Antisemitismus und Antijudaismus

von Michaela Saliari

Vor der Zeit des Nationalsozialismus

 

20er-Jahre

 

"Das Schneiden mit der Sichel ist keine leichte Arbiet. Besonders bekommt man stark "s Buckelwah", "dr Jud ist eim naufgsesse". Deswegen wird die Frucht heute mehr mit der Sense gemäht..."

 

Quelle: Jakob Kocher: Geschichte der Stadt Nürtingen, Band 3, Stuttgart 1928, S. 263

 

Unter dem Eindruck des Münchener Hitlerputsches im Jahr 1923 wurde der Viehhändler Ferdinand Herrmann auf der Straße  angepöbelt und  tätlich angegriffen, er bekam einen Tritt in das Hinterteil. Wohl nicht zufällig war das Opfer ein wirtschaflich nicht sehr erfolgreicher Nürtinger Jude, der auch im sozialen Ansehen vergleichsweise niedrig stand. 

 

Quelle: Manuel Werner: Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 1998, S. 31

 

In einem kleinen Schulheft von Werner Gross, der später als KPD-Mitgleid viele Jahre in dem Konzentrationslagern verbrachte, finden sich aus dem Jahr 1927 auf einer Seite unter der Überschrift "Über Judentum" Sätze wie:

"Richard Wagner sagte einmal: 'Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit'" oder "Der Jude ist Regisseur im Welttheater".

 

Nebenbei sei angemerkt, dass Werner Gross ein Jahr später diese Seite mit einem roten Strich dick durchstrich und darunter schrieb: "Der Jude ist auch Mensch!".

 

Quellen: Manuel Werner: Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 1998, S. 31, u. 135, Anm. 82, nach: Joachim Schlör: "In einer Nazi-Welt läßt sich nicht leben" - Werner Gross - Lebensgeschichte eines Antifaschisten. Tübingen (Tübinger Vereinig. f. Volkskde) 1991, S. 36ff. und S. 38.

 

30er-Jahre

 

Als kurz vor der Reichstagswahl vom 14. September 1930 sich in Nürtingen die Ortsgruppe der NSDAP erstmals deutlich bemerkbar machte, stand unter der Ankündigung einer Veranstaltung im "Gambrinus" mit dem damaligen Füherer der württembergischen SA Dietrich von Jagow: "Israeliten haben keine Zutritt".

 

Quelle: Manuel Werner: Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 1998, S. 32.

 

In der Zeit des Nationalsozialismus

 

Aus der Menge der nun auch vom NS-Unrechtsstaat kommenden Hetze seien hier nur einige Beispiele genannt.

 

Im Jahr 1935 finden sich im "gleichgeschalteten" Nürtinger Tagblatt Parolen und Überschriften wie "Weltfeind Juda wird entlarvt". "Der Jude als Völkerparasit",  "Wider Entartung und Rassenschande".

 

An Ladentüren und Schaufenstern in Nürtingen brachten Geschäftsleute Schilder mit den Aufschriften "Juden haben keinen Zutritt" oder "Juden sind unerwünscht" an.

 

Quelle: Manuel Werner: Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 1998, S. 34f.

 

Rolf Weil schrieb in seiner Autobiographie über Nürtingen und seine Nürtinger Großeltern: "Als jedoch die Nazis an die Macht kamen, hatte ich den Eindruck, daß das Hakenkreuz in Nürtingen häufig eine größere und frühere Rolle spielte als in Stuttgart. Tatsächlich erzählte man mir, daß manche Leute, die vor kurzem noch den Hut gezogen hatten, wenn sie meinen Großvater sahen, ihn jetzt nicht mehr grüßten - was für den alten Herrn, der damals in den Siebzigern war, sehr schmerzhaft gewesen sein muss."
 
Quelle: Manuel Werner: Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 1998, S. 128.
 
Das Nürtinger Tagblatt stellte "den Juden ... als Bazillus mit Menschengesicht" und "deshalb" als "den gefährlichsten", als "Völkerparasit", dar, und sprach "von der jüdischen Verbrecherrasse". 1938 schrieb es: "Nicht zu bedauern aber ist, daß die Juden aus unserem Volke ausgetilgt werden. Wir müssen diese Brutalität aufbringen, denn es geht um das sein oder Nichtsein unseres Volkes und mit dem sogenannten 'Taktgefühl der feinen Leute' kann man diesen jüdischen Parasiten nicht beikommen".
 
Quelle: Manuel Werner: Cannstatt - Neuffen - New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Mit den Lebenserinnerungen von Walter Marx, Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 1998, S. 140.

Nach dem Nationalsozialismus

 

1972: 

 

 Der „Deutsche Kreis von 1972“ hat seinen Sitz in Nürtingen. In der Druckschrift „Rechtsextremismus“ des baden-württembergischen Landesamts für Verfassungsschutz ist er als eine Vereinigung rechtsextremistischer Bestrebungen aufgeführt. 

 

Quelle:  Landesamt für Verfassungsschutz (Herausgeber): Rechtsextremismus. Stuttgart 2006, S. 37

 

 

1984:

 

verlegt das Deutsche Seminar e.V seinen Sitz nach Nürtingen. Es bildet eine Plattform für überwiegend rechtsextreme Referenten. Vorsitzender ist der Nürtinger Kommunalpolitiker Dr. Walter Staffa, von 1990 bis 1996 Vorsitzender des „Witikobundes“ und Autor in den geschichtsrevisionistischen Vierteljahresheften „Deutschland in Geschichte und Gegenwart“ des rechtsextremen Grabert-Verlages.

 

Quelle: Wikipedia-Artikel über das "Deutsche Seminar" und die "Deutsche Studiengemeinschaft", abgerufen am 14.10.2013.

 

1985

 

publiziert ein Nürtinger Jungpolitiker "über die Arroganz Israels, unseren demokratischen Rechtsstaat für die Judenmorde im Dritten Reich verantwortlich zu machen ... Aufhören mit der Komplexerei, sage ich! ... Wie lange wollen wir noch schuldig sein oder uns für schuldig bekennen?"

 

Quelle: Horst Diening: "Kommentar zum Kommentar. Cicero, besinn dich!" in: Nürtinger Zeitung vom 31.1.1986

 

1997

 

gründet Dr. Walter Staffa mit den Rechtsextremen Karl Bassler und Rolf Kosiek im Nürtinger Haus der Heimat einen Aktionskreis des Witikobundes.

 

Quelle: Wikipedia-Artikel über  "Walter Staffa", abgerufen am 14.10.2013.

 

1999:

 

Der Nürtinger Kommunalpolitiker Walter Staffa, früher "Fraktionsvorsitzender der UFB (Unabhängige Freie Bürger), insgesamt 37 Jahre im Stadtrat und 30 Jahre im Kreisparlament", spricht in einem Interview mit Rolf-Josef Eibicht, einem Publizisten und Autor aus dem rechtsextremen Spektrum, der wie Dr. Staffa im "Witikobund" war, von intellektuell raffinierten Fremdeinflüssen bei deutschen politischen Handlungsträgern "Nach den furchtbaren Katastrophen des Zweiten Weltkriegs in diesem Jahrhundert mit der nach Kriegsende noch gesteigerten propagandistischen Beieinflussung unseres Volkes wurden die eigenen Abwehrkräfte weitgehend gelähmt. Die deutschen politischen Verantwortungsträger brachten nicht die Kraft auf, die eigenen Interessen gegen die verschiedenen Zwänge und intellektuell raffinierten Fremdeinflüsse durchzusetzen."

Der Bundesverfassungsschutzbericht bemerkte 2006: "Die angebliche Steuerung deutscher Politik durch israelische und US-amerikanische Kreise ist ... ein häufig anzutreffendes Element des Antisemitismus".

 

Im selben Interview sagt Walter Staffa: "Tatsächlich aber war den Sudetendeutschen in der alten Tschechoslowakei unter diesem Regime eine Rolle aufgezwungen, wie bedauerlicherweise Juden und anderen Völkern und Volksgruppen in der Welt."

 

Quelle: Interview von Rolf-Josef Eibicht mit Dr. Walter Staffa:

Heimatpolitik in Vergangenheit und Zukunft, in: http://www.mies-pilsen.de/interview.htm, abgerufen am 14.10.2013, Bundesverfassungsschutzberich 2006.

 

2000:

 

Im Jahr 2000 veröffentlicht Walter Staffa, Nürtingen, einen Beitrag in dem Buch „Der Vertreibungsholocaust“, das im rechtsextremen Verlag "Deutsche Stimme" erscheint. Der Verlag ist ein Organ der NPD. Als „Vertreibungsholocaust“ bezeichnen Rechtsextremisten im deutschsprachigen Raum die Flucht und Vertreibungen von Deutschen aus ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa zwischen 1944 und 1949, Der Titel allein ist somit gemäß Bundesverfassungsschutz als gesteigerter „sekundärer Antisemitismus“ zu werten. Auch in dieser wie in anderen Publikationen setzt Walter Staffa Gräueltaten an Sudetendeutschen den Verbrechen der Nationalsozialisten gleich oder in ihrer Schwere darüber.

 

Auch ein Schreiber aus Nürtingen, 1954 geboren und nach eigenem Bekunden sensibel für die Gräuel des Dritten Reiches, findet (12.11.2000) die öffentlichen Reden des Zentralrats-Präsidenten problematisch. Das Motiv, vermutet er, sei dessen Angst, dass die deutsche Bevölkerung keinen Anlass mehr gibt, öffentlich den Zeigefinger zu erheben, um zu sagen: böses, böses deutsches Volk“. Damit beschwöre er ‚einen regelrechten neuen Hass herauf.‘ Der gute Rat lautet: ‚Wenn sie etwas weniger den bösen Juden spielen würden, wäre alles halb so schlimm.‘“

 

Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus? München (Beck) 2004,  S. 31

 

Auf den selben Vorgang bezieht sich ein Artikel, der vier Jahre später erschien (siehe unter 2004).

 

2001

 

haGalil onLine schreibt in einem Beitrag über den Nürtinger Dr. Walter Staffa: "Die Zielsetzungen des Witikobundes sind stramm revanchistisch. Das ehemalige Sudetenland soll 'heim ins Reich' geholt werden, beziehungsweise die Wiederherstellung der deutschen Grenzen von 1939.Dazu der ehemalige Vorsitzende Walter Staffa: 'Das grausame Geschehen einer Vertreibung kann eines Tages die Vertreiber selbst treffen.' Gleichsam wird die  Vernichtung der europäischen Juden relativiert, indem die 'Vertreibung' der Sudetendeutschen zu 'einem der einmalig furchtbaren und auf keinen Fall wie auch immer hinzunehmenden Grossverbrechen dieses Jahrhunderts' erklärt wird.

 

Quelle: Der Witikobund. Späte Erkenntnis, is / hagalil.com 16-12-01, in: http://www.klick-nach-rechts.de/gegen-rechts/2001/04/witiko02.htm, abgerufen a, 14.10.2013

 

2004

 

"Es gibt auch (vermeintlich) wohlmeinende Schreiber. Zum Beispiel einen Mann aus Nürtingen, der [dem damaligen Vorsitzenden des  Zentralrat der Juden in Deutschland, Paul Spiegel] den Rat gab: Wenn Sie etwas weniger den bösen Juden spielen würden, wäre alles halb so schlimm...

Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, benutzt die Zuschriften als originelle Quelle. Er will herausfinden, welche Art von Judenfeindschaft 'die' Deutschen (wenn man das pauschal sagen kann) bewegt. Einfache Resultate gibt es nicht."

 

Quelle: merkur-online.de: Der alltägliche Antisemitismus, 29. Oktober 2004, Link 

 

2010

 

der 1972 in Nürtingen gegründete “Verein zur Pflege nationaler Politik e.V.” ,Grüntenweg 14, Nürtingen, überweist der NPD 150.225,84 Euro. "Dem Vorstand gehörten u. a. maßgebliche Rechtsextremisten bzw. NPD-Mitglieder bzw. -Funktionäre an."

 

Quellen: SPIEGEL ONLINE-Artikel vom 23. Mai 2009, Berliner Zeitung vom (20. Oktober 2010, Deutscher Bundestag Drucksache 17/3782, www.bundestag.de: Aktuelle Meldungen (hib) vom November 2010: "Auflösung des "Vereins zur Pflege nationaler Politik" am 25. Oktober eingetragen"  (http://www.bundestag.de/presse/hib/2010_11/2010_383/06.html)