstrafanstalt Gotteszell bei Schwäbisch-Gmünd aus dieser Zeit nicht nachweisbar.  


Eine weitere Frau aus Reudern, die in der Werkzeugkontrolle bei Heller gearbeitet hatte, wurde in diese Angelegenheit mit einbezogen und kam für zwei Wochen ins Nürtinger Gefängnis. Vorarbeiter B. hatte auch sie heimlich überwacht. Obwohl ihr kein Umgang mit französischen Arbeitern nachgewiesen werden konnte, wurde sie fristlos entlassen. „Für die Ehre des Mädchen war es auch keine Kleinigkeit“, berichtete eine ehemalige Kollegin. (7/7)


Vorarbeiter B. wurde am Sonntag, 29. 04. 1945, von vier Franzosen verhaftet und ins Nürtinger Gefängnis gebracht, angeblich aufgrund seiner Tätigkeit für die NSDAP. In einer schriftlichen Intervention konnte seine Ehefrau die Verhaftung ihres Mannes nicht nachvollziehen, „ ... da sich mein Mann in keiner Weise für die Partei eingesetzt hat und auch aus seiner Gegnerschaft gegen diese vertrauten und angesehenen Personen gegenüber keinen Hehl machte. ... es kann ihm also keineswegs der Vorwurf gemacht werden, er sei an der Verhaftung von im ganzen vier Franzosen schuldig. ... Wenn dann weiter gesagt wird, es seien vier Franzosen in ein Lager gekommen und davon zwei gestorben, so kann doch meinem Mann daran keine Schuld treffen.“ (7/12) Von der Nürtinger Spruchkammer wurde B. anfänglich als Mitläufer eingestuft. Nach Neuaufnahme des Verfahrens aufgrund weiteren Tatbestandes, sah die Spruchkammer seine Einordnung in die Gruppe der Aktivisten als gerechtfertigt. Es wurde anerkannt, dass B. als Denunziant die Einleitung eines Verfahrens zum Schaden eines Mädchens wegen unbegründeter Anschuldigung erfüllt hatte. (7/17) Der ehemalige Obermeister L. wurde von der Spruchkammer als Mitläufer eingestuft, er musste 1949 einen Sonderbeitrag von 1.000 DM entrichten. (5/46)


Die Franzosen kamen nicht mehr in den Betrieb zurück


Die Namen der beteiligten französischen Kriegsgefangenen sind, bis auf einen, unbekannt. Bei diesem soll es sich um einen Mann aus Luxemburg gehandelt haben. Es ist nur dokumentiert, dass alle Männer nicht mehr in den Betrieb zurückkamen. (8/22) Ob es wirklich vier oder fünf Männer waren, von denen zwei im Lager starben, wie B.’s Frau beschrieben hatte, lässt sich anhand der überlieferten Unterlagen nicht nachweisen. 


Der Vorsitzende der Nürtinger Spruchkammer Ernst Planck kommentierte abschließend: „Ganz Nürtingen ist sich einig, dass die Schuld für diese Vorgänge bei der Firma Heller lag, die es für richtig hielt, Kriegsgefangene und deutsche Mädchen monatelang in der Nachtschicht zusammen arbeiten zu lassen. ... Als nacheinander neun Mädchen eingesperrt wurden, löste dies freilich größte Bestürzung aus. Man fürchtete zuletzt um die profitbringenden Arbeitskräfte.“ (9/130)


Ob eine oder mehrere dieser Frauen öffentlich in Nürtingen „geschändet“ wurden, wie im Jahr 2013 eine alte Nürtingerin mündlich berichtete, dafür kann bis jetzt kein Beweis erbracht werden. Sie selbst hat das „Haare abschneiden“ nicht gesehen, fügte sie hinzu, „aber man sprach in der Stadt darüber“. Auch dass die Frau, die auf der Polizeiwache ein Kind bekommen haben soll, nach dem Krieg nach Amerika auswanderte, kann bis jetzt nicht fundiert belegt werden. Allerdings gibt es Nachweise, dass ein Teil dieser Frauen nach dem Krieg aus Nürtingen wegzog. 

Quellen: 


  1. R.Tietzen (Hrsg.), Nürtingen 1918 bis 1950, Nürtingen/ Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz, 2011, ISBN 978-3-928812-58-0
  2. StALB, EL 902/7 Bü 6044
  3. KrAES, D1 Bü 623
  4. Nürtinger Tagblatt vom 22. 12. 1942
  5. StALB, EL 902/17 Bü 6472, Teil 2
  6. StALB, EL 902/17 Bü 6472, Teil 1
  7. StALB, EL 902/17 Bü 789
  8. StALB, EL 902/8 Bü 8934
  9. StALB: EL 902/17 Bü 3974


Dezember 2015, Anne Schaude

Zitiervorschlag. Anne Schaude (2015): „Es sind noch mehr da wie Sie, die es mit Franzosen haben“. Hohe Gefängnisstrafen für acht junge Frauen , in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung., in: Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 7. Dezember 2015, abgerufen am: XY.YX.20XY.