Zwangsarbeiter in Nürtingen

"Wenn's Säu wäret, na könnt' ma's wenigstens schlachta!"

von Manuel Werner, Nürtingen

Erinnerung an die Nürtinger "Euthanasie"-Opfer, gestaltet von Schülerinnen des Max-Planck-Gymnasiums Nürtingen, Foto: Manuel Werner
Erinnerung an die Nürtinger Zwangsarbeiter, gestaltet von Schülerinnen des Max-Planck-Gymnasiums Nürtingen, Foto: Manuel Werner
Alexej von Jawlensky: Mystischer Kopf, Galka. 1917, gemeinfrei
Alexej von Jawlensky: Mystischer Kopf, Galka. 1917, gemeinfrei/public domain

17 Lager allein in Nürtingen für 21 Betriebe

 

In Nürtingen gab es nach derzeitigem Kenntnisstand um die siebzehn Zwangsarbeitslager bzw. Zwangsarbeiterunterkünfte, in denen Männer wie Frauen als Arbeitssklaven verwendet wurden.(1) Unter den größeren Betrieben Nürtingens oder dahin ausgelagerten Betrieben verwendeten zum Beispiel im Jahr 1945 einundzwanzig Betriebe Zwangsarbeiter.(2)

 

Für den Verantwortungsbereich der Kreisleitung Nürtingen und des Landratsamtes Nürtingen ist die Zahl der Lager. Betriebe und Opfer umso größer.

 

Schreckensregiment im Mühlwiesenlager

 

Viele der Sklavenarbeiter waren in Polen, Russland und der Ukraine als "Menschenmaterial" aufgegriffen worden, wie das Beispiel von Genowefa Beck eindrucksvoll belegt. Die "Ostarbeiter" wurden als "Untermenschen" angesehen, sehr schlecht behandelt und beim geringsten Anlass brutal zusammengeschlagen. So herrschte im "Mühlwiesenlager" ein "Schreckensregiment" und die Zustände waren "zum Teil völlig katastrophal".(3) Dies geschah nicht versteckt, wie man für Zwangsarbeiterinnen und Sklavenarbeitern des Mühlwiesenlagers weiß, die dort hauptsächlich bei der Firma Heller "verwendet wurden": "Morgens trieb man sie als Kolonne durch die Stadt zu der Firma und abends wieder zurück. Das Schlurfen ihrer Holzschuhe haben manche Nürtinger noch im Ohr."(4)

 

Zahlen

 

275 Lagerinsassen des Mühlwiesenlagers mussten Zwangsarbeit für die Firma Heller leisten, wenn man die Situation von April 1945 zugrunde legt. Weiter mussten in jener Zeit beispielsweise 62 Zwangsarbeiter dieses Lagers für die Reichsbahn, 28 für die Firma Greiner, 21 für Melchior und 16 für Metabo arbeiten.

 

"Saurussen": brutale Schläge und "Deportationen"

 

Im Nürtinger Mühlwiesenlager bezeichnete der Wachmann Friedrich Trost während des Gedränges beim Essenfassen die "Fremdarbeiter" als "Saurussen" und schlug ihnen mit einem Schlagwerkzeug über die Köpfe.(5) Gerne wurden auch "Farrenschwänze" (Ochsenziemer) verwendet. Auch Mädchen wurden hemmungslos und brutal zusammengeschlagen. Eines erschien bei der Firma Heller einmal nicht zur Arbeit und "wurde so furchtbar geschlagen, 'dass es mehrere Tage auf einem Ohr nicht hörte (...) Das Mädchen konnte nicht mehr sitzen noch liegen.'"(6) Eine 16jährige Zwangsarbeiterin aus Russland zeichnete auf ihrer Werkbank mit Kreide einen Sowjetstern. Sie wurde geschlagen und "deportiert".(7)

 

Sexuelle Ausbeutung

 

Die jungen weiblichen "Ostarbeiter" Nürtingens wurden auch sexuell ausgebeutet.(7) Ein Beispiel: Alfons Hirsch, der Leiter des "Mühlwiesenlagers " der Firma Heller (Jahrgang 1904), drohte ihnen Schläge an oder enthielt ihnen Kleidung, auch Unterwäsche, vor. „Wer dagegen bereit war“, „ihm  - im umfassendsten Sinne - zu Diensten zu sein“, konnte „mit einer Vorzugsbehandlung rechnen“.(8)

 

"Wenn's Säu wäret, na könnt' ma's wenigstens schlachta!"

 

Hede Lempp geborene Hezel (Jahrgang 1925) hat als Jugendliche in Neuffen auf einem Apfelbaum sitzend den Kommentar zweier Männer gehört: "Wenn's Säu wäret, na könnt' ma's wenigstens schlachta!".(9) Diese Äußerung war auf slawische Zwangsarbeiterinnen gemünzt, denen diese zwei Männer begegneten. Schon damals fand sie diese Bemerkung schlimm, denn wie sie wusste, konnten sich die gemeinten jungen Frauen, die Zwangsarbeit verrichteten, nicht richtig waschen oder duschen, die hygienischen Zustände waren für sie katastrophal, sie hatten nur zerlumpte Kleidung zur Verfügung und sie mussten Arbeiten verrichten, bei denen man immer wieder dreckig wurde. "Gemäß der Ideologie der NSDAP wurden diese Arbeits-Sklaven" auch "durch die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu "Untermenschen" gemacht und nährten durch ihr Erscheinungsbild", für das sie nichts konnten, "wieder jene Vorstellungen".(10) 

"Ostarbeiter"-Kennzeichen als Aufnäher für die Kleidung, Urheber: Andreas Jeromin, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
"Ostarbeiter"-Kennzeichen als Aufnäher für die Kleidung, Urheber: Andreas Jeromin, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Der Lagerwachmann Karl Wagner sagte 1946 aus, dass die Wachleute der Meinung gewesen waren, die Russen seien "eine Saubande" gewesen, die "wieder nicht fressen" wollten, als sie verdorbenes Essen bekommen hatten, das "von Würmern wimmelte".(11) Im städtischen Schlachthof wurde Fleisch, das für die "Ostarbeiter "bestimmt war, vom Personal und den Metzgern entwendet und den "Russen ... gekochte Tragesäcke, die für die menschliche Nahrung verboten sind,  vorgeworfen".(12)

 

Außer den "Ostarbeitern"  wurden in Nürtingen französische, belgische, italienische, bulgarische, griechische und holländische Zwangsarbeiter sowie ein deutscher Sinto zu Sklavenarbeit gezwungen. Die Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, Italien und Holland wurden in aller Regel etwas besser behandelt, wurden sie doch von den Nazis als nicht "artfremden Blutes" eingestuft, als nicht "fremdvölkisch" wie die "Ostarbeiter"...

 

"Ostarbeitermerkblatt" von 1942, vergrößerbar, Foto: Thomas Kees, Lizenz:  Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany
"Ostarbeitermerkblatt" von 1942, vergrößerbar, Foto: Thomas Kees, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany

Bei "Arbeitsverweigerung" ins AEL oder KZ

 

Dennoch konnte es auch einem  französischen "Zivilarbeitern" passieren, dass er wie George S. im Jahr 1943 wegen eine Liebschaft mit einer Deutschen (Jahrgang 1925), die im Nürtinger "Lager Linder" ans Licht gekommen und mit einer gestellte Falle bewiesen worden war, in ein "Arrestlager nach Ludwigsburg" (Stalaglager) verbracht wurde und von dort in ein Straflager der SS in Krakau, wobei die deutsche Frau in diesem Fall zu acht Monaten Gefängis verurteilt wurde. Danach wurde auch ihr nach einem Felhltag bei der Arbeit mit zehn Jahren Arbeitslager gedroht.(13) Auch kamen Franzosen wegen Meinungsäußerungen oder "widerwilligen Verhaltens" und lässiger "Abeitsweise" in "Arbeitserziehungslager" (AEL), zum Beispiel in eines nach Oberndorf oder, falls es sich um Frauen handelte, nach Rudersberg, und - wie im Falle von Belgiern - in ein AEL in Neckarhausen und Neckartenzlingen. Wegen "Arbeitsverweigerung" wurden noch am 15. März 1945 Franzosen und Griechen aus Nürtingen in die gefürchteten Konzentrationslager des "Unternehmens Wüste" "deportiert", wie dieses "Projekt" verschleiernd genannt wurde. In Nürtingen wurde das Ziel für die dorthin zwangsverschleppten amtlich "Ölschieferwerke in Balingen und Schömberg" genannt.(14).

Staatsarchiv Sigmaringen, von Immo Opfermann um die sieben “Wüste”-Lager ergänzt. Das “'Wüste'-Werk Bisingen" von U.Hentsch für die Internetseite des Vereins “Gedenkstätten KZ Bisingen” hervor gehoben
Grafik: Staatsarchiv Sigmaringen, von Immo Opfermann um die sieben “Wüste”-Lager ergänzt. Das “'Wüste'-Werk Bisingen" von U.Hentsch für die Internetseite des Vereins “Gedenkstätten KZ Bisingen” hervor gehoben.

In diesen sieben Außenstationen des KZ Natzweiler-Struthof und zehn Ölgewinnungswerken entlang des Fußes der Zollernalb und der Balinger Alb zwischen Dußlingen und Rottweil herrschten tödliche Bedingungen.

 

Aus Ölschiefer hatte die SS unter allen Umständen ohne Rücksicht auf Menschenleben Öl als Treibstoff für die "Wehrmacht" gewinnen wollen.

 

Schon ungefähr fünf Wochen nach der "Deportation" der als "Arbeitsverweigerer" eingestuften Arbeitssklaven, am 22. April 1945, besetzten die Amerikaner Nürtingen, was absehbar gewesen war.

Die so genannten "Russengräber" auf dem Alten Friedhof am Neckar im Jahr 2013, Foto: Manuel Werner, alle Rechte vorbehalten!
Die so genannten "Russengräber" auf dem Alten Friedhof am Neckar im Jahr 2013, Foto: M. Werner

Verschleierung der Todeszahl

 

Schwer kranke "Ostarbeiter" wurden aus Nürtingen "in der Regel frühzeitig ... abgeschoben..., sodass der Tod zumeist andernorts erfolgte"(15). So ist es zu erklären, dass im Nürtinger Leichenschauregister "weniger als zehn" so genannte "Ostarbeiter" verzeichnet sind.

 

 

 

Zwangsarbeitergräber auf dem Alten Friedhof am Neckar (so genannte "Russengräber")

 

Dennoch gibt es auf dem Alten Friedhof am Neckar vom Nürtinger Volksmund so genannte "Russengräber". Dieser Sachverhalt war zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen nur wenigen Nürtingern bekannt. Auch von Ortskundigen waren sie kaum aufzufinden und zu identifizieren, denn sie trigen keinerlei Bezeichnung und wirkten wie eine Randbepflanzung des Friedhofs mit Koniferen. Die meisten dieser Bestattungen erfolgten zur Zeit der NS-Diktatur. Die Namen von fünf der an dieser Stelle des Aten Friedhofs am Neckar Bestatteten sind bekannt (16):

 

  • Fedor Karpenko, geboren am 25. März 1925, "gestorben" am 22. April 1943 (Feld XIII, Reihe 1)
  • Elena Nowrozkaja, geboren am 27. August 1926, "gestorben" am 8. Februar 1944 (Feld XIII, Reihe 2)
  • Pawlo Nesterez, geboren am 20. Februar 1923, "gestorben" am 31. März 1944 (Feld XIII, Reihe 3)
  • Dimitrios Pandelidis, geboren am 15. Oktober 1914 wohl in Fara (Insel Lesbos), "gestorben" am 1. August 1944 (Feld XIII, Reihe 4)
  • Irina Dolgopjata, geboren am 23. April 1923, "gestorben" am 15. Juni 1945 (Feld XIII, Reihe 5)
  • Alexander Dub, 24. Juni 1922 in Schitomirskaja, Russland, "gestorben" am 21. April 1945 in Nürtingen

Was sagt uns deren Lebensalter? Weitere Zwangsarbeiter und ein Kind einer französischen "Fremdarbeiterin" sind an anderen Stellen begraben. Deren Gräber sind bereits aufgelassen.

 

Nachtrag:

Seit September 2014 gibt es Tafeln mit den Namen und Daten der hier beerdigten Zwangsarbeiter auf den betreffenden Gräbern des Alten Friedhofs am Neckar. Anlass war unsere und vor allem auch die Initiative und das große Engagement des Schwäbischen Heimatbundes, vor allem vorangebracht durch Sigrid Emmert. 

 

Eine Sonderrolle unter den "ausländischen Zwangsarbeitern" nahmen aus Lettland stammende Arbeiter ein, von denen allerdings vergleichsweise wenige zu verzeichnen sind. Einige hatten sich freiwillig gemeldet. Diese wenigen Freiwilligen prägten das Bild der Letten in der Öffentlichkeit als "Kollaborateure".

Text: Manuel Werner, Nürtingen, Stand: 20. September.2014, alle Rechte vorbehalten!

Zitiervorschlag. Manuel Werner (2013): Zwangsarbeiter in Nürtingen. "Wenn's Säu wäret, na könnt' ma's wenigstens schlachta!", in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 13 Novamber 2013, abgerufen am: XY.YX.20XY.

Literaturtipps:

 

  • Steffen Seischab (2011): "Ausländische Zwangsarbeiter", in: Reinhard Tietzen (Hrsg.): Nürtingen 1918-1950. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 2011, S. 300-318.
  • Petra Garski-Hoffmann: "Die Geschichte der Alten Seegrasspinnerei : ein Fabrikgelände - drei 'Etablissements' von außergewöhnlicher Bedeutung." Nürtingen/Frickenhausen (Sindlinger-Burchartz) 2009.

Dank 

an Stadtarchivar Reinhard Tietzen. Er hat sehr geholfen, die Namen der auf dem Alten Friedhof am Neckar bestatteten Zwangsarbeiter ausfindig zu machen.

Fußnoten

 

(1) Steffen Seischab (2011): "Ausländische Zwangsarbeiter" (hinfort SEISCHAB 2011), in: Reinhard Tietzen (Hrsg.): Nürtingen 1918-1950. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 2011, S. 301.

(2) ebda, S. 317.

(3) ebda, S. 309.

(4) Zitiert nach: Manuel Werner (2005a): Heller - Gebrüder mit unterschiedlichen Verdiensten, vom 29.0.2005, in: Nürtinger STATTzeitung, abgerufen am 26.04.2013, Link hierzu: hier klicken!

(5) So die Aussage von Ludwig Schäfer am 10.01.1947, vgl. SEISCHAB 2011, S. 311 und Anm. 74.

(6) Zitiert nach SEISCHAB 2011, S. 310.

(7) Vgl. ebda, S. 314 und Anm.95.

(7) Vgl. WERNER 2005a und SEISCHAB 2011, S. 309f. und 311f.

(8) Zitiert nach SEISCHAB 2011, S. 309. Vgl. ebda., S. 309f.

(9) Zitiert in und nach: Manuel Werner (2005b): Cannstatt - Neuffen - New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Nürtingen/Frickenhausen 2005, S. 190 sowie Gespräch mit Hede Lempp am 30. April 2013.

(10) Zitiert nach ebda, S. 190.

(11) Zitiert nach SEISCHAB 2011, Anm. 104.

(12) Zitiert nach ebda, Anm. 51, das Zitat stammt offensichtlich ursprünglich von einer Erklärung des Heller-Betriebsrats vom 04.06.1947.

(13 Vgl. Petra Garski-Hoffmann: Die Geschichte der Alten Seegrasspinnerei : ein Fabrikgelände - drei "Etablissements" von außergewöhnlicher Bedeutung. Nürtingen/Frickenhausen (Sindlinger-Burchartz) 2009, S, 89f. und SEISCHAB 2011, S. 315.

(14) Vgl. WERNER 2005a und SEISCHAB 2011, S. 314 und Anm. 92 und 114. 

(15) Zitiert nach SEISCHAB 2011, S. 311.

(16) Vgl. Gräberverzeichnis Alter Friedhof am Neckar und Mieterkarte "Lager Mühlwiesen", beide StANT, Die Schreibweisen der Namen differieren in den städtischen Unterlagen mitunter.

 

 

Abbildungslizenzen:

Das Gemälde von Alexej von Jawlensky ist gemeinfrei / public domain.

"Ostarbeiter"-Kennzeichen als Aufnäher für die Kleidung, Urheber: Andreas Jeromin, Lizenz: Wikimedia Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported 

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