„Nur vorübergehend hier“ – Rosa S

von Anne Schaude, Nürtingen

Erinnerung an die Nürtinger "Euthanasie"-Opfer, gestaltet von Schülerinnen des Max-Planck-Gymnasiums Nürtingen, Foto: Manuel Werner
Erinnerung an die Nürtinger "Euthanasie"-Opfer, gestaltet von Schülerinnen des Max-Planck-Gymnasiums Nürtingen, Foto: Manuel Werner

Im Frühling 1893 

wurde Rosa S. in Oberensingen geboren und acht Tage später evangelisch getauft. Ihre Eltern waren Nikolaus, Schlosser von Beruf, und Catharine Magdalene S., geborene F. (3). 

 

Im Jahr 1921 

starb ihr Vater. Da Rosa S. aufgrund einer Geisteskrankheit besondere Pflege benötigte, lebte sie bis zum Jahr 1926 bei ihrer Mutter in Oberensingen (2). 

 

Im Jahr 1926

wurde die Mutter 69 Jahre alt, selbst pflegebedürftig und konnte deshalb ihre Tochter „nicht mehr versorgen“. (1) Nun wurde es nötig, „Rosa in einer geeigneten Anstalt unterzubringen“. Da „deren Hilfsbedürftigkeit ... ausser Zweifel“ stand (2), beauftragte der Nürtinger Ortsfürsorgeausschuss den Fürsorgepfleger, „für die Unterbringung in einer Anstalt ... etwa im Diakonissenhaus in Hall das Nötige einzuleiten“. (2) Am 27. Dezember desselben Jahres wurde Rosa S. im Gottlob-Weißer-Haus der Diakonissenanstalt Schwäbisch-Hall aufgenommen. (10)

 

Im Sommer 1928 starb ihre Mutter. (1)

 

Am 19. 11. 1940 

wurde Rosa S. „zum 1. Mal ohne vorherige Genesung“ (4) von Schwäbisch Hall nach Weinsberg verlegt(1). Inzwischen war sie 47 Jahre alt geworden. Dort wurde sie weiter in der III. Verpflegungsklasse betreut. Sehr deutlich ist auf ihrem noch erhaltenen Patientenblatt vermerkt, dass sich Rosa S. „nur vorübergehend hier“(4) aufhalten sollte. 

 

Am 10. März 1941

folgte der „Austritt“ - „ungeheilt“(4): Rosa S. wurde „zusammen mit 80 anderen Patienten weiter nach Hadamar gebracht“(1, 7). Die Transportliste, in der ihr Name unter Nr. 88 aufgelistet ist, ist noch erhalten (5).  

 

Obwohl im Familienbuch der 24. März 1941 als Sterbedatum (3) eingetragen wurde, kann davon ausgegangen werden, dass Rosa S. am Tag ihres „Austritts“ aus der Anstalt Weinsberg in Hadamar getötet wurde(1). Es war durchaus üblich, dass Angehörige einen Totenschein erhielten, der ein späteres Todesdatum angab. So mussten die Kostenträger noch Pflegegelder für längst verstorbene Kranken entrichten.(6 S. 95).  

 

Rosa S. war 48 Jahre alt geworden.

 

Lt. Statistik wurden im März 1941 in Hadamar 1.056 Menschen vergast, im gesamten Jahr 1941 waren es dort mehr als 10.000 geistig- und körperlich behinderte Menschen, die auf qualvollste Art getötet wurden. (9)

Detail eines Gedenksteins für zwei in Hadamar ermordete jüdische Jungen, Bad Ems, Foto: Warburg, Lizenz:  Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
Detail eines Gedenksteins für zwei in Hadamar ermordete jüdische Jungen, Bad Ems, Foto: Warburg, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
Gedenkstein, Weinsberg, Foto: Anne Schaude, Nürtingen, alle Rechte vorbehalten!
Gedenkstein, Weinsberg, Foto: Anne Schaude

Zum Foto: Im Park der ehemaligen Weinsberger Anstalt, dem heutigen Klinikum am Weissenhof, befindet sich unterhalb der Kirche dieser Gedenkstein. Er erinnert an die 426 getöteten Weinsberger Patienten und an die mehr als  480 Kranken, die aus anderen württembergischen Häusern hierhin  "zwischen"-verlegt und nach Tagen oder Wochen in die Tötungsanstalten weitertransportiert wurden. Diese sogenannten Zwischenanstalten dienten der logistischen Verbesserung des Mordprogramms und zur Verschleierung der Nazi-Verbrechen.

Räumung der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall

 

Am 13. Juli 1940 erreichte eine Mahnung des Reichsinnenministeriums die Haller Diakonissenanstalt, in der ausdrücklich auf die Meldepflicht der Behinderten hingewiesen wurde. Um ein Eingreifen der staatlichen Stellen zu vermeiden, fand im August 1940 eine Besprechung statt, an der Pfarrer Breuning, Frau Dr. J. Teufel und die leitenden Schwestern des Gottlob-Weißer-Hauses teilnahmen. Diese Menschen waren nun gezwungen, die Meldebogen auszufüllen und so über Leben und Tod der ihnen anvertrauten Behinderten eine Vorentscheidung treffen zu müssen. Es wurden 170 Meldebogen abgeschickt. In den kommenden Wochen setzte sich Pfarrer Breuning mit den Angehörigen der Patienten in Verbindung, um sie dazu zu bewegen, ihre kranken Familienmitglieder zu sich zu nehmen. 

 

Den Ernst der Situation für die Behinderten im Haus erkannten alle. Aber niemand ahnte, wie die NS-Behörden die Behindertenarbeit in der Diakonissenanstalt beenden würden: Am 14. November 1940 ordnete der NSDAP-Kreisleiter Otto Bosch die vollständige Räumung beider Häuser innerhalb von acht Tagen für die Unterbringung von Volksdeutschen aus Bessarabien an. Daraufhin wurde fieberhaft versucht, für 550 Geistigbehinderte Unterkünfte in anderen Anstalten der Inneren Mission zu finden. Nur die Staatsirrenanstalt Weinsberg, die als sogenannte Zwischenanstalt diente, erklärte sich zur Aufnahme der Pfleglinge bereit. Dort war Platz für Nachfolgende, da die ersten eigenen Patienten dieser Anstalt schon nach Grafeneck „verlegt“ worden waren. So kamen vom 19. bis 21. November 1940 240 Behinderte nach Weinsberg und 33 nach Göppingen. Unter ihnen waren 51 Kinder, das jüngste gerade drei Jahre alt. Am 5. Dezember überstellte man auch die Krankenakten der Pfleglinge nach Weinsberg. Zu diesem Zeitpunkt lebte schon ein Teil der Haller Patienten nicht mehr. 

 

Beschreibungen der Diakonissen lassen vermuten, dass nicht wenige der Behinderten wussten, was mit ihnen geschehen sollte. Zwei Diakonissen und sieben Pflegerinnen reisten „leihweise“ mit den Kindern, um Leid und Trennungsschmerz der Kinder zu mildern. Eine Pflegerin, die in Weinsberg bei den Erwachsenen arbeitete, berichtete: „Leider kommen morgen 28 von unseren Leuten fort; schon heute hatten wir sie gerichtet. ...dann wurde telephoniert, dass das Auto verunglückt sei, jetzt kommt es morgen.“ 1940/41 wurden insgesamt 181 Behinderte aus dem Gottlob-Weißer-Haus der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall in Grafeneck und Hadamar getötet.(8)

Dieser Gedenkstein vor dem Gottlob-Weißer-Haus des heutigen Ev. Diakoniewerks in Schwäbisch-Hall erinnert an die Ermordung (Foto Anne Schaude)
Dieser Gedenkstein vor dem Gottlob-Weißer-Haus des heutigen Ev. Diakoniewerks in Schwäbisch-Hall erinnert an die Ermordung von Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen durch das nationalsozialistische Regime (Foto Anne Schaude)

Quellen:

 

  1. R. Tietzen (Hrsg.), Nürtingen 1919 bis 1950, Nürtingen/ Frickenhausen, Sindlinger-Burchartz, 2011, S. 287
  2. StANT: Protokoll des Ortsfürsorgeausschusses, 29. 11. 1926, S. 765, § 778
  3. StANT: OFB Nr. 4849
  4. StALB: F 235 III Bü 857
  5. StALB: F 234 I Bü 1127
  6. Verlegt nach Hadamar, Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Band II, Druck- und Verlagshaus Thiele & Schwarz GmbH, Kassel, 1994, ISBN 3-89203-011-1
  7. StANT: Mitteilung vom Landeswohlfahrtsverband Hessen vom 22. 03. 2011
  8. H. Krause/ A. Maisch, „Ausmerzen“. Eugenik, Zwangssterilisierung und Krankenmord in Schwäbisch Hall 1933 – 1945, VDS Verlagsdruckerei Schmidt, Neustadt a. d. Aisch, 2009, ISBN: 3-932146-28-X, S. 110 ff
  9. Dokumente zur Euthanasie, Hrgb. Klee, Ernst, ISBN 978-3-24327-3, S. 232f
  10. Ev. Diakoniewerk, Schwäbisch-Hall, Diakarchiv, Anmeldebuch, Februar 2014

Text: Anne Schaude, Nürtingen, Stand: Dezember 2013, alle Rechte vorbehalten!

Zitiervorschlag: Anne Schaude (2013): „Nur vorübergehend hier“ – Rosa S, in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.

Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 24. November 2013, abgerufen am: XY.YX.20XY.

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