Im Sommer 1944 eskalierte in Nürtingen ein jahrelanger Nachbarschafts- und Kollegenstreit zwischen drei Familien, der auch „auf den Rücken der Kinder“ ausgetragen wurde und an dem zwei Ehefrauen der drei Arbeitskollegen – alle waren bei der Deutschen Reichsbahn beschäftigt - maßgeblich beteiligt waren. (1/12) Dieser Streit mündete in einer Denunziation und brachte Johannes S. ins Amtsgerichtsgefängnis, wo er von August bis Dezember 1944 in sogenannte Schutzhaft genommen wurde. (2/9) Aufgrund Vergehens gegen das Heimtückegesetz wurde er Anfang 1945 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. (2/4)
Eigentlich hatte alles ganz harmlos angefangen zwischen den „Eisenbahn“-Familien B., S. und U. aus der Nürtinger Lerchenstraße. (2/1) Die drei Ehemänner pflegten untereinander kollegialen Kontakt und hatten „keinen Anlass zur Klage“. Es bestanden nun „seit längerer Zeit Gehässigkeiten“ ..., welche sich aber hauptsächlich unter den Frauen und Kindern abspielten.“ (2/7) Stefan U. berichtete 1947 vor der Spruchkammer „Diese Spannung hatte ihre Ursache dann, dass ich ein von meinem Sohn angebahntes Verhältnis mit der Tochter M.... des Herrn S. nicht duldete. Aus dieser ablehnenden Haltung heraus gab es nun begreiflicherweise entsprechende Spannungen, die sich aber im gegenseitigen kollegialen Verkehr zwischen Herrn S. und mir nicht ausdrückten. ...“ (1)
Als Johannes S., der 1881 im Kreis Calw geboren wurde (3/78) und als Signal-Werkmeister bei der Deutschen Reichsbahn beschäftigt war, (3/7) „im Packwagen im Zug von Wernau nach Nürtingen sich ganz abfällig gegen die Regierung geäußert haben“ (1) soll, wurde er „von einem Kameraden von der Eisenbahn bei unserem Fachschaftsleiter Herrn Rochau, (Anm.: Vorname unbekannt) Bahnhofsvorstand in Nürtingen, angezeigt. ... Im Beisein meines Dienststellenvorstehers Herrn Bauinspektor Kötzle (Anm.: Vorname unbekannt) wurde ich von unserem Fachschaftsleiter verwarnt. Die Sache war somit erledigt“, berichtete Johannes S. im Juli 1946 rückblickend über seine Strafverfolgung. (2/7)
Als aber seine beiden Nachbarinnen, Agnes U. und Lydia B., (1) erfuhren, dass er „politisch verwarnt“ worden war, sollen sie, mit Unterstützung ihrer Ehemänner, diesen Anlass benutzt haben, um gegen Johannes S. vorzugehen: „Obwohl Frau B. und Frau U. anlässlich einer Beschwerde bei meiner Dienststelle aussagten, dass sie gegen mich nichts zu klagen haben, schrieben sie Briefe an die Kreisleitung und an die Gauleitung und beschuldigten mich mit allen möglichen unwahren Behauptungen, weil sie genau wussten, dass sie dabei Erfolg haben.“ Jetzt wiederum, „als nun Herr Rochau erfuhr, dass die Angelegenheit bei der Gauleitung in Stuttgart vorlag“, sah er sich gezwungen, den Vorfall weiterzumelden. (2/7)
Rochau, der an einer Strafverfolgung seines Mitarbeiters kein Interesse hatte, musste nun doch „den Betreff“ an die Reichsbahn-Direktion, an Oberrat Spiegel, abgeben. Deshalb schlug er dort vor, man solle Johannes S. zur Strafe versetzen. Man könne aber auch beide, Herrn U. und Herrn S., versetzen, „der eine in den Süden und der andere in den Norden von Württemberg“. Daraufhin teilte ihm Spiegel telefonisch mit, „dass dies so schwerwiegend wäre, dass eine Versetzung nicht in Frage käme ...“ . Jetzt schaltete Spiegel die Gestapo ein. (1)
Am 29. August 1944 wurde Johannes S. verhaftet und bis zum 2. Dezember 1944 ins Nürtinger Amtsgerichtsgefängnis eingeliefert (1), wo er sich mit drei anderen Häftlingen die Zelle Nr. 2 teilte. (3/78) Am 16. Februar 1945 erfolgte vor dem Sondergericht in Stuttgart die Verurteilung: vier Monate Gefängnis (1) wegen „Vergehens gegen das Heimtückegesetz“. (2/4) Die Monate der Untersuchungshaft wurden angerechnet, der restliche Monat dann durch ein Gnadengesuch erlassen. (1) Im Februar 1946 konnte Johannes S. altershalber in den Ruhestand gehen. (2/4)
Im Oktober 1946 richtete er eine Klage an die Spruchkammer Nürtingen gegen Albert und Lydia B. wegen Beleidigung, böswilliger Verleumdung und Freiheitsberaubung mit folgender
Begründung: „Herr und Frau B. wurden von Familie U. angehalten, gemeinschaftlich gegen mich vorzugehen, als sie erfuhren, dass ich politisch verwarnt wurde. Obwohl sie keinen Grund hatten, haben sie mich in der gemeinten Weise durch Briefe und persönliche Vorstellungen bei der Gestapo in Stuttgart denunziert und wollten mich sogar um den Kopf bringen. Frau B. sagte öffentlich aus: ,Der hat jetzt bald ausgeschnauft, der Landesverräter.’“ (2/9)
Im Juni 1947 beschloss die Nürtinger Spruchkammer die Einstellung des Verfahrens gegen Johannes S. Nach den Ermittlungen kam die Spruchkammer zu der Wertung, „dass der Betroffene des öfteren von seinem Fachschaftsleiter und Bahnhofsvorstand Rochau aufgefordert wurde in die Partei einzutreten. Er sei ein belangloses Mitglied gewesen, das sich nicht politisch betätigt hat, sondern ein Gegner der Partei war.“ Die Spruchkammer ging sogar so weit, zu verkünden, dass Johannes S. „aktiven Widerstand geleistet und dadurch Nachteile erlitten“ hatte. (2/1)
April 2015, Anne Schaude
Quellen: