Angeblich an einem Hirnschlag gestorben – Mathilde S.

von Anne Schaude, Nürtingen

Erinnerung an die Nürtinger "Euthanasie"-Opfer, gestaltet von Schülerinnen des Max-Planck-Gymnasiums Nürtingen, Foto: Manuel Werner
Erinnerung an die Nürtinger "Euthanasie"-Opfer, gestaltet von Schülerinnen des Max-Planck-Gymnasiums Nürtingen, Foto: Manuel Werner

Im Herbst 1871

in Hofs bei Leutkirch geboren, kam Mathilde S. (1) nach Nürtingen, nachdem ihr Vater, Johann Georg S., hier im Jahr 1877 seine zweite Frau, die Nürtingerin Anna Maria, geborene G., (3) geheiratet hatte. (6) Mathilde’s leibliche Mutter Anna Maria S., geborene K., war zu dieser Zeit schon gestorben. Der Vater, der in Wurzach den Beruf des Landjägers ausgeübt hatte, (8) war von 1890 bis zu seinem Ruhestand 1904 in Nürtingen als Oberamtsdiener tätig. Die Familie wohnte zu dieser Zeit in einer Dienstwohnung (9) in der Kirchstraße (10). Der Vater starb 1914, die Stiefmutter 1918. (1)

 

Am 01. 10. 1910 

wurde Mathilde S. im Gottlob-Weißer-Haus der Diakonissenanstalt Schwäbisch-Hall aufgenommen. (11) Seit dem Alter von 29 Jahren (3) soll sie „schwachsinnig“ gewesen sein.

 

Im Jahr 1920

hatte Mathilde S. „ihr Vermögen aufgebraucht, weshalb die Anstalt die Ortsarmenpflege um Bezahlung der Pflegekosten vom 1. 10. d. Jahres für sie“  beantragte. Da ihre Eltern in Nürtingen gewohnt hatten, galt die Stadt als ihr Unterstützungswohnsitz. Zu dieser Zeit war sie „völlig vermögenslos“, zudem gab es keine „unterhaltspflichtige und zahlungsfähige Angehörige“. Im Juli desselben Jahres wurde beschlossen, dass „die Kosten der Verpflegung der Mathilde S. in der Diakonissenanstalt Schw. Hall vom 1. 10. 1920 an auf die Ortsarmenpflege zu übernehmen“ (2).

 

Am 19. November 1940

wurde Mathilde S. „zum 1. Mal, unmittelbar versetzt“, sie kam also von Schwäbisch Hall in die Anstalt Weinsberg und wurde hier weiter in der dritten Verpflegungsklasse betreut. Sie war 69 Jahre alt, ledig, seit vierzig Jahren krank – und sollte sich hier „nur vorübergehend“ aufhalten. Diese Formulierung ist oben und unten auf ihrem Patientenblatt sehr deutlich hervorgehoben  (3).

 

Am 10. März 1941

fand der so genannte „Austritt“ statt: Mathilde S. wurde an einen unbekannten Ort „versetzt“ (3). Auf der Transportliste für den 10. März 1941 ist ihr Name auf der Liste unter Nummer 51 heute noch zu finden. Sie war eine von 62 Patientinnen, die mit „unbekanntem Ziel“ unterwegs waren (4). 

 

Mathilde S. wurde 69 Jahre alt. Angeblich am 25. 03. 1941 in der sächsischen Anstalt Sonnenstein an „Hirnschlag“ gestorben, war die 69-Jährige vermutlich einige Tage zuvor im hessischen Hadamar ermordet worden (1).

 

Aussage eines Hauptwirtschaftsleiters von 1965:

 

„ ... Die Kostenträger wurden angehalten, die Kosten bis zu dem beurkundeten Sterbetag zu entrichten, obwohl der betroffene Kranke tatsächlich schon früher verstorben war. Die Kostenträger hatten nur Kenntnis von dem beurkundeten Sterbetag. ...“(5 S. 141f)

Detail eines Gedenksteins für zwei in Hadamar ermordete jüdische Jungen, Bad Ems, Foto: Warburg, Lizenz:  Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
Detail eines Gedenksteins für zwei in Hadamar ermordete jüdische Jungen, Bad Ems, Foto: Warburg, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
Gedenkstein, Weinsberg, Foto: Anne Schaude, Nürtingen, alle Rechte vorbehalten!
Gedenkstein, Weinsberg, Foto: Anne Schaude

Zum Foto: Im Park der ehemaligen Weinsberger Anstalt, dem heutigen Klinikum am Weissenhof, befindet sich unterhalb der Kirche dieser Gedenkstein. Er erinnert an die 426 getöteten Weinsberger Patienten und an die mehr als  480 Kranken, die aus anderen württembergischen Häusern hierhin  "zwischen"-verlegt und nach Tagen oder Wochen in die Tötungsanstalten weitertransportiert wurden. Diese sogenannten Zwischenanstalten dienten der logistischen Verbesserung des Mordprogramms und zur Verschleierung der Nazi-Verbrechen.

Räumung der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall

 

Am 13. Juli 1940 erreichte eine Mahnung des Reichsinnenministeriums die Haller Diakonissenanstalt, in der ausdrücklich auf die Meldepflicht der Behinderten hingewiesen wurde. Um ein Eingreifen der staatlichen Stellen zu vermeiden, fand im August 1940 eine Besprechung statt, an der Pfarrer Breuning, Frau Dr. J. Teufel und die leitenden Schwestern des Gottlob-Weißer-Hauses teilnahmen. Diese Menschen waren nun gezwungen, die Meldebogen auszufüllen und so über Leben und Tod der ihnen anvertrauten Behinderten eine Vorentscheidung treffen zu müssen. Es wurden 170 Meldebogen abgeschickt. In den kommenden Wochen setzte sich Pfarrer Breuning mit den Angehörigen der Patienten in Verbindung, um sie dazu zu bewegen, ihre kranken Familienmitglieder zu sich zu nehmen. 

 

Den Ernst der Situation für die Behinderten im Haus erkannten alle. Aber niemand ahnte, wie die NS-Behörden die Behindertenarbeit in der Diakonissenanstalt beenden würden: Am 14. November 1940 ordnete der NSDAP-Kreisleiter Otto Bosch die vollständige Räumung beider Häuser innerhalb von acht Tagen für die Unterbringung von "Volksdeutschen" aus Bessarabien an. Daraufhin wurde fieberhaft versucht, für 550 Geistigbehinderte Unterkünfte in anderen Anstalten der Inneren Mission zu finden. Nur die "Staatsirrenanstalt" Weinsberg, die als sogenannte Zwischenanstalt diente, erklärte sich zur Aufnahme der Pfleglinge bereit. Dort war Platz für Nachfolgende, da die ersten eigenen Patienten dieser Anstalt schon nach Grafeneck „verlegt“ worden waren. So kamen vom 19. bis 21. November 1940 240 Behinderte nach Weinsberg und 33 nach Göppingen. Unter ihnen waren 51 Kinder, das jüngste gerade drei Jahre alt. Am 5. Dezember überstellte man auch die Krankenakten der Pfleglinge nach Weinsberg. Zu diesem Zeitpunkt lebte schon ein Teil der Haller Patienten nicht mehr. 

 

Beschreibungen der Diakonissen lassen vermuten, dass nicht wenige der Behinderten wussten, was mit ihnen geschehen sollte. Zwei Diakonissen und sieben Pflegerinnen reisten „leihweise“ mit den Kindern, um Leid und Trennungsschmerz der Kinder zu mildern. Eine Pflegerin, die in Weinsberg bei den Erwachsenen arbeitete, berichtete: „Leider kommen morgen 28 von unseren Leuten fort; schon heute hatten wir sie gerichtet. ...dann wurde telephoniert, dass das Auto verunglückt sei, jetzt kommt es morgen.“ 1940/41 wurden insgesamt 181 Behinderte aus dem Gottlob-Weißer-Haus der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall in Grafeneck und Hadamar getötet (7). 

 
Gedenkstein vor dem Gottlob-Weißer-Haus des heutigen Ev. Diakoniewerks in Schwäbisch Hall
Dieser Gedenkstein vor dem Gottlob-Weißer-Haus des heutigen Ev. Diakoniewerks in Schwäbisch-Hall erinnert an die Ermordung von Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen durch das nationalsozialistische Regime (Fotos Anne Schaude)
Dieser Gedenkstein vor dem Gottlob-Weißer-Haus des heutigen Ev. Diakoniewerks in Schwäbisch-Hall erinnert an die Ermordung (Foto Anne Schaude)

Text: Anne Schaude, Nürtingen, Stand: Februar 2013, alle Rechte vorbehalten!

Quellen:

 

(1) R. Tietzen (Hrsg.), Nürtingen 1918 bis 1950, Nürtingen/ Frickenhausen, (Sindlinger-Burchartz) 2011

(2) StaNt: Protokoll der Armendeputation, 26. 07. 1920, § 433

(3) StAL: F 235 III Bü 823

(4) StAL F 234 I, Bü 1127

(5) Dokumente zur Euthanasie, Hrgb. Klee, Ernst, ISBN 978-3-596-24327-3

(6) StANT: Heiratsregister

(7) H. Krause/ A. Maisch, „Ausmerzen“. Eugenik, Zwangssterilisierung und Krankenmord in Schwäbisch Hall 1933 – 1945, VDS Verlagsdruckerei Schmidt, Neustadt a. d. Aisch, 2009, ISBN: 3-932146-28-X, S. 110 ff
(8) StANT, Mitteilung Dezember 2013

(9) KrAES, Februar 2014

(10) StANT, Februar 2014

(11) Ev. Diakoniewerk, Schwäbisch-Hall, Diakarchiv, Anmeldebuch, Februar 2014

 

 

Zitiervorschlag: Anne Schaude (2013): Angeblich an einem Hirnschlag gestorben – Mathilde S., in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.

Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, abgerufen am: XY.YX.20XY.

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