Aufnahmen von Sinti und Roma aus Nürtingen aus der 'Nachkriegs'-Zeit, alle Rechte vorbehalten!
Von den Jahrzehnten vor dem Dritten Reich wissen wir, dass im Gebiet des späteren Landkreises Nürtingen einige Sinti wohnten, so in Kirchheim unter Teck ab den 20er-Jahren.
Die Spuren aus den Akten oder aus der Literatur ergeben allerdings nur ein paar relativ willkürliche Momentaufnahmen. Vieles bleibt verborgen. Berichte von Sinti-Zeitzeugen sind aus einer anderen Perspektive geschildert als Berichte aus der Mehrheitsbevölkerung. Sie sind aber selten erhalten, weil sie in der Regel nicht verschriftet wurden, und die Überlieferinnen der mündlichen Tradition fast alle in der NS-Zeit ermordet wurden. Als Folge davon gibt es bei hiesigen Sinti, ja im gesamten Baden-Württemberg, kaum mehr die früher reichhaltige Erzählkultur, die bis hin zu über Stunden erzählten Paramisi ging, einer wichtigen Säule der Kultur von Sinti und Roma. Mir sind aus dem früheren Baden, Württemberg und Hohenzollern lediglich - kürzere - Erzählungen und Märchen von Philomena Franz und Reinhold Lagrene bekannt, die vor die NS-Zeit zurück reichen, manche Märchen und Erzählungen von Philomena Franz thematisieren allerdings auch den Porrajmos. Glücklicherweise liegen diese Erzählungen von Philomena Franz und Reinhold Lagrene verschriftlicht vor. Ein Beispiel für die mündliche Erzählkultur liefert Peter Reinhardt, der Erzählungen seines im Nürtinger "Lager Linder" festgesetzten Vaters Anton überliefert, von den Seinen wegen weiterer überlieferten Erinnerungen scherzhaft als "Ahnenforscher" bezeichnet, aber auch wegen seiner damit verbundenen Kenntnis der komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse deswegen gefragt.
Meist liegen lediglich die Sichtweisen aus der Mehrheitsbevölkerung vor, die oft durch meist negative Stereotype geprägt sind, welche rassistisch (in dem Fall antiziganistisch) geprägten Äußerungen und Handlungen zugrunde liegen. In Unterlagen von Archiven finden sich mehrheitlich - negative und oft unheilvolle - Sichtweisen der verfolgenden Behörden.
Falls Sinti nicht "reisten", waren sie damals wie heute für die städtischen Behörden nicht unbedingt als solche erkennbar, wie dies auch heute ist, wenn sie nicht einem Klischee der Mehrheitsbevölkerung entsprechen. Anders sieht es wieder aus, wenn sie - wie es in Kirchheim zu jener Zeit der Fall war - zwar in einer Gemeinde, aber in Wohnwagen wohnten, auch wenn dies auf eigenem Grundstück stattfand.
Außerdem machten Sinti in Nürtingen und im Oberamt Station, die einem Reisegewerbe nachgingen, bis sie 1939 durch den so genannten Festsetzungserlass dies nicht mehr durften. Auch sie oder auch andere "Fahrende" wurden als "typisch" empfunden, denn sie waren "sichtbar". Schriftlich gefasste Erinnerungen daran reichen relativ weit zurück. Es sind äußerst flüchtige und sehr kurze, teils distanzierte "Begegnungen". Die jeweiligen Gruppen werden in den zwei folgenden Quellen als "Zigeuner" bezeichnet. Dies ist ein unscharfer Begriff, der nicht nur Sinti umfasst.
"Hurra! Hurra! Die Zigeuner sind da."
Ein Erlebnis, das ein Mitglied der Mehrheitsbevölkerung als "nicht alltägliches Erlebnis" schildert, überliefert Julius Kautter (Jahrgang 1888). Es muss 1892/1893 stattgefunden haben:
"Als ich etwa 4 bis 5 Jahre alt war, hatte ich ein nicht alltägliches Erlebnis: Eines Tages erschallte der Ruf unter den Kindern: "Hurra! Hurra! Die Zigeuner sind da." Ich weiß nicht mehr genau, ob sie ihre Wagen in der Allee oder aber auf der Schreibere abgestellt hatten. Jedenfalls fanden wir Kinder die Zigeuner bald und bestaunten sie wegen ihres fremdartigen Aussehens. Ich muß mich nun von meinen Begleitern losgerissen haben. Die Neugier trieb mich dazu, in einen Wagen unbemerkt hineinzuklettern. Wahrscheinlich habe ich mich darin versteckt. Inzwischen fuhren die Zigeuner weiter. Etwa auf der Höhe von Oberensingen wurde ich entdeckt und aus dem Wagen geholt. An die Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ich weiß nur soviel, daß dieses Abenteuer einen tiefen Eindruck bei mir hinterließ."(1)
"Alle überkam eine fröhliche Stimmung."
Einen weiteren Blick aus der Mehrheitsbevölkerung, der auch etwas über Ansichten Sinti gegenüber verrät, schildert Liesel Bayer-Müller, die in Nürtingen aufwuchs. In einem Brief aus "Amerika" ist im Kontext der Charakterisierung eines damaligen Nürtinger Originals eine Beobachtung einer Menschengruppe enthalten, die auch hier als "Zigeuner" bezeichnet werden. Der Nürtinger Kaufmann Paul Jeremias lebte von 1854 bis 1908, sodass auch diese Schilderung wohl eine Begebenheit aus dem späten 19. Jahrhundert oder um die Jahrhundertwende betrifft.(2)
"Gleich neben unserem Elternhause in der Marktstraße hatte unser Nachbar Herr Paul Jeremias einen Kolonialwarenladen. Er wurde in der ganzen Nachbarschaft und Umgebung kurzweg "Paule"
genannt. Er war ein mageres, aber immer lustiges Männchen, der zu gerne einen über den Durst trank. Dafür war seine Frau eine pompöse, wohlgepflegte Schönheit, neben der er beinahe verschwand.
Sie hielt auch die Zügel stramm in der Hand, damit er nicht über die Stränge schlug... Am schönsten aber waren jene Sommerwochen, in welchen Frau Jeremias zur Kur ins Wildbad fuhr. Strahlend
erzählte er dann allen Nachbarn: "Meine Frau ist zu meiner Erholung nach Wildbad gereist." ... Ein Ereignis ist mir [Liesel Bayer-Müller, auch Liesel Bayer-Mueller und Liesel Müller-Bayer] aber unvergeßlich, obwohl
es weit über fünfzig Jahre zurückliegt [das Schreiben wurde 1970 publiziert]. Es kam eines Tages eine kleine Truppe Zigeuner durch unsere Stadt, welche durch Geigenspiel und sonstiges ihr Geld erwarb,
Paule fand einen großen Spaß an der Truppe. Niemand legte ihm Zügel an, weil seine Frau gerade im Wildbad war. Die
Zigeuner mußten ihm aufspielen, und Paule tanzte mit den schönen Zigeunermädchen auf dem Trottoir, daß deren Röcke flogen. Er bewirtete die ganze Gesellschaft mit Wein und trank fröhlich mit.
Alle überkam eine fröhliche Stimmung. Die Zigeuner mußten nochmals aufspielen, und was geschah: Paule schwenkte zum Gaudium der ganzen Nachbarschaft die alte, schlampige Zigeunermutter im Tanz
herum."(3)
Die zuletzt zitierte Erinnerung lässt einiges erkennen:
Bei der zuerst zitierten Quelle aus dem späten 19. Jahrhundert fällt mir das Wort "fremdartig" auf.
Betrachten wir nun die spärlichen Spuren aus dem 20. Jahrhundert.
Von dem Sinto Anton Köhler, wissen wir, dass er 1932 in Nürtingen geboren ist. Er findet sich aber nicht in behördlichen Nürtinger Unterlagen, und er weilte nicht lange hier.
Er wurde er in das katholische Heim St. Josephspflege bei Mulfingen eingewiesen, seine Eltern ermordet.
Nach Abschluss der Studien von Eva Justin wurde er zusammen mit vier Geschwistern und anderen Sinti-Heimkindern - die meisten bereits zu Waisen gemacht - nach Auschwitz-Birkenau in das "Zigeunerlager" verbracht und dort ermordet.
Nur die zwei ältesten seiner sieben Geschwister überlebten die NS-Zeit, unter anderem weil sie zur Zeit der "Deportation" nicht mehr in dem Heim waren.
Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart - Stadt - Oberamt - Landkreis
Die Verfolgung von Sinti und Roma während der NS-Zeit in unseren Altkreisen Nürtingen und Kirchheim ging - wie andernorts auch - zu einem
großen Teil über die Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart. Deren "Dienststelle für Zigeunerfragen" koordinierte die Verfolgung und führte eigene Personenkarteien. Die Stuttgarter Kripo
organisierte auch die "Deportation" von Anton Köhler in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und überwachte Anton Reinhardt mit Drohung der Einweisung nach Auschwitz-Birkenau. Sie überführte
Johann Reinhardt in das KZ Dachau und bewirkte dessen Einlieferung dort.
Nürtingen war Sitz des Oberamts, später Landratsamts, und der Kreisleitung der NSDAP. Diese Organe der Überwachung und Verfolgung griffen in der NS-Zeit wie auch andere über das engere
Stadtgebiet hinaus, in dem Zuständigkeiten der jeweiligen Gemeindeleiter (Bürgermeister) und der Ortsgruppenleiter ebenfalls eine Rolle spielten.
Der Gendarmerie-Kreis mit seinen Gemeindepolizeibehörden in Nürtingen, Kirchheim/Teck und Dettingen/Teck hatte seinen Sitz ebenfalls in Nürtingen. Sie alle wirkten aktiv oder nur indirekt mit bei
der Verfolgung bzw. machten sie als Zahnrädchen im System möglich.
So zum Beispiel das Landratsamt Nürtingen. Von Regierungsinspektor Otto Hoffmann weiß man durch archivalische Bestände, dass er bei solchen Aktionen im direkten Kontakt mit der
Kriminalpolizeileitstelle in Stuttgart sowie der Gestapo stand. Hoffmann übermittelte Negatives über in seinem Kompetenzbereich lebende Sinti. Sie waren in den Hirnen der für sie Zuständigen
bereits vorverurteilt und abgestempelt. Deshalb ist auch das Schicksal von Sinti miteinbezogen, die außerhalb des engeren Stadtgebiets von Nürtingen verfolgt wurden.
Bei Informationen aus Akten und Unterlagen aus Archiven ergibt sich bei Sinti in ganz besonderer Weise das Problem, dass dies meist Akten der verfolgenden Behörden sind, die deren
Sichtweise abbilden, aber auch meist Dinge betreffen, bei denen sie einhaken konnten. Das ist ein in höchstem Maße selektiver Blick. Dies gilt es stets zu bedenken.
Zudem wurden viele Akten der Ämter und der Kreisleitung Nürtingen vor dem Einmarsch der Alliierten vernichtet.Vieles kann nicht mehr eindeutig nachgewiesen werden. Zudem überlebten viele Sinti
als mögliche Zeugen das Kriegsende nicht.
Die stetig intensivierte Verfolgung von Sinti und Roma kann hier übersichtsartig nachgelesen werden:
Frank Sparing (2011): NS-Verfolgung von "Zigeunern" und
"Wiedergutmachung" nach 1945 in der Webseite www.bpb.de."
Weitere Details erschließen in den Unterseiten dieser Webseite über die Schicksale von Anton Köhler, Anton Reinhardt und unten über Johann Reinhardt.
Im Nürtinger Tagblatt wurde 1937 eine Leserzuschrift, ob es auch "sesshafte Zigeuner" gebe, folgendermaßen beantwortet:
Der Besitz eines Baumwiesen-Grundstückes in Kirchheim unter Teck wurde vom damaligen Oberamt Kirchheim, das 1938 mit dem Oberamt Nürtingen vereint wurde, und den Stadtoberen erschwert. Der neue Besitzer Karl Reinhardt (Jahrgang 1874) war offensichtlich wie seine Frau Adelgunde (Jahrgang 1876) und die weitere Familie unerwünscht. Sein Sohn Johannes (Jahrgang 1900) wohnte seit 1923 in Kirchheim, er hatte im selben Jahr eingeheiratet. Karl Reinhardt kaufte im Jahr 1930 die Parzelle 3928/2, eine Baumwiese am Giessnaubach, die über den Gänskragenweg und einen weiter führenden Feldweg zugänglich war, von dem Pferdehändler Eugen Stöhr. Dort stellten sie ihre Wohnwägen auf. Gegen daraufhin erfolgte Maßnahmen der Stadt beschwerten sich die Sinti hinfort "bis zum Ministerium". Das Grundstück lag im Gewannn Siechenkirchle und ist seit 1960 von der B 465 überbaut. 1934 machte das Bürgermeisteramt den "dort lagernden Zigeunerfamilien" die Auflage, "die Wohnwagen zu räumen", einen Schuppen und einen "untermauerten Wohnwagen" zu entfernen. Karl Reinhardt, einer von vier Besitzern, "bot" unter diesem Druck das "Grundstück samt Wagen" der Stadt "zum Kauf an" und "erklärte sich bereit", so die Diktion in einer nicht öffentlichen Sitzung des Stadtvorstandes, bei entsprechender Entschädigung "die Stadt zu verlassen". Der Gemeinderat beschloss, das Kaufangebot nicht anzunehmen. Dennoch drängte man sie zum Verlassen der Stadt und zum Verkauf des Grundstücks. Seinerzeit hatte "Pferdehändler Stöhr" das Grundstück verkauft gehabt, den Kaufvertrag aber außerhalb Kirchheims schreiben lassen. Bürgermeister Andreas Marx ordnete an, dass Pferdehändler Stöhr von sämtlichen städtischen Lieferungen und Aufträgen ausgeschlossen bleibe, so lange die "Zigeuner" sich dort aufhalten würden. Diese Kirchheimer Sinti hätten, so einer der Vorwürfe, gegen die Verordnung, man dürfe dort nicht dauerhaft wohnen, verstoßen. Insbesondere hätten sie eine "Winterfestmachung" durchgeführt, die "Zigeunereigenschaft" im Wandergewerbeschein nicht eintragen lassen, und das Verbot der "Hordenbildung" missachtet.
Schließlich mussten die "Zigeuner" sich um 1934/1935 verpflichten, die Stadt zu verlassen- Gegen die Verstöße erhob die Stadt Kirchheim Bußgelder, die mit dem Kaufpreis verrechnet wurden. Soweit die Informationen, die sich aus behördlichen Unterlagen erschließen, den Zeugnissen behördlicher Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen, die die in Kirchheim und später in Gerstetten, Eislingen und Rottenburg am Neckar wohnenden Sinti als "Zigeunerplage" hinstellten, die man loswerden müsse. In Wahrheit waren die verfolgenden und vertreibenden Behörden eine dramatische Plage für die Sinti, eine mörderische Plage. Wie erinnert sich die Minderheit ein halbes Jahrhundert danach an die folgenden Geschehnisse? Gemäß der Familienerinnerung verlud Familie Reinhardt daraufhin ihre Wagen nach Gerstetten, ein Teil der Familie kaufte dort ein kleines Haus, und zog dort ein. Der Rest der Familie ging "auf Reise".
Auch wenn wir hierzu die Chronologie unserer Gliederung kurz verlassen müssen, sei die weitere Odysse und Leidensweg der Familie nach 1938 grob skizziert, denn Gerstetten musste die Familie ebenfalls zwangsweise verlassen, wobei ein großer Wohnwagen zurückblieb. Sie ging nach Eislingen bei Göppingen. Von dort wurden sie wiederum vertrieben. Auf der erzwungenen "Reise" gelangten sie nach Rottenburg am Neckar. Dort verblieb der letzte Wagen am Bahnhof. Familie Reinhardt musste nach Stuttgart und dort in Rüstungsbetrieben Zwangsarbeit leisten. Als Albert Reinhardt (Jahrgang 1911), ein weiterer Sohn von Karl Reinhardt und Adelgunde Reinhardt, nach einigen Wochen seinen Wagen in Rottenburg abholen wollte, war er zertrümmert und von der Hitlerjugend eine Halde hinunter geworfen worden. Als er sich bei der Bahn deswegen beschwerte, wurde ihm mit KZ gedroht. In Stuttgart kam Karl Reinhardt 1943 wegen Krankheit in ein Krankenhaus und "war plötzlich tot". Die Familie wertet dies so: "Die Spritze bewahrte ihn vor dem Waggon, darin wäre er umgekommen wie viele".(4)
Albert Reinhardt wurde am 15. März 1943 mit seiner Frau Pauline (Jahrgang 1924), seiner zweieinhalbjährigen Tochter Brunhilde (Jahrgang 1940) und seinem noch nicht einjährigen Sohn Siegfried (Jahrgang 1942) zusammen mit seinen Geschwistern und deren Familien, insgesamt waren es 234 Sinti aus Württemberg und Baden, auf dem Stuttgarter Nordbahnhof nach Auschwitz-Birkenau "verladen", dort erhielt er die Nummer Z-4153. Am 12. April 1944 wurde er nach Buchenwald verschickt, er kam dort am 17. April 1944 an und wurde dort als Nummer 42616 registriert. Sein Sohn Siegfried und ein in Auschwitz-Birkenau geborenes Kind waren zu diesem Zeitpunkt schon tot. Der kleine Siegfried war bereits am 1. April 1943 "gestorben", er hat keinen halben Monat im "Familienlager" in Auschwitz-Birkenau überlebt. Warum Kinder dieses "Transports" so rasch "starben" schildert Hildegard Franz, geborene Reinhardt, anschaulich in einem Interview (hier herunterzuladen als mov-Datei, 1,5 MB), die vom Lager Ummenwinkel bei Ravensburg nach Stuttgart verbracht und mit demselben Zug nach Auschwitz-Birkenau transportiert wurde. Brunhilde Reinhardt "starb" am 23. Juni 1944. Seine Frau Pauline fand Albert Reinhardt im KZ Bergen-Belsen wieder, sie kam aus dem KZ Ravensbrück dorthin, er aus dem KZ Buchenwald. Siebzehn Angehörige aus deren engstem Familienkreis wurden im Porajmos ermordet. Albert Reinhardt starb 1986 in Kirchheim.(5)
In der Zeit des Nationalsozialismus wohnten im Landkreis Nürtingen einige Sinti. Nürtingen war nicht nur Sitz der städtischen Verwaltung und der Ortsgruppenleiter, sondern auch Sitz des Landratsamtes (zuvor des Oberamtes) und des Kreisleiters des NSDAP.
Manche Sinti wohnten schon vorher da, manche waren während der Zeit des Nationalsozialismus zugezogen, wie z.B. Adolf Guttenberger Anfang 1939 in Beuren, der die Adresse Schmale Straße 7 hatte (6), oder Franz Reinhardt ebenfalls Anfang 1939 in Unterensingen.(7) Manche wohnten in einer Wohnung, hatten zumindest "eine Schlafstelle", andere hausten in ärmlichen Wagen.
In Ötlingen waren vom 6. August 1938 bis zum 12. Oktober 1938 in der "Bauhütte in der Kiesgrube", und bis zum 23. Januar 1939 in der "Baubaracke auf dem Bahnbaugelände" 24 Mitglieder der Familie Reinhardt per Einweisung untergebracht, davon kamen aus Owen 3 Männer, 4 Frauen und 2 Kinder und aus Dettingen/Teck 2 Männer, 3 Frauen und 6 Kinder.(8) Wo waren sie danach? Was geschah mit ihnen?
Entzug der Wandergewerbescheine und damit der Lebensgrundlagen vieler
Etlichen Sinti im Landkreis waren vom Arbeitsamt wie früher schon jährlich Wandergewerbescheine ausgestellt worden, mit denen sie zeitweise reisen und handeln konnten.
Zunächst waren solche Wandergewerbescheine auch deswegen ausgestellt worden, da damals die Ansicht vertreten wurde, "dass einem deutschen Volksgenossen nicht zugemutet werden könne in einem Betrieb mit einem Zigeuner zusammenzuarbeiten.", wie der Nürtinger Regierungsinspektor Otto Hoffmann im Februar 1940 dem Polizeipräsident in Stuttgart mitteilte. (9) Doch danach wurde die Erteilungspraxis restriktiv und Wandergewerbescheine wurden wieder eingezogen. Als Begründung wurde von Regierungsinspektor Otto Hoffmann "Unzuverlässigkeit für den Gewerbebetrieb im Umherziehen"(10) angeführt, "grundsätzlich" könne man Angehörigen der in dem zitierten Schreiben genannten Familie "keinen Glauben schenken".(11)
Damit war vielen Sinti, die von solchem Handel lebten, die wirtschaftliche Grundlage entzogen. Im Gegenzug wurde ihnen vorgeworfen, sie seien asozial, würden den Gemeinden auf der Tasche liegen, und das nach Entzug der Lebensgrundlage nötige Betteln wurde als "Landplage" oder "Zigeunerplage" hingestellt. Versuchten sie dennoch, von Haustürengeschäften zu leben, war dies nun illegal, waren sie kriminalisiert.
Bereits am 18. April 1939 hatte Regierungsinspektor Otto Hoffmann vom Nürtinger Landratsamt, die "Zigeunerüberwachungsstelle" in der "Kriminalpolizeileitstelle" Stuttgart "unter Bezugnahme auf" einen "fernmündlichen Anruf", der tags zuvor eingegegangen war, ersucht, "bei Wiederaushändigung" entzogener Wandergewerbescheine "äusserst vorsichtig zu sein". Die "Zigeuner" würden die Wandergewerbescheine "in erster Linie dazu" benützen, "hordenweise durch das Land zu ziehen. Die in der Bevölkerung laut gewordenen Klagen erscheinen bei der Art der Ausübung des Wandergewerbes durch die Zigeunerfamilie Reinhardt durchaus berechtigt. Die Wiederaushändigung des Wandergewerbescheins des Ferdinand Reinhardt, der wegen seines hohen Alters keine andere Arbeit mehr zu leisten vermag, dürfte vertretbar sein [Die Vorderseite dieses Wandergewerbescheines für Ferdinand Reinhardt ist weiter oben abgebildet, MW]. Der Wiederaushändigung der Scheine an die Zigeuner" L.R. (Jahrgang 1907) [Name anonymisiert, MW] und und L.R. (Jahrgang 1913) [Name anonymisiert, MW] "vermag ich nicht zuzustimmen", so der Landrat. "Beide sind meiner Ansicht nach trotz aller von ihnen vorgetragenen Leiden, gesund und arbeitsfähig... Den Wandergewerbeschein des" P.R.[Name anonymisiert, MW "und denjenigen seiner Ehefrau werde ich ebenfalls einziehen lassen und dorthin übersenden." Drei eingezogene Wandergewerbescheine legte der Regierungsinspektor dem Schreiben bei.(12)
Ferdinand Reinhard (Jahrgang 1878) wohnte zu jener Zeit in ärmlichen Verhältnissen in Ötlingen im Wohnwagen.(13) 1935 war Ötlingen nach Kirchheim unter Teck eingemeindet worden. Sein Wandergewerbeschein für das Jahr 1938 war von Obersekretär Regierungsinspektor Otto Hoffmann in Nürtingen ausgestellt worden. Ferdinand Reinhard durfte demnach mit einem Handwagen Lumpen gegen selbstgefertige "Holzkarren" tauschen und wiederverkaufen. War der Wandergewerbeschein 1938 noch "für das ganze Reichsgebiet" gültig, dürfte dies nach dem Festsetzungserlass 1939 obsolet geworden sein. Ob für Ferdinand Reinhard tatsächlich ein neuer Wandergewerbeschein ausgestellt wurde, konnte bislang noch nicht in Erfahrung gebracht werden.
Die Sinti Kirchheims wurden anderenorts zu Arbeitseinsätzen herangezogen, zum Beispiel beim Bau von Straßen, auch Autobahnen. So "wohnte" zum Beispiel Katharina Reinhardt (Jahrgang 1883) im Juli 1939 "in einer Bauhütte auf der Reichsautobahn bei Winzershausen, Krs. Ludwigsburg". Vorerst war sie noch für einige Wochen wegen "Hausierens ohne Wandergewerbeschein zur Aufenthaltsanzeige ausgeschrieben".(14) Auch die Frauen mussten Schotter schaufeln. Von einem anderen Einsatz von Sinti zum Straßenbau weiß man, dass diese nicht immer mit Nahrung versorgt wurden, doch mit "Hausieren" machte man sich dann strafbar. Auch Ferdinand Reinhard(t) ist in den frühen 40er-Jahren nicht mehr in Kirchheim bzw. Ötlingen, sondern dort bei Winzershausen, wo Sinti zum Autobahnbau eingesetzt wurden, gemeldet gewesen.
"Rassenhygienische" Einstufung
Vom Juni 1941 sind so genannte "gutachtliche Äußerungen" über Sinti und deren Angehörigen aus dem Landkreis Nürtingen bekannt, zum Beispiel aus dem "Erf-Ort:" Erfassungsort "Kirchheim-Teck". Sie sind von Dr. Ritter von der damaligen "Rassenhygienischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes" in Berlin-Dahlem unterzeichnet. Es beruft sich dabei auf "Unterlagen, die ich in dem Zigeunersippenarchiv der Forschungstelle befinden".
Solche Äußerungen konnten von "Rassediagnose: Nicht-Zigeuner ( - ist Angehöriger einer Zigeuner-Mischlings-Familie"(15) bis "Zigeuner-Mischling (+)"(16) gehen. Dabei sind neben den behördlichen Namen auch die Sinti-Namen angegeben wie "Denels", "Hoppo" oder "Buckeli"
[diese Namen werden hier bewusst nicht zugeordnet, MW] .(17) Diese Akten wurden in Abschrift auch im Landratsamt Nürtingen aufbewahrt.
Der Rohproduktenhändler Johannes Reinhardt, genannt Ludwig, lebte mit seiner Frau Pauline geborene Jäger verwitwete Spindler (Jahrgang 1896) seit 1923 in Kirchheim u. T.. Im Dritten Reich lebten sie mit zwei Kindern (Kurt Spindler, Jahrgang 1919, und Hermann Reinhardt, Jahrgang 1923) in einer "kalten und zu kleinen Kirchheimer Notwohnung" (18), in Kirchheim vermietete ihnen niemand sonst eine größere Wohnung. Schließlich gelang es Pauline Reinhardt, nach erheblichen Unkosten wegen Inseraten in verschiedensten Zeitungen, unter anderem dem Nürtinger Tagblatt, eine Wohnung in Nördlingen zu mieten. Pauline Reinhardt war von dem nationalsozialistischen "Rassenkundler" Dr. Ritter in einer "gutachterlichen Äußerung" vom 24. Juni 1941 die "Rassendiagnose: Nicht-Zigeuner (= ist Angehörige einer Zigeuner-Mischlings-Familie)" ausgestellt worden und hatte wohl deswegen die nach außen sichtbare Initiative gegenüber den Behörden ergriffen. Der Bürgermeister in Nördlingen sprach sich dafür aus, den Zuzug zu verweigern. Die Kriminalpolizeitleitstelle Stuttgart stimmte zwar der Verlegung des Wohnsitzes zu, wohl weil sie dann nicht mehr für die Familie zuständig gewesen wäre. Doch die Kriminalpolizeileitstelle Augsburg gab dem Umzug keine Zustimmung und die Kriminalpolizeileitstelle München gestattete den Zuzug ebenfalls nicht. Das Landratsamt Nördlingen teilte dies am 25. September 1942 gegen Poststellungsurkunde mit, aus politischer Sicht sei zwar nichts einzuwenden, aber der Antrag werde abgelehnt. Die Familie klagte erfolglos dagegen. Das gekaufte Haus blieb im Besitz von Pauline Reinhardt, doch die Familie durfte nicht zuziehen. 1956 wurde das Haus verkauft.(19)
Bewertung
Wie ist es zu bewerten, wenn dieser Familie, die bereits ein Haus gekauft hatte, der Zuzug und Einzug unmöglich gemacht wurde, doch ihr im Gegenzug wie anderen Familien, die zu den Sinti gehörten oder die als Sinti oder als "Angehörige einer Zigeuner-Mischlings-Familie" angesehen wurden, dann unstete Lebensweise und ein unbezwingbarer Wandertrieb unterstellt wurde, "Wildbeuterstämmen" gleich?
Die Behörden selbst schufen offensichtlich in vielen Fällen die Ursachen, weswegen man die Sinti später diskreditierte.
Zwangsarbeit
In Nürtingen musste der Sinto Anton Reinhardt von 1944 bis 1945 im "Lager Linder" Zwangsarbeit für die Firma "Rössler & Weissenberger" leisten.
Er ist in der betreffenden Nürtinger Mieterkarte verzeichnet.
Das Lager Linder war auf dem Gebiet der heutigen "Alten Seegrasspinnerei" und der angrenzenden Berufsschulen und des "Containerdorfes" für Asylbewerber und Flüchtlinge in der Kanalstraße eingerichtet.
Anton Reinhardt überlebte, wegen der Solidarität seiner Lagerkameraden, als er von der Deportation nach nach Auschwitz-Birkenau bedroht war, und wegen der Hilfe durch einen Nürtinger Arzt.
Porrajmos - Ermordung von Sinti und Roma im Dritten Reich
Einige der Sinti im Landkreis wurden im Porrajmos ermordet.
Zwangssterilisierungen
Andere Sinti fielen Zwangssterilisationen zum Opfer, für die hier keine namentliche Zuordnung erfolgen soll. Das psychische Leid darüber dauerte das gesamte Leben an. Siehe hierzu auch den Fluchtgrund von Maria-Theresia R. nach Benningen weiter unten.
*
Sinti in Kirchheim unter Teck nach 1945
Nach 1945 kam ein Teil der vorher in Kirchheim lebenden Sinti-Familien wieder nach Kirchheim. Mitglieder dieser Familien sind auch heute Bürger dieser Stadt. Sie wollen keine Stolpersteine für
ihre Angehörigen verlegt haben. Ein Grund besteht darin, dass sie nicht möchten, dass die Namen ihrer Angehörigen mit Füßen getreten werden und beschmutzt werden könnten.
Einige Sinti lebten nach dem "Dritten Reich" auch im Landkreis und in Nürtingen. Manche hatten ihren Lebensmittelpunkt hier, mindestens einer ein eigenes Haus.
Eine Nürtinger Sintiza als Arbeitgeberin mit Kinderhort im Nürtingen der Nachkriegsjahre
Ganz andere Sichtweisen als die flüchtiger Eindrücke einer Betrachtung kurz durchreisender Sinti oder aus Akten verfolgender Behörden ergeben sich bei Erinnerungen aus der Minderheit selber und bei einer ehemaligen Nürtingerin, die bereits als Kind länger Kontakt mit einer Nürtinger Sinti-Familie hatte, deren Mutter bei einer Sintiza Arbeit gefunden hatte. Sie laufen den Klischees, die sich ansonsten in breiter Front bis heute in den Köpfen der Mehrheitsbevölkerung eingenistet haben, zuwider, denn sie entspringen genauerer und längerer Kenntnis und echter Begegnung. Eine Sintiza als Arbeitgeberin in Nürtingen in einer Zeit der Not und hoher Arbeitslosigkeit? Dies vermag manche zu überraschen. Doch Nürtingen war zu jener Zeit eine "kulante Gemeinde", urteilt einer ihrer Söhne. Und "geschäftlich" sei seine Mutter "wief", zudem "ein sozialer Mensch" gewesen. Sie wollte die Chance auf ein Leben in Normalität ergreifen, die sich nun für eine vordem Verfolgte des Nazi-Regimes bot.
Die in Stuttgart* geborene Sintiza Maria Theresia R. (Jahrgang 1920), wohnte mit ihren zum Zeitpunkt des Zuzugs fünf kleinen Kindern seit dem 12. Juni 1946 in der Frickenhäuserstraße 2.(20) Die Monate zuvor hatte die Familie in ihrem Wohnwagen am Neckar gelebt. Ihr Mann Robert war "Bürstenmacher und Kraftfahrer".(21)
Einer ihrer Söhne, R. Reinhardt (Jahrgang 1947), erinnert sich: "Meine Geburtsstadt ist Nürtingen." Das Gebäude der heutigen Mörikeschule war "mein Geburtshaus und von meinem zwei Jahre jüngeren Bruder auch...
Mein Vater war im Arbeitslager gewesen und auch in Dachau. Doch meine Mutter hatte interveniert, damit sie ihn wieder frei lassen. Denn mein Großvater mütterlicherseits war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen, und seine anderen sechs Brüder auch. Da hieß es: 'Die haben für uns gekämpft im Ersten Weltkrieg!' Den Eltern meiner Mutter [Zacharias Reinhardt und Theresia geborene Guttenberger](22) kam das zugute, und über meine Mutter meinem Vater auch. In der Nazizeit waren meine Eltern noch nicht in Nürtingen gewesen. Wir sind 1946 nach Nürtingen gekommen und standen zuerst mit dem Wohnwagen am Neckar unten. Nürtingen war eine kulante Gemeinde. Die Gemeinde hat uns dann die Räume gegeben, oben in der Mörikeschule. Später hat sie uns sogar einen Bauplatz angeboten, ungefähr dort, wo jetzt der Deininger ist und der Metabo."(23)
In den Dachräumen der heutigen Mörikeschule richtete Maria Theresia R. eine Fabrikation in sieben Zimmern ein.
Darin beschäftigte sie 12 bis 14 Mitarbeiterinnen.(24)
R. Reinhardt führte am 14. September 2013 zu dieser Wohnung aus:
"Oben auf der anderen Seite hat der Hausmeister der Schule gewohnt, und auf der einen Seite haben wir gewohnt. Das waren sechs oder sieben Zimmer. Da hat sie dann zusätzlich zur Wohnung auch diese Fabrikation gehabt."
Arbeit in der Handbürstenfabrik
Eine Tochter einer damaligen Arbeiterin (Jahrgang 1940) erinnert sich am 16. Juli 2013 an die Bürstenfabrikation, die in den Dachräumen der heutigen Mörikeschule von Maria Theresia R. eingerichtet war: „Meine Mutter hat in der Handbürstenfabrik bei Frau R. gearbeitet. Das muss 1946 oder 1947 gewesen sein. Es war eine schwere Arbeit, denn die Bürsten waren rau und mussten in die Holzhandgriffe eingearbeitet werden. Die Fabrikation war unter dem Dach der Frauenarbeitsschule, der heutigen Mörikeschule. Sie hat dreißig Pfennig Stundenlohn bekommen. Ein paar Kriegerwitwen arbeiteten da und hatten ihre Kinder mit dabei. Das waren viele Kinder dort, auch der kleine Peterle von Frau R. war immer mit dabei, den haben die rumgezogen. Die Kinder waren immer dabei und auch ich bin nach dem Kindergarten hoch gekommen und dabei gewesen. Die R.-Kinder sind da rumgesprungen und die Kinder der Arbeiterinnen. Mein Bruder und der Peterle müssen gleich alt gewesen sein, denn der ist ja auch noch nicht in den Kindergarten gegangen. Mein Bruder durfte damals mit seiner Mutter mit hoch, es waren ja mehrere Kinder dort, weil sie ihn mitnehmen konnte, hat sie ja überhaupt arbeiten können, sonst wäre das ja gar nicht gegangen. Erst nachher hat sie wieder Geschäft gekriegt bei der Textilfirma Oelkrug. Meine Schwiegermutter war zuvor beim Linder und hat Munitionskisten zusammen genagelt.“(25)
R. R. hat viele Jahre später in Nürtingen erlebt, dass eine Frau bei ihm geklingelt hat und ihn gefragt hat, ob er verwandt mit Maria Theresia R. sei. Er antwortete: "Ja, das war meine Mutter!". Daraufhin hat sie ihm gesagt: "Na, ich habe gesehen: 'Da hanna wohnt a R.', und gedacht: 'Jetzt frage ich den mal'." Ihr Anliegen war es, ihm dankend zu sagen: "Ihre Mutter hat mir Arbeit gegeben, wo ich nichts hatte, als ich aus dem Osten gekommen war..." Sie sei damals aus dem "Sudetenland" gekommen gewesen, war also Deutschböhmin oder Deutschmährin gewesen.(26)
Vom VVN Nürtingen unterstützt
Familie R. war bereits im Sommer 1947 bei der Kreisstelle der im selben Jahr gegründeten V.V.N. (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) Nürtingen als rassisch Verfolgte registriert und wurde auch von ihr unterstützt.
"Geschäftlich war sie wief"
R. R. weiter: "Meine Mutter war ein ganz sozialer Mensch. Geschäftlich war sie wief. Sie hat auch Schrubber und und Besen hergestellt, nicht nur Bürsten."(27)
Außer dem Handel mit Besen, Schrubbern und Bürsten umfasste die Genehmigung für ihren Wandergewerbeschein 1949 auch Stoffreste, Kurzwaren, Spitzen und andere Textilwaren.
In den 60er-Jahren hatte sie sieben Kinder.
"Ich bin zwar etwas dunkler, bin aber aus Fleisch und Blut." - Erlebnis im Lokal (90er-Jahre)
R. R. (Jahrgang 1947), wie oben dargestellt ein gebürtiger Nürtinger, erzählt eine Begebenheit, die sich Anfang der 90er-Jahre in einem Nürtinger Lokal abspielte: "Von ihrer Gesinnung her waren viele der Nürtinger nicht so christdemokratisch. Oft habe ich daher nach dem Motto leben müssen: 'Kämpfe und wehr' Dich!" Ich war einmal in einem Nürtinger Lokal und habe etwas getrunken. Da war auch der Dachdecker A. XY. [Name anonymisiert, MW] gesessen, ein richtiger Rechtsradikaler, und hat auf mich und die Ausländer gewettert. Wissen Sie, das war die alte Garde, die Zündler, die die Jungen anstecken, die Unbelehrbaren. Da habe ich ihm geantwortet: 'Ich bin zwar etwas dunkler, bin aber aus Fleisch und Blut.' Da war alles still im Saal.
Da war auch ein junger Mann im Lokal gewesen, ein blonder junger 'Deutscher'*,
der saß hinter mir. Der hat mir gedankt und gesagt: "Das Getränk geht auf mich". Das war gut, weil er dadurch zeigte, dass er das nicht guthieß. Dann war da Ruhe."(28)
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*) mit 'Deutscher' ist "Gadscho" gemeint, siehe hier bei den Hintergrundinformationen..
Weitere damalige rechtsradikale Aktivitäten
Aus demselben Zeitraum (1993) stammt diese Postkarte, die von Rechtsextremen versandt wurde. Auf der fingierten Briefmarke links neben der richtigen steht "DEUTSCH-LAND: JA! EXOTEN-LAND: NEIN!".
Adressiert ist sie an "XY. [Empfänger anonymisiert], 7440 Nürtingen, DEUTSCHES REICH." Die Post stellte die Karte zu. Sie enthält unter dem Motto "NATIONALE WENDE ODER MULTIKRIMINELLES ENDE"
Hetze gegen in Deutschland lebende rumänische Roma (im Original: "rumänische Zigeuner (sogenannte Asylanten)"). Vielleicht sollte sie auch den in Nürtingen wohnhaften Empfänger einschüchtern.
Seit der Wiedervereinigung waren zu jener Zeit zwischen 1990 und 1993 immerhin mindestens 27 Mordopfer rechtsextremer Täter zu verzeichnen, dies war erst der Anfang.
Die "Argumentationslogik" gegen solchen Flüchtlingen Beistehende, doch selber Roma oder "Asylanten" in das private Heim aufzunehmen, findet sich auch öffentlich in Leserbriefen und Internet-Einträgen bis heute. In privaten Zuschriften mutierten diese dann auch schon mal zu zehn "dreckigen, stinkenden Zigeunern", die man doch selber aufnehmen solle, eine Frau, die sich für Roma-Flüchtlinge einsetzte, wurde hier vor Jahren auch schon mal schriftlich als "dreckige Sinti-Schlutte" bezeichnet.
Von woher kam Familie R. nach Nürtingen?
Die Eltern von Robert R., dem späteren Mann von Maria Theresia R., waren der Schirmflicker und Arbeiter Johann Nepomuk R. (Jahrgang 1872, geboren in Maubach) und Sophie geborene Mai (Jahrgang 1885, geboren in Durlangen). Sie wurden in Schwenningen am Neckar als "Zigeuner" erfasst.(29), genauso ihre Kinder. Der älteste Sohn, Johannes (Jahrgang 1917, geboren in Ulm-Söflingen), wurde danach in das KZ Dachau eingewiesen, der Zweitälteste, Robert (Jahrgang 1920, geboren in Bihlafingen, Landkreis Biberach), der spätere Mann von Maria Theresia R., im Jahr 1938 ebenso. Als sein Geburtsort ist im KZ Dachau "Bilafing" verschriftlicht. Aus den dortigen Unterlagen geht außerdem hervor, dass er aus Dußlingen (Landkreis Tübingen) am 27. Juni 1938 unter der für Sinti und Roma damals durchgängig üblichen Kategorie "Arbeitszwang, Reich" in das KZ Dachau eingeliefert wurde. Als sein Beruf ist dort "Korbmacher" verzeichnet. Er erhielt die "Häftlingsnummer 17725. Nach fünf Monaten wurde er wieder aus dem KZ Dachau entlassen.(30) Von den weiteren Kindern ist bislang nicht bekannt, wie es mit ihnen weiter ging: Katharine (Jahrgang 1924, geboren in Frickenhofen), Emma (Jahrgang 1926, geboren in Lauffen am Kocher), Oskar (Jahrgang 1927, geboren in Michelbach am Wald), Andreas (Jahrgang 1929, geboren in Bihlafingen wie sein älterer Bruder Robert), Franz (Jahrgang 1939, geboren in Schemmerberg).(31) Sie mussten unter menschenunwürdigen Bedingungen mit ihren Eltern bis Mai 1939 in der damaligen Stadt Schwenningen im "Zigeunerlager Schillerhöhe"(32) leben. Jeden Tag mussten die ca. fünfzig dort Internierten zu einer ca. 6 km entfernten Ziegelei zur Zwangsarbeit zu Fuß gehen.(33) Der Weg vom "Zigeuner"-Zwangsarbeitslager zur Ziegelei in der Nähe des Schwenninger Moores führte, wie eines der Kinder von Robert und Maria-Theresia Reinhardt, Michael J.H. Zimmermann und der Verfasser im November 2015 vor Ort nachspürten, durch die gesamte Stadt Schwenningen, morgens um fünf Uhr hinunter und abends um 20 Uhr zurück. Das badische Villingen und das württembergische Schwenningen waren zu jener Zeit zwei getrennte Städte.
Das "Zigeunerlager Schillerhöhe" war auf dem Hankenberg eingerichtet worden. Heute erinnert ein Schild daran (siehe Abbildung links), das privat finanziert wurde.
Wandergewerbescheine wurden fast ausnahmslos nicht mehr erteilt, die Sinti waren ja auch per Erlass "festgeschrieben". Die Erwachsenen mussten in der Ziegelei Vetter-Luduvici in Schwenningen und
in anderen Institutionen Zwangsarbeit leisten. Im "Zigeunerlager" gab es keinerlei sanitären Anlagen, sodass die dort Eingewiesenen die Anwohner um Wasser bitten mussten, was als "Belästigung"
und "Landplage" interpretiert wurde. In Wirklichkeit war für die dort eingewiesenen Sinti das Leben und ihre Behandlung dort
eine gigantische Plage. Laut dem
Polizeipräsidenten August Keller lag allerdings "keine strafbare Handlung der Zigeuner" vor.(34) Bürger wandten sich daraufhin an den Oberbürgermeister Otto Gönnenwein, er solle dafür "sorgen, daß diese Landplage verschwindet".(35) Kinder wurden darauf in Anstalten eingewiesen, teils mit
ihren Eltern zwangsverschleppt.
Robert R. wurde am 26. November 1938 aus dem KZ Dachau entlassen (36), nach der Erinnerung des Sohnes R. geschah dies auf Betreiben der Eltern von Maria Theresia R. (Jahrgang 1920), die in Benningen wohnten. Er und Maria Theresia, geborene R., gründeten danach eine Familie. Maria Theresia R. brachte ihren Sohn Adolf, geboren am 9. April 1939 in Villach, mit (37). Die gemeinsame Tochter Ella (Jahrgang 1942) wurde in Stuttgart geboren. Eberhardt (Jahrgang 1943) erblickte in Horgen das Licht der Welt. Die zwei Kinder von Robert und Maria Theresia R. sowie Adolf R. wurden in "Rassengutachten" als "Mischlinge mit vorwiegend zigeunerischem Blutanteil" klassifiziert.(38) Als die von Adolf Scheuffele geleitete Dienststelle für Zigeunerfragen bei der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart am 28. August 1943 anordnete, dass die Kinder Maria Theresia R.s sterilisiert werden sollten, floh die Familie. Teils versuchte der Vater, sich allein durchzuschlagen. Die Mutter flüchtete sich mit ihren Kindern nach Benningen am Neckar zu ihren Eltern. Dort überlebten sie relativ unbehelligt, hatten jedoch stets Angst vor "KZ" oder "Auschwitz", denn sie hatten sich der Sterilisation widersetzt und waren geflohen.(39)
Nachfahren von Robert R. und Maria Theresia R. leben auch heute in Nürtingen und auch anderenorts im Landkreis.
"Futt isch futt!" - Johann Reinhardts vergeblicher Kampf um Rückübereignung
Johann Reinhardt (Jahrgang 1915) in Nürtingen hingegen war der einzige Überlebende seiner Familie. Er stammte aus Allmendingen, seine Mutter ist dort geboren. Seit Ende der 60er-Jahre mündlich und vehement und schriftlich Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre forderte er von der Gemeinde Allmendingen ein Waldgrundstück zurück, das zwischen Altheim und Allmendingen liegt. Wie er dazu kam, soll an der folgenden Darstellung des zeitlichen Ablaufs erläutert werden (40).
Seit 1827 wohnten Sinti in Allmendingen. Josef Winter war Soldat in den deutschen Kriegen gegen Napoleon und von daher mit dem damaligen Bürgermeister Xaver Sontheimer befreundet gewesen. Dieser hatte seinem früheren Kameraden geholfen, im Jahr 1832 in Allmendingen ein Haus und das Bürgerrecht zu erwerben.
Im Jahr 1913 war schon einmal eine Ausquartierung vorbereitet worden. Die Gemeinde Allmendingen hatte in Unterkirchberg ein Haus gemietet, damit die Sinti-Familie Winter dort einziehe, Doch bei der Ankunft hatten die Sinti dieses Haus demoliert und teils abgebrochen vorgefunden. So war die Umquartierung nicht möglich gewesen. 1916 zog die Familie doch weg, nach Riedlingen und von dort weiter ins Oberland, die Gründe dafür werden im weiter unten zitierten Satz deutlich. Der noch auf gemeindeeigenem Grundstück stehende Wohnwagen von Johann Baptist Winter wurde daraufhin öffentlich versteigert, getrennt in Oberteil und Unterteil, damit kein Wohnwagen mehr daraus würde. Gerhard Scheible schrieb damals: "Unserem Ortsvorsteher ist es während seiner 15jährigen Dienstzeit und Wirksamkeit gelungen, durch fortgesetzte systematische Anwendung aller gesetzlich zulässigen Maßnahmen diese Landplage auf Nimmerwiedersehen aus hiesiger Gemeinde zu entfernen."
Doch Allmendinger Sinti kamen später wieder zurück.
Vor der Nazizeit hatte Johann Reinhardt in Altheim und in Allmendingen gleichaltrige Freunde. Sein Vater Gottlob Reinhardt (Jahrgang 1897), sein Halbbruder Karl Winter (Jahrgang 1902), sein Onkel Anton Reinhardt und er spielten in Allmendingen in der Bahnhofswirtschaft und in Gaststätten der Umgebung wie im Kreuz in Ehingen, in Oberdischingen oder Ulm als Quartett auf. Nach 1933 gingen die Engagements der Lokale zurück. Eine zweite Einnahmequelle war der Pferdehandel, der hauptsächlich von der weiblichen Seite der Familie, der Familie Winter betrieben wurde. Zudem war Gottlob Reinhardt Korbmacher, ein Beruf, den auch Johann und Karl erlernten. Familie Reinhardt wohnte in einem einstöckigen Blockhaus auf einem Grundstück zwischen Altheim und Allmendingen am Hailenberg. Es war um die zehn Meter lang und um die sechs Meter breit. Das Wäldchen, in dem das Blockhaus stand, liegt heute hinter dem Feldkreuz an der Straße von Allmendingen nach Altheim.
Am 16. September 1935 publizierte das Reichsgesetzblatt die Nürnberger Rassengesetze, die Sinti und Roma in der gesetzlichen Verfolgung mit den Juden gleich stellten.
Am 21. Oktober 1935 unterzeichneten in Allmendingen der Gottlob Reinhardt und sein Sohn Karl Winter unter den Augen des Ratsschreibers Pfitzer und dem Ersten Beigeordneten Eduard Kneer einen Kaufvertrag. Er wurde abgestempelt. Mit der Unterschrift verkauften sie je ein Viertel des Grundstücks "Flst. 1385/6", das im Grundbuch als "Ödnis am Hailenberg" eingetragen war und heute in der Allmendinger Bevölkerung als "Zigeunerwäldle" bekannt ist, gegen 700 Reichsmark. Im Kaufvertrag sind die beide Sinti als "wohnsitzlos" bezeichnet. In ihm ist dargelegt, dass die beiden SInti das Grundstück sofort räumen und aus der Markung Allmendingen und Hausen wegziehen müssen. Dies musste bis zum 1. November 1935 erfolgt sein. Der Landjäger überwachte den Abzug. Nur was die Familie in einem Bündel mittragen konnte, blieb im Besitz der Familie.
Damit zog die Gemeinde Allmendingen einen Schlussstrich. Die letzte der Sinti-Familien, die seit langem in Allmendingen beheimatet waren, mussten diese Gemeinde verlassen. Bereits zuvor hatten die anderen Miteigentümer des Grundstücks, ein anderer Zweig der Familie Reinhardt und Familie Spengler, Allmendingen verlassen gehabt. DIe nun heimatlos gemachten letzten Allmendinger Sinti schlugen sich mit Arbeiten bei Straßenbaufirmen durch, zuerst bei Ziegler in Ulm, dann bei Kirchhof in Stuttgart, danach in Horb am Neckar. Sie lebten in diesen Zeiten im Bauwagen. Am 27. Juni 1938 wurde Johann Reinhardt, sein Vater Gottlob und sein Halbbruder Karl Winter über eine Stuttgarter Haftanstalt in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Geben die dortigen Unterlagen bei Gottlob Reinhardt "ohne festen Wohnsitz" an, so steht bei Johann Reinhardt und Karl Winter als Wohnort "Ahnhausen" in "Württemberg", vermutlich ist einer der Orte mit Namen Anhausen gemeint. Bei Johann Reinhardt, der 23 Jahre alt war, ist beim "Zugang" in Dachau der Kommentar "Kripo" vermerkt. Die Kripo war - ähnlich der Gestapo bei Juden - die Behörde, die Sinti und Roma in der NS-Zeit verfolgte, wie man auch am Beispiel des Kindes Anton Köhler sieht, der mit den "Sinti-Kindern aus Mulfingen" von der Kripo überwacht und nach Auschwitz gebracht wurde. Johann Reinhardt erhielt in Dachau die "Haftnummer 17714", die "Haftkategorie" war "Arbeitszwang, Reich", wie es damals bei Sinti und Roma hieß, die den schwarzen Winkel erhielten, der in der Lagerkennzeichnung als "Asozial" kodiert war. SInti und Roma galten im Nationalsozialismus per se als geborene „fremdrassige Asoziale“. Gottlob Reinhardt wurde ungefähr zehn Monate nach seiner Einlieferung im KZ Dachau ermordet, unter "Haftänderung" ist bei ihm "gestorben" vermerkt mit dem Datum 8. März 1939. Johann Reinhardt und Karl Winter wurden am 21. März 1939 in das Konzentrationslager Mauthausen verlegt. Dieses Konzentrationslager Mauthausen war das einzige Konzentrationslager der Lagerstufe III auf dem Gebiet des "Großdeutschen Reiches". Die Lagerstufe III war eine Kategorisierung der "Vernichtung durch Arbeit", die von der SS zum Beispiel in den Granitsteinbrüchen dieses Konzentrationslagers brutal umgesetzt wurde.
So kam auch Karl Winter in einem Steinbruch - wohl von Buchenwald, vielleicht aber auch bei Mauthausen - "ums Leben". Zuvor war er im Mai 1939 nach Dachau "rückgeführt" worden, im September dann nach Buchenwald "überführt". Auch dort gab es einen Steinbruch. Diese Arbeit galt als der härteste "Produktionsbereich" dort und wurde meist von Strafkompanien ausgeführt. Nicht selten wurden dort Lagerinsassen von der SS „auf der Flucht erschossen“.
Der Mutter Johanna und der Schwester Anna war es zunächst zusammen mit deren Kleinkind gelungen, zu Verwandten nach Weil im Schönbuch zu entkommen. Doch bei einer Razzia waren sie später aufgegriffen worden. In Auschwitz-Birkenau wurden sie ermordet. Johann Reinhardt überlebte sieben Jahre Zwangsarbeit in den berüchtigten Steinbrüchen. Als die amerikanische Armee ihn befreite, wog er 39 Kilo. Johann Reinhardt arbeitete wieder als Musiker. Er heiratete und wohnte in Nürtingen. Gesundheitlich war er schwer angeschlagen.
In den 50er-Jahren stellte Johann Reinhardt als damals rassisch Verfolgter einen Antrag auf Entschädigung. In diesem Antrag hatte er auch den enteignungsgleichen, erzwungenen Verkauf des elterlichen Grundstückes bei Allmendingen erwähnt. Ein hierzu dokumentierter so genannter schriftlicher Vorgang, der den Behörden Genüge hätte leisten können, stammt aus dem Jahr 1976. Johann Reinhardt war allerdings nicht bewusst gewesen, dass per Gesetz nur Schäden berücksichtigt wurden, die bis spätestens 1969 gemeldet waren. Damit tat sich für die Gemeinde Allmendingen die Option auf, den Wunsch Johann Reinhardts als ein gelöstes juristisches Problem zu sehen. Für seine sieben Jahre Zwangsarbeit im KZ Mauthausen erhielt Johann Reinhardt vom Staat eine Entschädigung von 400 DM, das sind umgerechnet nicht einmal 200 Euro. Pro Jahr waren dies nicht einmal 60 DM, also etwas mehr als 15 Euro, pro Monat keine 1,30 Euro.
Als die Gemeinde Allmendingen 1991 entschieden hatte, Johann Reinhardt das Grundstück nicht zurückzugeben, bot sie ihm eine einmalige Entschädigung von 10.000 DM an, "in Würdigung des schweren Schicksals der Familie" und "ohne Anerkennung einer Rechtsverpflichtung", Die Gemeinderatsmehrheit hatte sich mit einer Stimme Mehrheit gegen die Rückgabe entschieden. In einem Landesschau-Beitrag sagte Redakteur Günther Henel hierzu: "Die Räte kamen zwar zu dem Schluss, dass damals Unrecht geschehen war. Aber sie haben Angst, wenn man das Grundstück zurückgebe, könnten dort wieder Zigeuner ansiedeln." Johann Reinhardt lehnte es ab, die 10.000 DM anzunehmen. Redakteur Henel wertete dies in der Landesschau so: "Er empfindet das, was die Gemeinde heute mit ihm macht, wieder als Folter, als seelische ... Johann Reinhardt ist ein stolzer Mann, er will das Grundstück".
EIn Allmendinger Bürger sagte dazu im Länderspiegel vom April 1991: "Futt isch futt", das heißt: "Fort ist fort!".
Johann Reinhardt starb 1993. Es wäre angebracht, sein noch bestehendes Grab wie das anderer NS-verfolgter Sinti und Roma als Denkmal dauerhaft zu erhalten. Es befindet sich nicht in Nürtingen, ein Versuch des Erhalts ist in Absprache mit Nachkommen in die Wege geleitet.
Heute noch äffen Allmendinger in ihrer "Fasnet" als "Zigeunergruppe Allmendingen" unter dem Motto "I be a Zigeiner" die Sinti nach, die bei ihnen gelebt hatten, die sie mehrmals vergrämt oder vertrieben hatten, von denen die meisten nicht überlebt hatten. Weit mehr noch aber sind es Klischees in ihren Köpfen, die sie fröhlich nachäffen und auffällig transportieren und multiplizieren.
Egon Winter, ein mit Johann Reinhardt familiär verbundener Sinto aus Reutlingen, dessen Mutter in Allmendingen geboren wurde, stellte bei einem Pressebesuch in der Nürtinger Wohnung von Johann Reinhardt die rhetorische Frage, ob sich irgendwo in Deutschland wohl eine Fasnetgruppe "Die Juden" halten würde, die in ähnlicher Weise vorginge.
Seine Antwort: "Ganz sicher: Nein!"
Doch Allmendingen ist hierbei nicht allein. Bei der Fasnet 2005 war ein Umzugswagen im achtzig Kilometer entfernten Berg (Schussental) mit der Aufschrift "Zick Zack Zigeunerpack" versehen. Die Staatsanwaltschaft Ravensburg, die aufgrund einer Anzeige hierbei ermittelt hatte, stellte das Verfahren ohne Auflagen ein. Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart und danach das Oberlandesgericht Stuttgart wiesen eine Beschwerde des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma dagegen ab (41). Analog zu Egon Winter kann man fragen, wie die Staatsanwaltschaft bei einer Aufschrift "Zick Zack Judenpack" gehandelt hätte? Ebenso kann man Gedankenspiele anstellen, wie die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart und danach das Oberlandesgericht Stuttgart aufgrund einer Beschwerde des Zentralrats der Juden in Deutschland beschieden hätten... Wie oben ausgeführt waren im Jahr 1935 "Zigeuner" in der gesetzlichen Verfolgung den Juden gleichgestellt worden... Aufgrund der Erfahrungen aus dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat sind Grundrechte im Grundgesetz verankert. Gilt der Gleichheitsgrundsatz? Respicit ius aequitatem?
Diese Frage muss man sich leider oft stellen, wenn es um Sinti und Roma geht...
Teilweises "Leben im Verborgenen"
Egon Winter sagte bei dem Pressegespräch im Jahr 1991 in Nürtingen, ihm sei es wichtig, nicht auf den ersten Blick als Sinto erkannt zu werden.
Dennoch bekenne er sich zu seiner Herkunft. Zuerst fühle er sich als Deutscher, und dann als Sinto.
Einige Roma und Sinti haben auch heute ihren Lebensmittelpunkt in Nürtingen und wohnen schon lange oder seit einiger Zeit hier.
Wieder andere sind erst seit kurzer Zeit hier.
Manche Sinti oder Roma sind hier geboren, teils vor Jahrzehnten.
Von deutschen Sinti und Roma, die die aktuelle Zuwanderungsdebatte genau so wenig bzw. genauso viel betrifft wie Deutsche aus der Mehrheitsbevölkerung, die aber ständig damit in einen Topf geworfen werden, kann man so genannte nichtdeutsche Roma unterschieden.
Viele dieser so genannten "nichtdeutschen" Roma kamen schon vor Jahrzehnten nach Deutschland, als Deutschland Arbeiterinnen und Arbeiter suchte, die man mitunter "Gastarbeiter" nannte.
Die meisten gaben und geben sich nicht als Roma zu erkennen, sie hatten sofort Arbeit, sind in der Regel generationsübergreifend wirtschaftlich und gesellschaftlich situiert, "Bürger mit Migrationshintergrund".
Eine Handvoll Roma flüchtete aus unhaltbaren Zuständen hierher, zuvor zumindest struktureller Gewalt und Verelendung ausgesetzt, nirgendwo gewollt, will arbeiten. Manche werden "abgeschoben", "ausgeschafft", wie am 1. Juli 2014 um 5 Uhr Familie B., Container 61, ein Ehepaar mit 4 Kindern. Ein Vermerk im Pass bewirkt dann eine Einreisesperre von zwei bis fünf Jahren, manchmal auch mehr, obwohl hier nur ein gerichtliches Verfahren verloren wurde. Oft ist es in dem Staat, in den abgeschoben wird, mittlerweile bereits ein Vergehen, ausgereist zu sein, um Asylanträge zu stellen. Wieder andere, sowieso schon traumatisiert, leben in Angst vor Abschiebung, wie zum Beispiel von Familie O. berichtet, von der mittlerweile zwei Personen zur so genannten "freiwilligen Ausreise" veranlasst wurden.
Wenn sie aus Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina oder dem Kosovo hierher gekommen sind, werden sie vom Land Baden-Württemberg und dem Regierungspräsidium nicht gleich behandelt wie andere Asylbewerber. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Sie werden vom Land pauschal als die "falschen" Flüchtlinge präsentiert und behandelt, und andere pauschal als die "richtigen" hingestellt, somit vorsortiert und gegeneinander ausgespielt, und wegen ihrer Herkunft anders behandelt. Auch gelten für sie andere Verfahrensweisen und Fristen. Der Gleichheitsgrundsatz ist auch hier außer Kraft gesetzt.
Als Bettler kriminalisiert und ausgegrenzt
Wieder andere sind aus extrem armen Verhältnissen aus einem EU-Land gekommen, die auch Resultat großer Diskriminierung und von ausgeprägtem Rassismus sind - geflüchtet?, Armutsflüchtlinge? Rassismusflüchtlinge? Diskriminierungsflüchtlinge?, leben - für kurze oder längere Zeit oder für immer - hier und erhalten bei Bedürftigkeit keinen Euro Unterstützung, was ihnen kaum geglaubt wird. Wie auch? Wie auch, wenn selbst Mitglieder kirchlicher Hilfsorganisationen das Gegenteil verbreiten, oder sich in dieser Hinsicht missverständlich äußern? Manche betteln, warum, würde man erfahren, hörte man ihnen zu. Wenn sie betteln, wird ihnen oft auch das vorgeworfen, und allen unterstellt - und vorgeworfen, von "Clanchefs" zu bekämpfender "Bettlerbanden"(Nürtinger Zeitung, S. 29, vom 26. September 2014) ausgenützt zu werden, eine "Bettlermafia" zu sein, zu lügen. Dabei ist das meist nicht der Fall, die meisten sind aus eigenem Antrieb und aus begründetem Anlass hier. Dennoch werden sie mehr und mehr schikaniert und noch mehr ausgegrenzt, da medienwirksam verfemt. Fehlverhalten Einzelner wird publik gemacht, das heißt der Presse genannt und von ihr gedruckt, in Zusammenhang mit codierten, allseits bekannten Bemerkungen wie "Angehörige einer ethnischen Minderheit" (Nürtinger Zeitung, S. 29, vom 26. September 2014.
Wenn die aus Verzweiflung und großer Not Kommenden aber - was sehr oft der Fall ist - von Nicht-Roma ausgenützt werden, auf dem legalen wie illegalen "Arbeiterstrich" beispielsweise, wird den Nicht-Roma, die sie ausnützen, das nicht vorgeworfen. Natürlich auch nicht denen, die ausgenützt werden. Dies wäre auch "verkehrte Welt, denn müsste man so etwas nicht den Ausbeutern vorwerfen, und nicht den Geschädigten? Außerdem werden in diesen Fällen die einzelnen Negativ-Beispiele der Ausnützenden nicht pauschal auf deren Ethnie übertragen. Wenn es sich bei den Ausnützenden um Nicht-Roma handelt. Wenn es sich im Roma handelt, auch nur vermeintlich, dann aber schon und gleich auch mit auf die Geschädigten, oft pauschal, oft noch subtil, mitunter offen, auf alle Angehörigen der Minderheit. Oft ein Anlass, sie weiter auszugrenzen und zu diskriminieren. Auch Vertreter christlicher Organisationen schrecken davor nicht zurück und befeuern die Diskriminierung. Manche haben es vollbracht - zum Glück nicht in Nürtingen, dass in ihrem Wirkungsraum "heute (...) die Angehörigen der ethnischen Minderheiten nur noch vereinzelt hier" sind und scheinen dies der Zeitung gegenüber auch noch als stolzen Erfolg zu berichten (Nürtinger Zeitung, S. 29, vom 26. September 2014).
Daneben sollte man aber stellen, dass nicht wenige Vertreter und Mitarbeiter dieser und anderer Organisationen (Tagestreff Nürtingen, Nürtinger
Flüchtlingsinitiativen, etc.) und von Kirchen in Nürtingen das Gegenteil machen und eben nicht ausgrenzen und in Medienberichten verfemen.
Ebenso wird von Initiativen wie Trott-war deren wichtige, unvoreingenommene und wohlwollende Hilfe auch Roma zuteil, die sich dort engagieren. Daneben sollte man auch stellen, dass in der
Nürtinger Zeitung in den letzten Jahren auch andere Berichte veröffentlicht wurden, die zumindest durch Nennung von Fakten auf Verständnis zielen, allerdings bislang kaum die Situation bettelnder
Roma positiv betreffend. Ein Problem hierbei mag sein, dass auch hier wegen des massiven Antiziganismus kaum Roma bereit sind, sich hier als Gegenbeispiel
öffentlich zu machen, manche wären es aber, trotz Begebenheiten, hier als "dreckige Sinti-Schlutte", "stinkender Zigeuner", "dreckiger Zigeuner" oder "Mafia"
bezeichnet zu werden, was auch Beistehenden passiert. Dennoch: Das mediale Trommelfeuer ist wirkmächtiger noch, das aus Mantelteilen der Presse, über das Fernsehen und das Internet den
Antiziganismus weiter anheizt. Das Hauptproblem sind hierbei die immer gleichen, stetig angewandten, üblen Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation, die man sich Juden gegenüber -
zum Glück - nie "trauen" würde, Roma gegenüber aber genauso unangebracht sind, auch und insbesondere, da sie in breiten Schichten für gut befunden werden und meinungsbestätigend sind. Ist vieles
somit nur Tünche? Worüber?
Hetze, Diskriminierung oder Meinung? Nur der NPD?
Oben: Wahlplakate und Gegenplakate in Nürtingen im Mai 2014, Fotos: Manuel Werner
Arbeitende Steuerzahler
Die weit überwiegende Mehrheit der Sinti und Roma in Nürtingen - wie bei der Mehrheitsbevölkerung auch - arbeitet und zahlt wie alle Steuern, komisch, doch anscheinend nötig, das betonen zu müssen.
Sie sind für die Mehrheitsgesellschaft allerdings in der Regel nicht erkennbar.
"Das war und ist immer ein Hemmschuh"
Ein paar wenige "outen" sich, die meisten nicht.
Die Wiener Lovarica Ceija Stojka (Jahrgang 1933) nannte dies: "Wir leben im Verborgenen".
Der Sinto R. Reinhardt, der lange in Nürtingen lebte, meint dazu: "Wir wissen das, wir wissen, wer wir sind. Wir machen das nicht publik, nur ganz bestimmten Menschen, denn das war und ist immer ein Hemmschuh".(40)
Kein Wunder, wenn man zum Beispiel das Foto unten betrachtet, denn das Wort "Zigeuner" wird hier als Schimpfwort verwendet.
Text: Manuel Werner, Stand: 27. September 2014, aktualisiert 8. Januar 2015 und am 24. Mai 2019, alle Rechte vorbehalten!
Für Auskünfte danke ich:
Zitiervorschlag. Manuel Werner (2013): Sinti und Roma in Nürtingen vor, während, und nach der NS-Zeit, in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 8. Januar 2014, abgerufen am: XY.YX.20XY.
Literaturtipps:
Fußnote:
*in behördlichen Unterlagen aus den 40er-Jahren ist als ihr Geburtsort Ravensburg angegeben, ihr Sohn R. Reinhardt nennt als richtigen Geburtsort Stuttgart. Man darf hierbei nicht vergessen, dass Maria Theresia Reinhardt mit ihren Kindern 1943 "untertauchte", als diese sterilisiert werden sollten.,
Quellen:
Manuel Werner (2013): In Nürtingen geboren – in Auschwitz ermordet: Anton Köhler, in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 4. November 2013, abgerufen am: 4. November 2013.
Peter Reinhardt, Manuel Werner (2013): Die Geschichte vom "Menschenglauben": Anton Reinhardt als Zwangsarbeiter in Nürtingen, in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 4. November 2013, abgerufen am 4. November 2013.
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