Anfangs des Jahres 1892
wurde Maria Katharina M. unehelich in Tübingen geboren (1) und eine Woche später katholisch getauft. (10) Ihre Mutter Theresia W., geborene M., stammte aus Neuhausen/Fildern. (1) Diese war seit 1879 in Oberensingen verheiratet und wohnte hier bis zur „Erntezeit 1889“, als sie sich von ihrem Mann trennte. Kurz vor der Geburt der Tochter wurde die Ehe geschieden. (6)
Ein paar Wochen
nach der Geburt bat ihre Mutter im Oberensinger Rathaus „für ein Unterkommen ihres Kindes zu sorgen“. Da sie keine Arbeit gefunden hatte, gab sie zu Protokoll, sei es ihr nicht möglich, für ihr Kind zu sorgen. Daraufhin suchte die Ortsarmenbehörde einen Pflegeplatz. Die Witwe des Friedrich Schwarz erklärte sich bereit, Maria gegen ein Kostgeld in ihrem Haus aufzunehmen. (7)
Im Frühling 1895
kam Maria in die Familie des Schreiners Martin Eitel. (8) Die Ausgaben für Kost und Pflege trug weiter die Oberensinger Ortsarmenbehörde, hier war auch der Unterstützungswohnsitz ihrer Mutter. (9)
Im Jahr 1905
besuchte Maria weiter den Schulunterricht, sie war aber geistig schwach begabt. Mehrere Jahre hatte sie am Unterricht teilgenommen, es hatte sich aber gezeigt, dass „sie trotz aller Mühe seitens der Lehrer in keinem Fach etwas begriffen hat.“ Zudem sollte sie jetzt am katholischen Religionsunterricht teilnehmen. Daraufhin wurde Maria in der Erziehungsanstalt für schwachbegabte Kinder im Schloss Neresheim aufgenommen. Die Kosten für die Unterbringung brachten die Oberensinger Ortsarmenbehörde und die Landarmenbehörde in Reutlingen auf. (11)
Im Jahr 1906
war Maria’s Mutter Theresia „der Unterstützung bedürftig geworden“, da sie unter verschiedenen Krankheiten litt. Die Ortsarmenbehörde Neuhausen schlug vor, dass Theresia „so billig als möglich untergebracht wird.“ (12)
Im Jahr 1907
befürwortete die Anstaltsleitung in Neresheim eine zweijährige Ausbildung für Maria und bat die Ortsarmenpflege um Einverständnis. (13) Welche Entscheidung getroffen wurde, ist nicht bekannt.
In der Zeit von 1894 bis 1904 leiteten die Vinzentinerinnen von Untermarchtal im Kloster Neresheim ein Mädchenschutzheim, die Anstalt zum Guten Hirten, und von 1905 bis 1921 eine Anstalt für behinderte Kinder. (4)
Im Frühsommer 1919 starb ihre Mutter. (3)
Im April 1921
wurde Maria M. in der katholischen Pflegeanstalt Heggbach bei Biberach untergebracht. (17)
Für den Transport am 30. 10. 1940
war ihr Name auf der Transportliste (vermutlich nach Grafeneck) aufgeführt, er wurde aber wieder gestrichen. (17)
Am 21. 03. 1941
versuchte der damalige Anstaltsarzt Dr. Ehmann mit einer Intervention beim Württembergischen Innenministerium in Stuttgart, Maria M. doch noch in Heggbach behalten zu können. In seinem ärztlichen Bericht an das Ministerium schrieb er unter anderem: „... In geistiger Beziehung ist sie ohne Zweifel schwachsinnig, aber in der Handarbeit, Krankenbetreuung und in der Mithilfe bei der Kinderpflege – wir haben seit 14. 2. 1941 das Kinderasyl Ingerkingen übernommen mit 45 Kindern – wäre sie für uns unentbehrlich, zumal sie die Kinderwäsche ganz besorgen muss.“ Seine Bemühungen waren vergebens. (17)
Am 25. 03. 1941
wurde Maria M., auf Anordnung des Württembergischen Innenministeriums, von Heggbach aus in die staatliche Heil- und Pflegeanstalt Weinsberg verlegt. Lt. einer Aktennotiz waren folgende Unterlagen mitgegeben worden: Ärztliches Zeugnis, Geburts-, Tauf- und Impfscheine, ihre Krankengeschichte, sowie die Entlassungsbescheinigung. (17)
Wenige Tage später
erhielt Schwester Oberin in Heggbach das letzte Lebenszeichen ihrer ehemaligen Heimbewohnerin aus Weinsberg. Es war eine Postkarte, die Maria M. dort von einer anderen Person hatte schreiben lassen: „ ... Fräulein Marie M. lässt Ihnen mitteilen, dass sie gut hier angekommen sei u. sich soweit wohl fühle. Das Heimweh hat sie schon überstanden, ein wenig würde sie auch freiwillig arbeiten. ...“ Auf dieser Postkarte ließ Maria M. alle Schwestern und Pfleglinge grüßen. Zudem bat sie um die Zusendung ihres Koffers, auch die „Magenflasche“ soll man nicht vergessen. (17)
Am 08. 04. 1941
antwortete ihr Schwester Oberin mit einem letzten Brief, indem sie unter anderem schrieb: „... Aber Du weisst ja, es wurde uns versprochen, dass wenn Du in Weinsberg arbeitest, wie Du bei uns so fleissig gearbeitet hast, dass Du dann wieder nach Heggbach kommen darfst. Also, befleisse Dich nur recht, dann kann, so hoffen wir, das Versprechen eingelöst werden. ... alle ... lassen Dich herzlich grüssen und hoffen, dass Du bald wieder kommst. ... Wir wollen halt fest füreinander beten, gell liebe Marie! ...“ (17)
Am 22. 04. 1941
fand die nächste und letzte Verlegung statt: Maria M. wurde mit 63 weiteren Patienten von Weinsberg „ins hessische Hadamar verschleppt und ermordet.“ (1) Lt. Eintrag im Sterberegister des Standesamts Hadamar soll ihr Todestag der 01. 05. 1941 gewesen sein. (2)
Maria Katharina M. wurde 49 Jahre alt.
Lt. Statistik wurden im März 1941 in Hadamar 1.056 Menschen vergast, im gesamten Jahr 1941 waren es mehr als 10.000 Menschen, die dort umkamen.(14)
Zum Foto: Im Park der ehemaligen Weinsberger Anstalt, dem heutigen Klinikum am Weissenhof, befindet sich unterhalb der Kirche dieser Gedenkstein.
Er erinnert an die 426 getöteten Weinsberger Patienten und an die mehr als 480 Kranken, die aus anderen
württembergischen Häusern hierhin "zwischen"-verlegt und nach Tagen oder Wochen in die Tötungsanstalten weitertransportiert wurden. Diese sogenannten Zwischenanstalten dienten der logistischen Verbesserung des Mordprogramms und zur
Verschleierung der Nazi-Verbrechen.
In der katholischen Pflege- und Bewahranstalt Heggbach für „Schwachsinnige, Epileptische und unheilbar Kranke“ betreuten die Ordensschwestern um 1940 keine akut Kranken, sondern geistig behinderte und chronisch kranke Menschen, die nicht ohne Aufsicht und Pflege leben konnten. (15 S. 13/ 36) Diese Einrichtung der Caritas, zu der auch das Kinderasyl Ingerkingen zählte, galt auf der Ebene der staatlichen Verwaltung als Privatanstalt, in medizinischer Hinsicht unterstand sie aber der Oberaufsicht der Landesregierung. Die medizinische Versorgung der Kranken leistete ein praktischer Arzt aus Biberach, (15 S. 13) der die Anstalt Heggbach im Nebenamt betreute. (15 S. 186) Als Einrichtung der freien Wohlfahrtspflege war Heggbach der „Zentralleitung für das Stiftungs- und Anstaltswesen“ unterstellt. (15 S. 16)
In den 1930er und 40er Jahren gab es dort etwa 300 Betten. (15 S. 36) Die Kranken waren, entsprechend ihren Fähigkeiten, in der Haus- und Landwirtschaft tätig. Angeboten wurden unter anderem Schnitzen, Korbflechten, Buchbinden, das Anfertigen von Bürsten und andere Handarbeiten wie Flicken und Nähen. (15 S. 44) Viele Langzeitzubetreuende hatten keine Angehörigen mehr. (15 S. 15) Der „Euthanasiebeschluss“ begann im Herbst 1939 mit dem Ausfüllen der Meldebogen und wurde im Herbst 1940 mit drei Transporten nach Grafeneck umgesetzt. „Die Selektionen der Kranken durch Ärzte aus Stuttgart und Grafeneck ... sollten die Auslese verbessern, in Wahrheit wurden die absichtlich zu hoch angesetzten Listen auf die notwendigen 75 Namen (Transportkapazität von 3 Bussen) ,herunterselektiert’“. Der dritte Transport, der am 30. 10. 1940 nach Grafeneck fuhr, diente dazu, die Freigegebenen der ersten beiden Transporte nun doch noch zu töten. (15 S. 188)
1941, in der Endphase der T4-Aktion, bestimmte die Zentrale in Berlin die staatliche Heilanstalt Weinsberg zur so genannten Beobachtungsanstalt. Dieses war der beschönigende Name für die Zwischenanstalt auf dem Weg zur Gaskammer von Hadamar in Hessen. Vermutlich sollten die „noch nicht behandelten Fälle“ der Aktion in Württemberg zu ende gebracht werden. Die verantwortlichen Leiter in Stuttgart gestatteten zu dieser Zeit den Anstaltsleitern etwas mehr Flexibilität bei der Auswahl der Kranken, wofür sie von der Euthanasiezentrale sofort gerügt wurden. (15 S. 189) So mussten die privaten Anstalten ihre „brauchbaren Arbeitskräfte ..., die für die Anstalt unentbehrlich sind“, zunächst nach Weinsberg abgeben, wo sie auf ihre „Arbeitsfähigkeit“ hin überprüft werden sollten. Bei positiver Beurteilung konnten sie angeblich zur Abgabeanstalt zurückverlegt werden. (15 S. 11)
Nachdem Heggbach die Verlegungsliste mit den Namen von acht Personen erhalten hatte, intervenierten Schwester Oberin und die Verwaltungsschwester telefonisch beim Innenministerium in Stuttgart mit der Bitte, „die Kranken freizugeben, weil es gute Arbeitskräfte wären.“ Daraufhin musste für jeden Patienten ein ärztliches Zeugnis vorgelegt werden. Zudem entschloss sich die Verwaltungsschwester, sich persönlich in Stuttgart für ihre Bewohner einzusetzen. Vier der sieben Kranken, einer war nach Hause entlassen worden, konnten in Heggbach bleiben. Die restlichen drei Personen wurden am 25. März 1941 mit der Zusicherung zur Überprüfung ihrer Arbeitsfähigkeit nach Weinsberg verlegt und am 22. April in Hadamar vergast. (15 S. 113) Eine dieser drei Personen war Maria Katharina M.. Wie lange hat man in Heggbach wohl auf ihre Rückverlegung aus Weinsberg gewartet?
Insgesamt wurden 173 Kranke aus Heggbach in Grafeneck und Hadamar getötet. Die Prozentzahl der vergasten Heggbacher Heimbewohner lag bei 58 Prozent und war etwa gleich hoch wie in den anderen Anstalten. (15 S. 188) Um die Erinnerung an die Opfer wach zu halten, wurde im Jahr 1994 in der Heggbacher Klosterkirche „St. Georg im Hag“ eine Gedenkstätte für die Ermordeten errichtet. (15 S. 11)
Quellen:
Zitiervorschlag: Anne Schaude (2013): Sie verbrachte ihre Kindheit in Oberensingen - Maria Katharina M., in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: Oktober 2014, abgerufen am: XY.YX.20XY.
Text: Anne Schaude, Stand: Oktober 2014, alle Rechte vorbehalten!
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