Dieser Bericht basiert auf Informationen, die die Nürtinger Historikerin Petra Garski-Hoffmann in ihrem Buch „Die Geschichte der alten Seegrasspinnerei“ im Jahr 2009 aufzeichnete:
Eine Nürtingerin, geboren 1925, wurde im Frühling 1943 angeklagt, „mit einem Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang gepflogen zu haben, die das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt“ haben soll. (1 S. 90) Seit 1939 war sie in der Nürtinger Möbelfabrik Linder tätig. Hier traf sie auf den französischen Kriegsgefangenen Georg S., der in der selben Firma zur Zwangsarbeit eingesetzt war. Sein Arbeitsplatz befand sich in ihrer Nähe, so dass sich zwischen beiden ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. Dass diese Freundschaft für beide zu großen Problemen führen konnte, schien sie zu wissen: Sie bat nämlich um „die Entlassungspapiere oder die Versetzung des Französ. Gefangenen“. Ihrem Wunsch wurde seitens des Vorgesetzten nicht entsprochen, vielmehr soll ihr der Betriebsleiter der Holzabteilung mehrfach gedroht haben: „Wenn Sie mit dem Franzosen reden, wenn das nicht aufhört, dann zeige ich Sie an.“ (1 S. 89) Die Liebesbeziehung, die sich jetzt zwischen beiden entwickelte, blieb in der Firma nicht unbemerkt. Wer ihnen „eine absichtliche Falle“ stellte und worin diese Falle bestand, ist nicht bekannt, doch hatte man „wohl versucht, die Qualität ihrer Beziehung zum Franzosen zu testen“. (1 S. 89)
„Die damals 18-jährige Linderarbeiterin bekam tatsächlich von dem Franzosen ein Kind – ein Kind, das sie vermutlich im Gefängnis gebären musste...“ Als die verbotene Beziehung der beiden bekannt war, wurde die Nürtingerin „von der Arbeitsstelle weg (...) durch den Kripo Ass. Wiedmann verhaftet und ins Amtsgerichtsgefängnis eingeliefert.“ Auf ihre Schwangerschaft soll niemand Rücksicht genommen haben, auch später nicht auf ihr Kind. „Sie wurde erst nach sechs Tagen von Wiedmann befragt, doch der ,brachte nichts aus mir heraus’. Dann kam Regierungsoberinspektor Otto Hoffmann, um sie zu verhören: (...) ‚Sie bekommen von einem Franzosen ein Kind?’ (...) Hoffmann schrie und fluchte. Er drohte aber nicht. In Nürtingen blieb ich zwei Monate in Haft.“ Die Verhandlung fand in Tübingen statt. „Die Anklageschrift ... bekam die junge Frau ebenso wenig ausgehändigt wie das schriftliche Urteil. Es lautete auf acht Monate Gefängnis. Sie muss ihr Kind (...) in der Haft geboren haben.“ (1 S. 90)
Nach der Verbüßung dieser Strafe folgte „zur Strafe eine zweite Strafe“: Die Nürtingerin hatte versucht, ihre Arbeitspapiere zu verlangen, da sie nicht mehr in der Firma Linder arbeiten wollte. Sie bekam diese aber nicht ausgehändigt und musste deshalb an ihre alte Arbeitsstelle zurückkehren. „Die Vorlage des Arbeitsbuches war bei Antritt einer Arbeitsstelle gesetzlich vorgeschrieben. Seit dem 16. Mai 1935 war die Beschäftigung von Personen ohne Arbeitsbuch nicht mehr gestattet, und somit blieb ihr ohne Arbeitsbuch gar nichts anderes übrig, als wieder an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren.“ Nach dem Krieg sagte sie aus: „Das war eine entwürdigende Maßnahme. (...) Mein Empfinden bei der Arbeit war ein drückendes, weil ich mich schikaniert fühlte.“ (1 S. 90)
Der französische Kriegsgefangene und Vater des Kindes „wurde nach der Entdeckung der Liebesbeziehung ,nach Ludwigsburg in das Stalaglager’ gebracht. Dabei handelte es sich um ein Stammlager (Stalag) für Kriegsgefangene der Mannschaftsdienstgrade. Nach Aussage der jungen Nürtingerin kam er von dort aus in ein großes Straflager der SS in Krakau.“ „Dort hungerte er sich zwei Jahre durch“ soll sie später berichtet haben. Nach dem Krieg kam er zwar zu ihr zurück, es „war beiden wohl keine gemeinsame Zukunft in Nürtingen beschieden, denn im April 1947 gab sie seine Adresse an, und die befand sich wieder in Frankreich.“ (1 S. 91)
Quellen:
1.Petra Garski-Hoffmann, Die Geschichte der Alten Seegrasspinnerei, Verlag Sindlinger-Burchartz, Nürtingen 2009, ISBN 978-3-928812-49-8
Anne Schaude, November 2014