Ihr Bruder konnte sie nicht mehr versorgen – Anna Maria F.

von Anne Schaude, Nürtingen

Zu dem teils gleichnamigen jüdischen Nürtinger "NS-Opfer" siehe: Anna Frank

Erinnerung an die Nürtinger "Euthanasie"-Opfer, gestaltet von Schülerinnen des Max-Planck-Gymnasiums Nürtingen, Foto: Manuel Werner
Erinnerung an die Nürtinger "Euthanasie"-Opfer, gestaltet von Schülerinnen des Max-Planck-Gymnasiums Nürtingen, Foto: Manuel Werner

Im Frühjahr 1884

wurde Anna Maria F. in Nürtingen geboren. Ihre Eltern waren Georg Gottlieb, ein Taglöhner, und Christina F., die beide in den Jugendjahren der Tochter starben. Anna wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach Diagnose der Ärzte war sie von Geburt an „schwachsinnig“. Sie konnte in der Schule „mit den Altersgenossen nie fortkommen, sondern blieb in den unteren Klassen sitzen, stets als die Letzte“.

 

Im März 1907

hatte sich Anna’s Allgemeinzustand so sehr verschlechtert, dass ihr Bruder Karl, bei dem sie lebte, sie nicht mehr zu Hause versorgen konnte. Aus diesem Grund wurde eine „Unterbringung in einer Anstalt notwendig“. Da Anna ihren Unterstützungswohnsitz in Nürtingen hatte, „vollständig vermögenslos und keine Alimentationspflichtige Angehörige“ besaß, entschied die hiesige Armendeputation, „Anna F. in die eigene Fürsorge zu übernehmen und für ihre Unterbringung in einer geeigneten Anstalt zu sorgen“.

 

Im Sommer 1907

wurde Anna F. im Zufluchtshaus Oberensingen untergebracht. Für ihr Kostgeld war die Nürtinger Ortsarmenpflege zuständig.

 

Im Mai 1909

teilte der „Vorstand des Zufluchtshauses Oberensingen“ der Ortsarmenpflege mit, „dass das Kostgeld für die Pfleglinge von 150 M. (Mark) auf 180 M. erhöht werden musste“. 

 

Am 24. August 1917

wurde Anna F. in der Landesfürsorgeanstalt Reutlingen-Rappertshofen aufgenommen.

 

Am 27. 09. 1940

wurde sie von Rappertshofen aus nach Grafeneck deportiert und dort ermordet.  Sie war 56 Jahre alt geworden.

 
Quellen:
  • R. Tietzen (Hrsg.), Nürtingen 1918 bis 1950, Nürtingen/ Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz, 2011, S. 286
  • Kocher III: Tafel im hinteren Umschlag
  • StANT, NB Protokoll der Armendeputation vom 25. 03. 1907, §176
  • StANT, NB Protokoll der Armendeputation vom 24. 05. 1909 § 312
  • Bundesarchiv Berlin, Patientenakte R 179/ 1288

 

Lt. einer Statistik wurden im September 1940 in Grafeneck 1.228 Menschen vergast, im gesamten Jahr 1940 waren es etwa 10.000 geistig- und körperlich behinderte Menschen, die auf grausame Art getötet wurden. (Quelle: Dokumente zur Euthanasie, Hrgb. Klee, Ernst, ISBN 978-3-596-24327-3, S. 232f)

Ermordet in Grafeneck, Detail eines Stolpersteins, Foto: User:Enslin, Lizenz:  Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
Detail eines Stolpersteins, Foto: User:Enslin, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Von der Landesfürsorgeanstalt Reutlingen-Rappertshofen nach Grafeneck deportiert

Die Landesfürsorgeanstalt Rappertshofen, die über 350 Plätze verfügte, beherbergte Ende Dezember 1939 in ihren beiden „Schwachsinnigen-Abteilungen“ 65 Frauen und 61 Männer. Von diesen 126 Menschen wurden 73 Männer und Frauen in Sammeltransporten nach Grafeneck „verlegt“ und dort getötet. Der erste Abtransport aus Rappertshofen fand am 27. September 1940 mit 62 Patienten statt, der zweite am 19. November 1940 mit 11 Patienten. Ende des Jahres 1940 belief sich die Zahl der noch in den beiden sogenannten „geschlossenen Abteilungen“ sich befindenden Kranken auf nur noch 37. Die verbliebenen Heimbewohner wurden entweder auf andere Stationen verteilt oder in die staatliche Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten verlegt. Über das Schicksal der nach Zwiefalten verlegten Kranken ist nichts Näheres bekannt. In den Jahren zwischen 1941 bis 1945 betrug die Sterblichkeitsrate dort aber zwischen 17 und 45 Prozent.

 

Dr. med. Oskar Beutter, der Leiter des Reutlinger Gesundheitsamtes und Hausarzt in Rappertshofen, gehörte zu den wenigen in Württemberg, der über rein wirtschaftliche Erwägungen, die zum Schutz der eigenen Kranken angestellt wurden, hinaus ging. Vor dem zweiten Transport wies er in einem Schreiben an Obermedizinalrat Dr. Mauthe im Stuttgarter Innenministerium  auf die Stimmungslage der Bewohner hin: „ ... möchte ich ... auf den Gesichtspunkt der Menschlichkeit hinweisen. Die ersten 62 Verlegten kannten ihr Schicksal nicht, ... sie hatten ... keine Todesangst. Die aber haben nun viele der Dagebliebenen. Sie werden für ein hartes Schicksal also auch noch unmenschlich gestraft, obwohl die meisten von ihnen der Anstalt und damit der Volksgemeinschaft, seit sie in der Anstalt sind, mehr Last genommen als verursacht haben [Anm. AS: durch ihre Arbeit]. Könnte denn diese ... Bewährung im Rahmen der Anstalt zu ihren Gunsten bewertet werden?

 

Beim zweiten Transport im November 1940 sollten trotzdem noch 20 Kranke abgeholt werden. Ein Teil dieser Kranken war unauffindbar. Möglicherweise wurden sie von den Mitarbeitern versteckt oder sie hielten sich versteckt, weil sie etwas von ihrem Schicksal ahnten, wie es auch aus anderen Heilanstalten überliefert ist. Mit „nur“ elf Kranken führte auch dieser Transport seine Opfer direkt in die Gaskammer von Grafeneck.

 

Quelle:

 

  • Thomas Stöckle, Die Landesfürsorgeanstalt Reutlingen-Rappertshofen und die „Euthanasie“-Aktion T4, Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern, Reutlingen, 2000, Seite 26ff
 

Das Zufluchtshaus in Oberensingen

Das frühere Zufluchtshaus in Oberensingen (heute: Tagesklinik im Schlössle). 1914 konnte ein großzügiger Neubau eingeweiht werden. Links das Kutscherhäuschen. - Foto: Privatarchiv Werner Föhl, Oberens
Das frühere Zufluchtshaus in Oberensingen (heute: Tagesklinik im Schlössle). 1914 konnte ein großzügiger Neubau eingeweiht werden. Links das Kutscherhäuschen. - Foto: Privatarchiv Werner Föhl, Oberensingen, mit freundl. Genehmigung.

Das Zufluchtshaus an der Stuttgarter Straße in Oberensingen, das spätere Frederikenheim, war im Jahr 1903 (bis 1987 geführt) eröffnet worden. Angelehnt an die Ziele und Methoden der sogenannten Rettungsbewegung hatten sich christlich handelnde Bürger im Jahr 1871 in Stuttgart zusammengefunden und einen Verein gegründet. Dieser hatte das Ziel, „sittlich gefallenen Mädchen eine andere Startmöglichkeit in das Leben zu ermöglichen“. Die „Rettungsanstalt für ältere Mädchen“ aus Leonberg wollte „denen ein Heim bieten, die sonst nirgends willkommen waren“. Die Idee des Zufluchthauses war, dass sowohl „Personen, die dauernd unfähig sind in der Arbeit des Lebens zu stehen“, als auch solchen, „die nur vorübergehend unfähig sind, in demselben Zuflucht finden“.

Zufluchtshaus bzw. Fürsorgeheim Oberensingen 1932 von Osten, Privatarchiv Werner Föhl. mit freundlicher Genehmigung
Zufluchtshaus bzw. Fürsorgeheim Oberensingen 1932 von Osten, Privatarchiv Werner Föhl. mit freundlicher Genehmigung

Das Haus, ein ehemaliges Schlossgebäude aus dem 16. Jahrhundert, lag in „einem schönen, parkähnlichen Garten“, war von allen Seiten mit einer Mauer eingefriedet und von einem etwa vier Morgen großen Ackerland umgeben. Von 1903 bis 1940 stand die Diakonisse Friederike Stock als Hausmutter dem Zufluchtsheim vor, weitere Diakonissen der Stuttgarter Diakonissenanstalt unterstützten sie in ihrem wichtigen sozialen Dienst. Diese Aufbauarbeit wurde als gottgefällige Arbeit im Auftrag des Herrn verstanden: „Der Herr hat uns die Aufgabe vorgelegt, die Gründung eines besonderen Versorgungshauses für die Invaliden ins Auge zu fassen, welche in einem Asyl sich nützlich machen und darüber ihres Lebens noch innerlich froh werden können“.

Das "Schlössle" in Oberensingen heute
Das "Schlössle" in Oberensingen heute

Zu Beginn wurden bis zu 25 ältere Mädchen mit körperlichen und geistigen Behinderungen aufgenommen, die einer längeren Erziehung, dauernden Bewahrung oder Versorgung bedurften. Später sammelte sich eine „wachsende Zahl solcher Mädchen an“, die „durch starke moralische Defekte gekennzeichnet“ waren. Das waren oft sogenannte „gefallene Mädchen, für die es bisher kaum Hilfe und Unterstützung gab. Eine gleichmäßige, sichere Hausordnung mit vielseitigen Arbeitsmöglichkeiten in Haus, Garten und Feld, sollte der meist labilen Gesamthaltung dieser Zöglinge entgegenwirken. Wie weit es den Diakonissen möglich war und gelingen konnte, die körperlich und geistig behinderten jungen Frauen der Anfangsjahre in einen strukturierten Arbeitsprozess zu integrieren, ist nicht überliefert.

 

Quelle:

 

  • Wir hatten alle eine Vision, Nürtinger Frauen im Fürsorgewesen, Frauenspuren in Nürtingen,  Geschichtswerkstatt der vhs, Band 1, Sindlinger-Burchartz, ISBN 3-928812-34-3, Seite 33 ff
 

Text: Anne Schaude, Nürtingen, Stand: Oktiber 2013, alle Rechte vorbehalten!

Zitiervorschlag: Anne Schaude (2013): Ihr Bruder konnte sie nicht mehr versorgen – Anna Maria F., in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.

Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, abgerufen am: XY.YX.20XY.

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