Peter Reinhardt (Jahrgang 1951) wohnt in Stuttgart. Er bewahrt eine ganz besondere Geschichte in seinem Herzen. Sie betrifft seinen im Jahr 1988 verstorbenen Vater, sie betrifft Nürtingen und sie betrifft die Zeit des Nationalsozialismus.
Leben als Musikant
Sein Vater Anton Reinhardt (Jahrgang 1917), genannt "Sohn", hatte in der zweiten Hälfte der 30er-Jahre "vom Musikmachen gelebt".[1]
So spielte er mit seinem Vater Heinrich und seinem Onkel Karl in Gaststätten sonntags zum Tanz.
Meistens wurden sie hierbei verköstigt, es gab Getränke, Essen und "vielleicht ein paar Kreuzerle".
Sie wohnten in Kleinaspach. Die ehemalige Gemeinde Kleinaspach, zu der noch einige Weiler und Wohnplätze gehörten, ist nun ein Teilort von Aspach bei Backnang.
Zu der Zeit, in der dieses Foto der drei musizierenden "Reinhardts" entstand, stand in der Esslinger Zeitung: "Es gibt eine Zigeunerfrage in Deutschland, und es ist an der Zeit, dass diese Frage gelöst wird... Bei den Zigeunern handelt es sich um einen biologischen Fremdkörper, auf dessen zerstörerischen Einfluß unser Blut und rassemäßig harmonisch gestalteter Volkskörper zwangsläufig mit Entartung antworten müsse...." (Esslinger Zeitung vom 24.09.1937)[2]
Pseudowissenschaftlich als so genannter "Zigeunermischling" eingestuft und deswegen verfolgt
Doch bald war es mit dem Musizieren vorbei. Von Nationalsozialisten und so genannten "Rassenhygienikern" wurde Anton Reinhardt als
"Zigeunermischling" eingestuft. Sein Sohn Peter sagt hierzu: "Mein Vater war 'a waschechter Schwob', aber auch ein waschechter" Sinto. "Er hat halt eine zweite
Sprache gehabt, die daheim gesprochen wurde."
In Stuttgart-Münster wurde Anton Reinhardt vorerst zur Sklavenarbeit für die deutsche Rüstungswirtschaft gezwungen, so wie auch in den Konzentrationslagern und im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau nach Möglichkeit die Arbeitskraft der Insassen vor deren endgültigen Vernichtung rücksichtslos ausgebeutet wurde ("Vernichtung durch Arbeit"). Anton Reinhardt arbeitete hinfort als Zwangsarbeiter für die Firma Rössler & Weissenberger.
Zudem begann für Anton Reinhardt ein weiterer ständiger Kampf. Er wehrte sich dagegen, sich sterilisieren zu lassen.
In der Zeitschrift des Deutschen Ärztebundes war im Jahr 1938 zu lesen: "Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie Juden und Zigeuner... Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge biologisch allmählich ausmerzen, und das heißt heute, die Lebensbedingungen durch Sicherheitsverwahrung und Sterilisationsgesetze so grundlegend ändern, daß alle diese Feinde unseres Volkes langsam aber sicher zur Ausmerze gelangen"[3]. 1939 hieß es im Deutschen Ärzteblatt: "Grundsätzlich muß indessen gefordert werden, unter allen Umständen Menschen dieser Artung daran zu hindern, ihr minderwertiges Erbgut an nachfolgende Geschlechter weiterzugeben. Ziel ist also: rücksichtslose Ausmerzung dieser charakterlich defekten Bevölkerungselemente".[4]
"Ein bitterböser Mensch": Kriminalsekretär Adolf Scheufele von der "Dienststelle für Zigeunerfragen"
Alle vierzehn Tage musste Anton Reinhardt sich bei Kriminalsekretär Adolf Scheufele melden. Adolf Scheufele war der Leiter der „Dienstelle für Zigeunerfragen“ bei der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart in der Büchsenstraße 37. Das Gebäude der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart in der Büchsenstraße und das berüchtigte Gefängnis dort wurde auch "Büchsenschmiere" genannt. "Schmiere" heißt in diesem Zusammenhang so viel wie "Wache", hier: "Polizeiwache", im weiteren Sinne auch "Polizei", und stammt vom jiddischen Wort שמירה ("Schmiere"). Während Juden letztlich von der Gestapo systematisch und akribisch erfasst und überwacht wurden, wurden Sinti und Roma von der Kripo noch akribischer erfasst und ebenso überwacht und verfolgt. Der Kripo-Beamte Adolf Scheufele spottete manchmal über Anton Reinhardt, indem er ihn "mit Romanes ansprach, er konnte ein paar Brocken unserer Sprache", so sein Sohn Peter Reinhardt.
Standhaft weigerte er sich, sich sterilisieren zu lassen
Kriminalsekretär Adolf Scheufele, der "Sachbearbeiter für Zigeunerfragen", insistierte jedes Mal: "Anton, bisch bereit, Du musst Dich sterilisieren lassen, sonst kann ich nicht garantieren, sonst kommsch weg!" Anton Reinhardt antwortete jedes Mal: "Mach ich net!". Adolf Scheufele daraufhin: "Dann kann ich Dich nicht mehr schützen“ -– „So hat er sich dargestellt", erinnert sich sein Sohn Peter Reinhardt, "mein Vater hat gesagt, er war ein bitterböser Mensch.“ -– „Ich muss das nach Berlin melden, und dann geht es auf Transport, wenn Du Dich nochmal weigerst!". Doch Anton Reinhardt lehnte weiterhin ab, sich sterilisieren zu lassen. Eines Tages kam es so weit, dass "Kommissar Scheufele" das Ultimatum stellte: "Du kommst nach Auschwitz, das ist beschlossen, wenn Du nicht unterzeichnest!". Doch Anton Reinhardt blieb standhaft, er unterzeichnete nicht.
Die Geschichte "vom Menschenglauben"
Die anderen Zwangsarbeiter bemerkten, dass Anton Reinhardt nach diesem Gespräch, das in der Kriminalpolizeileitstelle geführt worden war, niedergeschlagen war. Er erzählte ihnen, dass er für Auschwitz bestimmt war, weil er in seine Sterilisation nicht einwilligte. Einer trug dies bei einem der Chefs vor. Dieser trat an den Polizeisekretär heran: "Herr Reinhardt muss wahrscheinlich ins KZ, weil er sich nicht sterilisieren lässt?" Es ergab sich die Frage: "Beeinflusst das den Produktionsablauf?", die mit "Ja!" beantwortet wurde, und schließlich wurde die Position des Chefs rückgemeldet: "Hier ist der Mann für uns am Wichtigsten, net in Auschwitz!". Anton Reinhardt wurde klar gemacht: "Sollten Sie aber in Ihrer Arbeitsmoral nachlassen, oder finden wir jemanden, der die selbe Stückzahl erreicht, dann kommen sie fort!" – Peter Reinhardt resümierte: "So entkam mein Vater seiner Sterilisation!".
Doch nun beginnt der erste Teil der von Anton und Peter Reinhardt über Jahrzehnte mündlich tradierten "Geschichte vom Menschenglauben", der sich in Nürtingen fortsetzte, als die
Firma Rössler & Weissenberger 1944 ausgebombt wurde und die Produktion mit den Zwangsarbeitern im "Lager Linder" in Nürtingen fortgesetzt wurde. Das Lager Linder war in dem Gelände der
heutigen „Alten Seegrasspinnerei“ und deren Umgebung in der Plochinger Straße 16 eingerichtet worden.
Die anderen Zwangsarbeiter bewahrten ihn vor Auschwitz
Anton Reinhardt baute für die Firma Rössler & Weissenberger Munitionskisten und schnitt dafür das Holz auf eine bestimmte Art zu. Nun wurde die Stückzahl, die er an der Maschine machte, auf Schnelligkeit und Fehlerfreiheit überprüft. Offiziell hieß es, es werde ausprobiert, wer noch so schnell an der Maschine arbeiten könnte, falls Anton Reinhardt einmal krank wäre. Doch nicht nur Anton Reinhardt vermutete, dass diese Weisung von Kriminalsekretär Scheufele kam, und dass dies nichts Gutes verhieß. Die anderen Zwangsarbeiter taten bei diesen Überprüfungen nach außen so, als würden sie ihr Bestes geben, "aber immer mit der Zielsetzung, das nicht zu schaffen".
Der von "der Partei" eingesetzte Betriebsleiter bei Rössler & Weissenberger sprach Anton Reinhardt nicht direkt an, das hielt er für unter seinem Wert, mit "Untermenschen" spreche man nicht direkt, interpretierte dessen Sohn Peter dieses Vorgehen. So lief die Kommunikation mit Anton Reinhardt immer über dessen Sekretärin. Anfangs antwortete Anton Reinhardt dem Betriebsleiter noch direkt, aber schließlich antwortete er auch zur Sekretärin gewandt. Nachdem die Kameraden von Anton Reinhardt seine Akkordleistung nicht überboten, gab der Betriebsleiter daraufhin per Anrede an seine Sekretärin im Beisein von Anton Reinhardt die Weisung aus: "Sagen Sie dem Herrn Reinhardt: Wenn wir niemanden finden, der nicht dieselbe Stückzahl liefert, dann lass ich Sie nicht wegbringen!". So machte Anton Reinhardt an seinem Arbeitsplatz fortan die beste Charge pro Tag und die fehlerfrei. Da kam es auf Geschick und Schnelligkeit an. Falls seine Charge überboten werden sollte, wäre er nach Auschwitz gekommen wie "seine Leut".
Deswegen wurde die Stückzahl, die er an der Maschine machte, auch in Nürtingen mehrfach überprüft. Aber auch dort überboten ihn die anderen Zwangsarbeiter nicht, stets hatten sie eine kleinere Menge in derselben Zeit zugeschnitten. Sie wollten ihn nicht überbieten. Keiner wollte es so gut machen wie er. "Damit haben sie ihn geschützt!" Es waren „Franzosen, Holländer, ein Litauer, ein Ukrainer, Polen“.
"Solche Menschen gehen in den Gräueltaten meist unter!": Auch ein Nürtinger Arzt hilft Anton Reinhardt zu überleben
Dies ist die erste Herzensgeschichte, eine Geschichte vom "Menschenglauben", sie betrifft die Zwangsarbeiter in dem Umfeld von Anton Reinhardt in Nürtingen, deren
Solidarität lebensrettend gewesen war.
Doch es gibt noch eine zweite Herzensgeschichte. In Nürtingen spielte ein ganz besonderer Arzt eine entscheidende Rolle. Als Anton Reinhardt einmal krank wurde, wusste er, dass
dies lebensgefährlich war, nicht wegen der Krankheit, sondern wegen der damaligen Folgen des Krankseins. Denn wohin wäre er gekommen, wenn er ausgemustert worden wäre, wenn er seine
Arbeitsspitzenleistung nicht mehr erbracht hätte? So ging er in die Stadt und suchte eine Arztpraxis, oder den für Zwangsarbeiter zuständigen Arzt. Als er dessen Praxis zum ersten Mal aufsuchte
und ins Arztzimmer geholt wurde, hatte der Arzt gefragt: "Wo wohnen Sie?" Anton Reinhardt antwortete: "Im Lager!". Daraufhin nahm der Arzt im Arbeitsbuch die Markierung
„z.“ wahr und las in einem anderen Dokument, das den eingezogenen deutschen Pass ersetzte, wohl dem "Rasseausweis": "Zigeunermischling". "Sind Sie ein Zigeuner?" -
"Ja!" - "Menschenskinder!" - Sofort sprang der Arzt auf und schloss die Praxis ab. "Und wo sind Ihre Verwandten, wenn Sie da als einziger im Lager sind?" - "Die
sind schon fort, in Dachau, in Auschwitz. Anfangs sind noch Briefe gekommen..." Auschwitz schien dem Arzt ein Begriff zu sein. Anton Reinhardt und der Nürtinger Arzt unterhielten sich lange.
"Dann schilderte“, so Peter Reinhardt , „mein Vater die Realität, wie sie sich ihm darstellt, und der Arzt schrieb ihn immer krank!" Als Anton Reinhardt zum zweiten Mal in
dessen Praxis gekommen war, holte er ihn sofort zu sich, ungeachtet derer, die schon länger warteten: "Des isch meine Sach', wen ich da reinhole!". Auch danach holte er Anton Reinhardt
bevorzugt zu sich. Doch dieser hatte Angst, versteckte sich fast im Wartezimmer: "Sie ziehen die Aufmerksamkeit auf mich!" Der Arzt antwortete: "Des Nazipack da draußen soll warten,
des Saupack! Bleib sitzen, da bei mir!" - "Herr Doktor, Sie bringet uns beide ins Gefängnis!" Doch der Arzt war "mit so viel Kraft belegt", er sagte: "Anton, ich
hol Dich aus dem Visier! Ich schreib Dich krank, Du schaffst keinen Tag mehr für dieses dreckige, schmutzige System!". - "Aber Sie könnet mi doch net immer krankschreibe, sonst komm i
fort!"
Verbotenerweise hatte Anton Reinhardt sich bei einer älteren Frau „einlogiert, etwa ein, zwei Wochen“, die nichts von Anton Reinhardts Status gewusst hatte. Als aufkam, dass Anton Reinhardt bei ihr ein Zimmer gemietet hatte, bekam auch diese Frau Probleme mit der örtlichen Polizei. Ein Polizist machte beiden klar: „Sie wissen, dass Sie sich strafbar gemacht haben. Ich melde Sie!“ Doch schließlich kam es nur dazu, dass Anton Reinhardt wieder in das Lager der Zwangsarbeiter musste. Der Arzt hatte die Oberen zuvor beschimpft, in seiner eigenen Seelennot nahm er eventuell nicht die Gefahr wahr, die für Anton Reinhardt deswegen bestand, allerdings schien diese Taktik zu funktionieren: "Anton, Dir passiert nichts!"
Anton Reinhardt und der Arzt hörten heimlich BBC London
So sehr Anton Reinhardt Angst haben musste, dass ihm nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile entstehen konnten, so sehr zog es ihn dann doch immer wieder zu dem Arzt, den Peter Reinhardt als eine "Art Robin Hood" charakterisiert. Jedes Mal unterhielten sie sich lange, sie hörten auch BBC London, ganz leise. "Was meinscht, wie die in d' Hose scheiße, des Nazi-Pack, des elende!", schlussfolgerte der Mediziner daraus. Der Arzt schrieb ihn kontinuierlich krank. Er gab Anton Reinhardt auch Geld und lieh ihm sein Fahrad mit den Worten: "Guck, was de herbringa ka'sch!" [= Schau, was Du herbringen kannst], eventuell brauchte er zu dieser Zeit auch den Alkohol. So zog Anton Reinhardt los, wohl als er bei Lina Henzler in Miete war. Einmal - in Notzingen - leuchtete ihn überraschend eine Taschenlampe an. Die Polizei stand da und er dann auch mit Kartoffeln, Äpfeln und Schnaps. Er wurde der Kripo überführt, doch schließlich löste sich offensichtlich wieder alles auf. Mit Kartoffeln, mit Äpfeln, mit Schnaps kam er mehrmals zurück. Doch der Arzt teilte den Schnaps mit ihm: "Mensch, Anton, warsch gestern wieder hamschtra [hamstern]? Komm, den trinken wir zusammen!". Er trank nicht nur mit ihm, er teilte auch seine Verzweiflung über die Nazis mit ihm, er "hat vor ihm geheult", und er wollte sich manchmal mit dem Schnaps "ausknipsen", „verlor sich manchmal in sich selber“. Damals, meint sein Sohn, habe sein Vater vielleicht schon mitgetrunken, "aus Niedergeschlagenheit". Anton Reinhardt sagte seinem Sohn über den Arzt: "Ich hans Gefühl g‘het, als wenn er auf mich g'wartet hätt.". Wenn sich wartende Patienten mokierten, konnte es sein, dass der Arzt die Türe aufriss: "Die Praxis ist geschlossen!", und sie wieder zuschlug. Anton Reinhardt befürchtete: "Aber die bringen mich doch in Verbindung damit!". Der Arzt antwortete: "Sag i, wer reinkommt, oder die? I bin Arzt, i helf jedem. Aber glaubsch mir, es fällt mir schwer, denen zu helfen. Komm, trink mit mir, des dauert nimme lang, wir feiern schon vor. Was hörsch vo Deine Leut?" – „Nix, anfangs hab i ja no Brief kriegt, aber jetzt scho lang nimmer!" Der Arzt war daraufhin verzweifelt. Er kam sogar in das Lager, hörte Anton Reinhardt fachmännisch ab, "wie ein Schauspieler", konstatierte Lungenentzündung, "damit es glaubwürdig war, da waren alle baff, denn kein Arzt kam in ein Lager." Eines Tages sagte der Arzt, als Anton Reinhardt wieder bei ihm war: "Du, die Franzosen stehen bei Tübingen! Die Nazis in der Stadt, die hauen ab, wer weiß, was die vorher noch machen... S‘isch Zeit, dass Du gehst!" Dazuhin gab es Auflösungserscheinungen bei der Wachmannschaft. Der Arzt gab Anton Reinhardt sein Fahrrad, und dieser fuhr damit nachts über den Schurwald bis nach Kleinaspach, wo seine Eltern ihr „Häusle“ hatten. Wie sein Vater ist Peter Reinhardt der Überzeugung: "Dieser Arzt hat sein Leben gerettet!"
Welcher Nürtinger Arzt half Anton Reinhardt?
Von den geschilderten Umständen her, könnte der Nürtinger Arzt Dr. Wilhelm Dandler hier in Frage kommen, der als Lagerarzt z.B. für die Zwangsarbeiter bei Heller zuständig war, und dem Nationalsozialismus auch nach außen hin zu jener Zeit ablehnend gegenüberstand. Von Petra Garski-Hoffmann wurde er als "der profilierteste Regimekritiker der Nürtinger Ärzteschaft" bezeichnet.[5] Einige Beispiele dafür, dass er "gerade den Mut aufgebracht" hat, "an dem es so unzählig viele andere haben fehlen lassen" sind in ihrem Beitrag hierzu aufgeführt.[6]
Kontinuitäten in der Kripo
Juden waren von der Gestapo systematisch erfasst und überwacht worden, Sinti und Roma von der Kripo. In Stuttgart stand die "Jüdische Mittel- & Auswandererstelle Stuttgart" unter ständiger Überwachung der Gestapo und musste deren Anordnungen befolgen. Darüber hinaus hatte sie noch "Verkehr" mit "S.D., Kriminal- und Ausländerpolizei", usw.[7] Die Kripo hingegen nutzte einige damals anerkannte Sinti zu ihren Diensten, die sie als "Zigeunerhäuptlinge" bezeichnete. Viele weigerten sich, aber manche kooperierten. Einer dieser "Ältesten", M. (bürgerlich K.R.) [Name anonymisiert], der für den Südwesten im weiteren Sinn verwendet wurde, übersiedelte nach der NS-Zeit deswegen in den Raum Köln. Er war befugt, als Selbstschutz zwei Pistolen mit sich zu führen.
Nach der NS-Zeit wurde die Kripo nicht wie die Gestapo als verbrecherische Organsiation eingestuft und so ergaben sich auf breiter Front fatale Kontinuitäten in Bezug auf Sinti und Roma, einmal personeller Art wie bei dem vormaligen Kriminalsekretär Adolf Scheufele in Stuttgart und damit oft einher gehend ideologischer Art und ungute Verhaltensweisen betreffend.[8]
Unterlagen im Nürtinger Stadtarchiv belegen die Geschichte
In Unterlagen, die im Stadtarchiv Nürtingen aufbewahrt werden, hat der von Peter Reinhardt geschilderte Vorgang und die über Jahrzehnte mündlich tradierte „Geschichte vom Menschenglauben“ folgendermaßen Niederschlag gefunden: In der Mieterkarte des Lagers Linder in der Plochinger Straße 16 ist 1944 und 1945 ein "Zig." (für "Zigeuner") „Reinhardt, Anton“ aufgeführt, "l." (für "ledig), geboren am 7.6.1917 in Ulm a. D., als sein Beruf ist "Hilfsarbeiter" angegeben.[9]
Mit anderen Zwangsarbeitern der Cannstatter Firma Rössler & Weissenberger war er am 1.4.1944 aus Bad Cannstatt nach Nürtingen ins Lager Linder auf dem Gelände der heutigen Alten Seegrasspinnerei und ihrer Umgebung verlegt worden, auf dem kriegswichtige Betriebe mit Mannschaftsbaracken eingerichtet waren. [10] „Infolge Fliegerschadens“ war dort auf „Veranlassung des Rüstungskommandos eine größere Betriebsabteilung“ der Firma Rössler & Weissenberger aufgenommen worden. [11] Die Holzbaufirma war auch für Fertigungsaufträge der „Sonderstufe SS 4940 (Jägerprogramm) u. SS Aufträge“ tätig.[12]
Eine Wachmannschaft war für das Lager Linder zuständig, das nur eines von mehreren Zwangsarbeitslagern Nürtingens darstellte. Hauptsächlich Franzosen und Holländer finden sich 1944 als Bewohner des Lagers Linder. Da für Franzosen vom Lager Linder von Zeitzeugen berichtet wurde, dass sie Uniform ohne Rangabzeichen trugen, ist zu vermuten, dass es sich zumindest zum Teil um Kriegsgefangene handelte.
Anton Reinhardt zog laut Mieterkarte am 27.9.1944 in die Mühlstraße 7 um. Die dortige Mieterkarte nennt als Hauseigentümer den Viehhändler Gottlob Henzler mit seiner Frau Lina geborene Faber. Gottlob Henzler war einige Jahre zuvor in der Zeitschrift Flammenzeichen als "Judenfreund" diffamiert worden.[13] Anton Reinhardts Auszug ist dort für dem 10.10.1944 verzeichnet, als neuer Wohnort wieder die Plochinger Straße 16, das Lager Linder, genannt.[14] In dessen Mieterkarte wiederum ist Anton Reinhardt bis 10.4.1945 gemeldet, als neuer Wohnort ist Kleinaspach angegeben.[15]
Doch erst am 22. April 1945 war für Nürtingen der Krieg vorbei. Die 103. Amerikanische Infanteriedivision rückte an diesem Tag, von Oberboihingen her kommend, ein. Zwischen dem 10.4.1945 und dem Einmarsch der Amerikaner war es tatsächlich nicht nur für Verfolgte und Andersdenkende gefährlich, so wurde zum Beispiel bekanntermaßen Eugen Spilger in der Nacht vom 19. auf den 20. April hingerichtet, weil er verkündet hatte, dass die Franzosen bereits bei Tübingen ständen.
In Peter Reinhardt und nun auch in den Lesern lebt die Geschichte weiter
Die dritte „Herzensgeschichte“ spielt nach der NS-Zeit. Sie besteht darin, dass Anton Reinhardt seinem Sohn diese Geschichte immer wieder erzählt hat.
Sein Sohn, der diese Geschichte wiederum erzählt und somit seinen Erzählschatz weiter gegeben hat, und der trotz der Lehren, die man aus der NS-Zeit ziehen sollte, selber den „Rassismus
auf kläglichste Weise erfahren“ hat, resümiert:
"Diese Geschichte lebt in mir. Es ist eine gute Geschichte, wie ein Märchen. Sie hat mir gefallen als Bub. Sie hat meinem Vater und mir Menschenglauben gegeben, den Glauben daran, dass
es auch liebe und gute Menschen gehabt hat, dass es so Übermenschen gehabt hat, die andere wohl als Nestbeschmutzer sehen.
Für mich persönlich: Ich hätte den Mann gerne kennen gelernt, der … erwähnenswert wäre in einer Stadt, die viel braune Scheiße gehabt hat, aber auch Gutes. Seinen Namen weiß ich nicht
mehr. Mein Vater urteilte über ihn: 'Der einzige Mediziner, den ich absolut hoch schätze, der vor mir geheult hat, der getrunken hat, der verzweifelt war mit mir! Solche Menschen gehen in den
Gräueltaten meist unter! Er ist mir als Mensch begegnet! Das war ein hochintellektueller Mensch, nicht involviert in das Nazitum, seinen Mitbürgern weit voraus.'
Ich trug diese Geschichte immer in mir, als ein obskures Fragment in meinem Leben. Es ist eine positive Geschichte. Sie hilft, weil es immer gute Menschen gibt und gab! Und immer auch
schlechte!
Ich weiß nicht, warum mein Vater nicht wieder hingegangen ist, zu dem Arzt, um ihm zu danken, auf meine Fragen hierzu hat er nie geantwortet. Dessen Grab würde ich regelmäßig aufsuchen!
Warum mein Vater ihn nicht aufgesucht hat? Er war anfangs ja völlig mittellos, von A nach B zu kommen, war unvorstellbar, es ging ums nackte Überleben. Nach dem Krieg hat er auch noch einen
Arbeitsunfall gehabt, zwei Finger verloren beim Abfüllen von Flüssigsauerstoff und - stickstoff. Vielleicht ist er tatsächlich mal hingegangen, vielleicht hat er ihn nicht mehr
angetroffen?
Vielleicht ist er aber auch deshalb nicht hin: Unsere älteren Leut‘, die überlebt hatten, waren lethargisch, wie Maschinen, sind bloß noch herumgesessen. Sie haben nicht mehr gelebt. Sie waren traumatisiert. Auf die Frage: ‚Warum seid ihr da geblieben?‘ haben sie geantwortet: ‚Weg gehen? Ja, wohin denn? Für uns gibt es nirgends einen Platz.‘ Ihre Lebenserkenntnis war: ‚Wir sind, egal wo, der Dreck!‘ Das hat sie gelähmt. In Stuttgart haben sie erlebt, dass sie dem Kommissar Scheufele im Hotel Silber, Dorotheenstraße, wiederum begegnen müssen, der da gearbeitet hat bis zu seiner Pension. Meine Leut‘ waren diesen Menschen immer noch ausgesetzt. Wir haben unsere Trauer allein leben müssen. Das jüdische Volk durfte laut trauern. Für uns gab es niemand. Wir haben allein trauern müssen.
Unsere Alten sind dahin, sie sind weggestorben, vorbei. Ihnen hätte es geholfen, wenn einer ihnen zugehört hätte. Aber sie blieben alleine in ihrer Trauer, ohne dass man sie rehabilitiert hätte.“
Die meisten Abbildungen sind durch Anklicken vergrößerbar und so besser lesbar bzw. sichtbar.
Kindheitserfahrungen von Peter Reinhardt sind hier nachzulesen!
Text: Peter Reinhardt, Stuttgart (zitierte Stellen), und Manuel Werner, Nürtingen, Stand: 23. Oktober 2013, alle Rechte vorbehalten!
Zitiervorschlag. Peter Reinhardt, Manuel Werner (2013): Die Geschichte vom "Menschenglauben": Anton Reinhardt als Zwangsarbeiter in Nürtingen, in: Nürtinger Opfer
nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 4. November 2013, abgerufen am: XY.YX.20XY.
Dank an Reinhard Tietzen, Stadtarchiv Nürtingen, für die Anfertigung von Scans und Hilfe bei der Suche nach Unterlagen im Stadtarchiv, J. Guttenberger, und an Dr. Stephan Janker (Diözesanarchivar des Bischöflichen Ordinariats, Rottenburg), für die Weiterleitung eines ersten
Hinweises des Bezugs von Peter Reinhardts Vater zu Nürtingen im Jahr 2008 an mich (MW).
Fußnoten, Quellennachweise
[1] Zitate im Kontext der Familiengeschichte stammen von Peter Reinhardt, aus Gesprächen mit Manuel Werner vom 21. Februar 2013, 16. März 2013, 22. Juli 2013, 23. Oktober 2013 und dem 4.
November 2013. Auch die nachfolgend wiedergegebenen familiengeschichtlichen Ausführungen wie auch die "Geschichte vom Menschenglauben" folgten seinen Erzählungen vom 4. Dezember 2008,
21. Februar 2013, 16. März 2013, 22. Juli 2013, 23. Oktober 2013 und vom 4. November 2013. Im Original spricht Peter Reinhardt in dem Satz "Mein Vater war 'a waschechter
Schwob', aber auch ein waschechter' Sinto": '"a waschechter Zigeuner".
[2] Zitiert nach: Romani Rose (Hrsg.): Den Rauch hatten wir täglich vor Augen. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma. Heidelberg 1999 (hinfort ROSE 1999), S.
27.
[3] Zitiert nach ebda.
[4] Zitiert nach: ROSE 1999, S. 31.
[5] Zitiert nach Petra Garski-Hoffmann: Politische Verfolgung, Widerstand, Verweigerung, in: Reinhard Tietzen (Hrsg.): Nürtingen 1918-1950. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 2011, S. 195, im Folgenden GARSKI-HOFFMANN 2011.
[6] Zitat nach GARSKI-HOFFMANN 2011, S. 195, es stammt aus StAL EL 902/17, Bü 1422. Peter Reinhardt wurde von mir (MW) eine Liste aller Nürtinger Ärzte vorgelegt, die zu dieser Zeit praktiziert hatten, er wollte sich aber nicht festlegen, da er sich nicht mehr genau an den Namen erinnerte, damit nicht ein "Unwürdiger" in Bezug hierzu kommt. Aus Unterlagen, die ich bei Ernst Planck, Nürtingen, zu dessen Lebzeiten eingesehen hatte, der anfangs Vorsitzender der Spruchkammer Nürtingen gewesen war, kommt ebenfalls zum Ausdruck, dass Dr. Dandler den Zwangsarbeitern gegenüber menschlich gehandelt hat, so erinnere ich mich an ein Dokument, in dem er zwei Zwangsarbeitern bei der Firma Heller von stehender Arbeit zu sitzender Arbeit verhalf, da ihre Füße erfroren seien.
[7] Zitiert nach: Manuel Werner: Cannstatt - Neuffen - New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 2005, S. 154f., darin auch weitere Informationen über die "Jüdische Mittel- & Auswandererstelle Stuttgart", wie auch ebda., S. 148f., S. 160ff., S. 169f. und S. 195-197.
[8] Vgl. hierzu: Jochen Faber: Adolf Scheufele. Der „Sachbearbeiter für Zigeunerfragen“, in: Hermann G. Abmayr (Hrsg.): Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder, Stuttgart 2009 (2. Ausgabe), S. 146-150.
[9] Stadtarchiv Nürtingen, Einwohnermeldekarte Plochinger Straße 16
[10] Stadtarchiv Nürtingen, Einwohnermeldekarte Plochinger Straße 16, vgl. auch und zum Folgenden Petra Garski-Hoffmann: Die Geschichte der Alten Seegrasspinnerei: ein Fabrikgelände - drei
"Etablissements" von außergewöhnlicher Bedeutung. Nürtingen/Frickenhausen (Sindlinger-Burchartz) 2009 (hinfort GARSKI-HOFFMANN 2009), S 82 ff. und Stadtarchiv Nürtingen, Akten des Technischen
Rathaus Nürtingen, Bautagebuch 1944 Nr 43.
[11] GARSKI-HOFFMANN 2009, S. 95
[12] ebda.
[13] Vgl. Manuel Werner: Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Nürtingen/Frickenhausen 1998, S. 42
[14] Stadtarchiv Nürtingen, Einwohnermeldekarte Mühlstraße 7
[15] Stadtarchiv Nürtingen, Einwohnermeldekarte Plochinger Straße 16
Eine Zusammenfassung dieses Geschehens erschien unter der Überschrift "Vom Glauben an den Menschen" in der Nürtinger Zeitung vom Samstag, dem 20. April 2013 (Seite zum Wochenende). Die Nürtinger Zeitung ist archiviert und auf diese Weise ist auch der dort zusammengefasste Artikel zugänglich. Ebenso ist er für Abonnenten nach Einloggen auf deren Homepage online lesbar. Eine erste knappe Darstellung des Verhalten von Adolf Scheufele in Bezug auf Anton Reinhardt findet sich in der Publikation Jochen Faber: Adolf Scheufele. Der „Sachbearbeiter für Zigeunerfragen“, in: Hermann G. Abmayr (Hrsg.): Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder, Stuttgart 2009 (2. Ausgabe), S. 146-150. Meine (MW) Gespräche mit Peter Reinhardt hierzu hatten bereits im Jahr vor dieser Publikation begonnen.
Das Stuttgarter Zeitzeugenprojekt und Stolpersteinprojekt hat in Zusammenarbeit mit dem Jugendreferenten und mit Schulen mittlerweile ebenfalls Aussagen von Peter Reinhardt festgehalten.
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