Am 14. Oktober 1939 wurde Grafeneck, ein Behindertenheim der evangelischen Samariterstiftung Stuttgart, von den NS-Machthabern beschlagnahmt und in wenigen Wochen zur Tötungsanstalt umgebaut. Die „Landes-Pflegeanstalt Grafeneck“ war die erste Einrichtung in Deutschland, in der die Nationalsozialisten ihr „Euthanasie“-Programm durchführten. Bis Dezember 1940 wurden Behinderte und psychisch Kranke aus Anstalten in Württemberg und Hohenzollern, Baden, Bayern, Hessen und vom Niederrhein nach Grafeneck deportiert. Von ihnen fanden mindestens 10.654 in einer stationären Gaskammer den Tod. Ihre Leichen wurden verbrannt, die Asche verstreut, die Spuren ihres Lebens verwischt, die Verbrechen vertuscht. Nichts sollte mehr an die Opfer und Täter erinnern.
Seit einigen Jahren nun wird dieses grauenhafte Kapitel der deutschen Geschichte aufgearbeitet und erforscht. (1 hinterer Einband)
Mit lediglich drei Monaten Vorlauf – September bis Dezember 1939 – begannen im Januar 1940 die „Euthanasie-Morde“ in Grafeneck. Parallel dazu wurden die Anstalten und Einrichtungen des Reiches erfasst, dann ebenfalls ab September 1939 die Patienten und Bewohner der Anstalten. Gezielt wurden vier Gruppen der in den Anstalten befindlichen Personen in die Meldebogenaktion einbezogen, die man treffender als Selektion bezeichnen kann:
Die Einrichtungen, denen dieser Meldebogen zuging, ahnten zu diesem frühen Zeitpunkt nicht den Zweck dieser Erhebung. Die meisten Einrichtungen im südwestdeutschen Raum erledigten pflichtgemäß die vom Reichsinnenministerium gemachten Auflagen. Nahezu reibungslos funktionierte dies in den staatlichen Heil-und Pflegeanstalten in Württemberg und Baden. (1 S. 73f) Im Juni 1940 wurde die Zentralleitung für das Stiftungs- und Anstaltswesen vom Württ. Innenminis-terium aufgefordert, „in den von Ihnen betreuten Anstalten, diejenigen geisteskranken, epileptischen und schwachsinnigen Pfleglinge namentlich festzustellen, die dort auf öffentliche Kosten untergebracht sind“. (1 S. 85) Jedem einzelnen Transport, der Menschen in die Gaskammer von Grafeneck führte, ging eine direkte Anordnung aus den Innenministerien in Württemberg und Baden voraus. (1 S. 87) Formaljuristisch war Grafeneck durch das Reichsleistungsgesetz, das mit Kriegsbeginn in Kraft getreten war, beschlagnahmt. Die Übergabe hatte am 31. Oktober 1939 stattgefunden. Der Beginn der Euthanasie-Morde in Grafeneck war am 18. Januar 1940 mit den ersten Patienten-Verlegungen aus einer bayrischen Heil-und Pflegeanstalt. (1 S. 91f) Die Anstalten des Württ. Landesfürsorgeverbandes wurden allesamt ... in der zweiten Jahreshälfte 1940 mit den Verlegungen konfrontiert. (1 S. 105f)
Ein Plan des Geländes der Tötungsanstalt Grafeneck mit den Tötungseinrichtungen ist hier auf einer Akte im Staatsarchiv Sigmaringen zu sehen. Er kann auf der verlinkten Seite größer gezoomt werden.
In alten Militärmänteln zum Tötungsgebäude
Von Grafeneck aus fuhren drei Busse der Gemeinnützigen Kranken Transport GmbH (Gekrat) in die Anstalten. Die anfänglich roten, dann grauen Busse wurden mit Milchglasscheiben versehen. Durch eine
Kabinenwand getrennt, wurden sie von einem Fahrer und einem Beifahrer gesteuert. Außerdem begleiteten Pflegepersonen die Transporte, die den Kranken Beruhigungsspritzen geben, sie aber auch an
besonderen Vorrichtungen festschnallen oder in Handschellen legen konnten. In einem PKW vorneweg fuhr der Transportleiter, der die Liste mit sich führte, nach welcher die Patienten in der
Abgabeanstalt ausgesucht worden waren. Auf dem Rückweg hatte er auch die Krankenakten bei sich (1, S. 110). In Grafeneck angekommen, führte man die Patienten den Ärzten zur letzten Untersuchung
vor, in den meisten Fällen dauerte die Untersuchung nur wenige Sekunden bis zu einer Minute. Sie diente in der Regel nicht dem Zweck einer nochmaligen Überprüfung des Krankheitszustandes, um auf
diese Weise eine letzte Auswahl zu treffen, sondern sie wurde dazu benutzt, die sachliche und personelle Richtigkeit der vorgestellten Kranken zu überprüfen und auffallende Kennzeichen zu
notieren, die für die Erstellung einer späteren Todesursache von Bedeutung sein konnten. Den Opfern wurden alte Militärmäntel übergeworfen, dann ging es durch ein Tor im Bretterzaun, vorbei am
Krematorium, zum Tötungsgebäude. Die Ermordung erfolgte durch Kohlenmonoxyd-Gas, das der Anstaltsarzt durch Bedienen eines Manometers in den Vergasungsraum einströmen ließ. Beim Betreten dieser
Kammer wurden die Kranken, maximal 75 Personen, nochmals gezählt, sodann die Tore geschlossen. Anfangs schienen einige Opfer noch geglaubt zu haben, es gehe tatsächlich zum Duschen, andere
begannen sich im letzten Augenblick zu wehren und schrien laut. Die Zufuhr des Gases betrug in der Regel zwanzig Minuten, sie wurde eingestellt, wenn sich im Vergasungsraum keine Bewegung mehr
feststellen ließ. Geraume Zeit nach der Vergasung öffneten Hilfskräfte, die Gasmasken trugen, die Flügeltore der Kammer. Das Personal, das die Krematoriumsöfen bediente, war auch zuständig für
den Abtransport der Leichen zum Verbrennungsort (1, S. 113f).
In die Formulare wurden fiktive Todesursachen, wie beispielsweise Lungenentzündung, eingetragen. Auch das Sterbedatum entsprach in den wenigsten Fällen den realen Tatsachen. Da die Patienten in
der Tötungsanstalt im Regelfall am Tag ihres Eintreffens ermordet wurden, wurden die Daten gefälscht, um eine Häufung zu vermeiden. Zusammen mit der Todesursache wurde an die Angehörigen ein
Beleidsschreiben verschickt, dessen Einheitswortlaut besagte, dass der Tod für den Betreffenden eine Erlösung dargestellt habe. Die Leichen waren, wie es hieß, aus „seuchenpolizeilichen Gründen“
verbrannt worden. In den meisten Trostbriefen wurde den Angehörigen die Möglichkeit gegeben, die sterblichen Überreste ihres Familienmitglieds in einer Urne auf einem Friedhof zugestellt zu
erhalten, wenn ein solcher angegeben wurde. In diesem Fall entstanden den Angehörigen nur die Kosten der Beisetzung, die Übersendung der Urne wurde aus Reichsausgleichsmitteln bezahlt. „Wenn
Angehörige der in Grafeneck verstorbenen Toten eine Urne angefordert haben, so wurde eben auch eine Urne mit irgendwelcher Asche weggeschickt“ (1, S. 125ff).
Namentlich bekannt sind zwölf NürtingerInnen, die 1940 in Grafeneck umgebracht wurden:
Nicht alle Opfer sind heute namentlich bekannt
Als Versuch das Verbrechen geheim zu halten, kann auch der Aktenaustausch unter den Tötungsanstalten gelten. So ist es in zahlreichen Fällen überliefert, dass Todesurkunden und Beileidsschreiben
von in Grafeneck Ermordeten aus Brandenburg, Sonnenstein/ Pirna oder Hartheim bei Linz verschickt wurden (1, S. 125). Im Dezember 1940 wurde das Vernichtungslager Grafeneck geschlossen. Die Frage
nach den Gründen für den Abbruch der Krankenmorde im Südwesten lässt sich nicht eindeutig beantworten. In den Blick kommen mehrere Motive:
Ganz präzise nennen die Unterlagen die Zahl von 10.654 Opfern –
Männer und Frauen,
alte Menschen,
Erwachsene,
Jugendliche und Kinder.
Nach über sechzig Jahren sind 7.000 dieser Opfer wieder namentlich bekannt.
Ein Opferbuch hält ihre Namen fest.
Sie stammten aus dem gesamten heutigen Bundesland Baden-Württemberg und weit darüber hinaus
Sie wurden ausgelöscht und ihre Individualität negiert, weil sie nicht den Nützlichkeitskriterien der Täter und vielleicht auch der Zuschauer dieses Verbrechens genügten: Unnütze Esser, Defektmenschen, Ballastexistenzen, so das Vokabular der Zeit und nicht nur der NS-Zeit. Die Opfer waren Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung, denen eine geringe Leistungs- und Arbeitsfähigkeit attestiert wurde, Menschen, die von der Justiz als unzurechnungsfähig oder gemeinschaftsunfähig erklärt waren, Menschen, die als Langzeitpatienten galten, Menschen, die als Juden nicht den rassischen Normen genügten. Alle hatten sie gemein, dass sie in Anstalten waren und damit der Volksgemeinschaft in ihrem „Existenzkampf“, dem Krieg, hinderlich waren. Allein in Württemberg und Baden waren 40 Anstalten von den „Euthanasie“-Morden betroffen. Was die nackten Zahlen verschweigen, sind die Begleitumstände und das Leid, das den einzelnen Opfern widerfuhr: Wie gingen, zum Beispiel, die Abtransporte vonstatten, welche Tumulte spielten sich ab (1, S. 137)?
Nur wenige Täter wurden bestraft
Die Reaktionen auf die Krankenmorde sind vielfältig und decken ein breites Spektrum möglicher Verhaltensformen und Mentalitäten. Ein weitgehend unerforschtes Kapitel stellt in diesem Zusammenhang
das Verhalten der Angehörigen dar. Das Wissen über die Tötungen in Grafeneck war weit über die Anstaltsmauern hinaus, in manchen Fällen wohl sogar von außen nach innen gedrungen. Wie viele
Angehörige wussten oder ahnten vom drohenden Schicksal, das den Patienten zugedacht war? Wer wusste von der möglicherweise auch noch so geringen Chance, Patienten nach Hause zu holen? Wie viele
verzichteten bewusst auf diese Option, wie viele wurden vom Tod ihres Angehörigen vollkommen überrascht? All dies lässt sich vermutlich nicht mehr klären (1, S. 147).
Reaktionen und Proteste von Angehörigen sind überliefert, auch der meist vergebliche Versuch mancher Einrichtung, das Leben der ihnen anvertrauten Menschen zu retten. Diese Bemühungen sind
nachweisbar, die Zivilcourage und der Mut einzelner Menschen beeindruckend (1, S. 159f). Bei Kriegsende ordneten die leitenden Medizinalbeamten die Vernichtung derjenigen Akten an, die sich auf
die planwirtschaftlichen Maßnahmen und damit auf die Verlegung nach Grafeneck bezogen. Nur ein kleiner Teil der Täter wurde nach dem Krieg vor Gericht gestellt und bestraft. Die meisten kehrten
in die Gesellschaft zurück, aus der sie gekommen waren (1, S. 175).
Wo liegt Grafeneck?
Im Jahr 2009, sechzig Jahre nach Beendigung des Tübinger Grafeneck-Prozesses, erinnerten mehrere Autoren in einer Gedenkschrift an einen außergewöhnlichen Prozess. Dieser Prozess wurde aufgrund
des zu erwartenden großen öffentlichen Interesses in den Rittersaal von Schloss Hohentübingen verlegt und erstreckte sich über einen Zeitraum von nur vier Wochen. (1 S. 11)
Als Grafeneck-Prozess ging dieser Prozess in die Geschichtsschreibung ein. Dabei hatten sich Anfang Juni 1949 acht Angeklagte vor dem Tübinger Landgericht für den Massenmord an mehr als 10.600
„behinderten und psychisch kranken Menschen“ zu verantworten. (2 S. 59; 1 S. 7/11) Dass dieses Großverbrechen überhaupt so konsequent durchgeführt werden konnte, lag zum einen an der
Arbeitsteilung, an „der Gesamtplanung und Lenkung durch staatliche und parteiamtliche Organe auf Reichsebene“, zum anderen an der „Mitwirkung der Länder ..., die ihre Apparate in den Dienst der
Vernichtungsaktionen stellten.“ (2 S. 59)
Warum konnten diese Verbrechen überhaupt geschehen? Urban Wiesing, einer der Autoren der Gedenkschrift, weist darauf hin, dass die Wurzeln für einen moralischen Wandel bezüglich einer primären
Verantwortung der ärztlichen Profession schon vor 1933 existierten. Im so genannten Dritten Reich wurde aber in der Medizin eine erweiterte Änderung zugelassen: „Der Arzt war nicht nur seinem
einzelnen Patienten verpflichtet, sondern darüber hinaus auch dem ,Volk’, dem ,Volkskörper’, der ,Rasse’.“ Das Individuum hatte seine Rechte gegenüber der „Volksgemeinschaft“ oder der Rasse
verloren. Die „zentrale Änderung im Arztethos“ diente so den Ärzten - nicht nur in Grafeneck – als „Legitimation für (all ihre) Gräueltaten. (1 S. 56) So wurde zum Beispiel das Töten durch Gas
als „Sonderbehandlung“ bezeichnet und „war nicht nur eine schreckliche und heuchlerische, sondern zugleich eine höchst aussagekräftige Verharmlosung“. (1 S. 57)
Die Täter
Alle acht Angeklagten hatten also, wie andere beteiligte Institutionen, Organisationen und Personen, an diesen „systematisch-industriellen Ermordungen“ mitgewirkt. (1 S. 11) Deshalb wurde
ihnen „Beihilfe zum Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zur Last gelegt. (2 S. 59; 1 S. 7/ 11) Genauer gesagt handelte es sich bei diesen ausgeführten Verbrechen, die „von Januar
bis Dezember 1940“ auf „Schloss Grafeneck bei Münsingen“ im Rahmen der sogenannten Euthanasieaktion durchgeführt wurden, (1 S. 11) um Massen-Tötungen von Menschen in einer dort extra
eingerichteten Gaskammer.
Das ehemalige Samariterstift Grafeneck, das zuvor zwangsgeräumt werden musste, wurde in den Monaten vor Beginn der Euthanasieaktion „zielgerichtet“ in eine Mordanstalt umgestaltet. Zu dieser Zeit
hielten sich dort bis zu zwanzig Personen Personal auf, 1940, nach Beginn der Ermordungen, stieg die Zahl auf bis zu 100 Mitarbeiter, die von staatlichen und parteiamtlichen Stellen rekrutiert
worden waren. (2 S. 83) Grafeneck brachte also 1940 „eine Vielzahl von Tätern, Mittätern, Mitwissern, aber auch Zuschauern“ hervor. (1 S. 17) „Wie viele Täter und Gehilfen sich aus tiefster
Überzeugung am Krankenmord beteiligten“, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. (2 S. 83)
Im Tübinger Prozess konnten die Hauptverantwortlichen der Tötungsaktionen nicht mehr verurteilt werden, „selbige waren zum großen Teil bereits tot“. Einige von diesen waren:
Gerade mal acht Angeklagte standen deshalb 1949 vor dem Schwurgericht im Tübinger Rittersaal. Es waren dies:
Die Urteile
Der Prozess selbst dauerte, wie oben schon beschrieben, nur einen Monat. „Am Ende ... wurden außer den drei Ärzten Mauthe, Stegmann und Fauser alle Angeklagten freigesprochen. Die drei Ärzte
erhielten „vergleichsweise niedrige Gefängnisstrafen“. (1 S. 40f) - So berichtete die Schwäbische Zeitung in ihrer Ausgabe vom 7. Juli 1949, dass der Hauptangeklagte „Dr. Mauthe wegen Beihilfe zu
einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 5 Jahren, ... Dr. Stegmann zu 2 Jahren und ... Dr. Fauser wegen drei Verbrechen des Totschlags in der Form der Einzeleuthanasie zu 18 Monaten
Gefängnis“ verurteilt worden seien“. Die Freigesprochenen wurden sofort aus der Haft entlassen.“ (1 S. 68) Auch Dr. Martha Fauser wurde umgehend entlassen, da die vier Jahre Untersuchungshaft auf
ihre Strafe angerechnet wurden. (1 S. 45)
„Der Vorsitzende des Schwurgerichts, Oberamtsrichter Dr. Dietrich, ging in seiner Urteilsbegründung davon aus, dass die Vorgänge in Grafeneck unter das Kontrollratsgesetz Nr. 10 fallen. ... Die
acht Angeklagten seien nicht der Täterschaft an einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern nur der Beihilfe und der Mithilfe hierzu beschuldigt worden. ... Das Gericht billige den
Angeklagten zum überwiegenden Teil den übergesetzlichen Notstand zu ...“ (1 S. 68) Unter dem juristischen Terminus „übergesetzlicher Notstand“ versteht die deutsche Rechtswissenschaft eine
Möglichkeit, in Richtung eines Rechtfertigungs- oder Strafausschluss-/Strafaufhebungsgrundes zu argumentieren. Er kann bei einer Straftat zur zur Anwendung kommen, ist aber diffus und nicht
gesetzlich geregelt. 31 Jahre Zuchthaus, die von der Staatsanwaltschaft für diese Angeklagten beantragt worden waren, schmolzen bis zur Urteilsverkündung aufgrund einer solchen Argumentation zu
einem kleinen Häufchen von achteinhalb Jahren zusammen.
Das Schwurgericht
Aus heutiger (2009/ J. Kinzig) Sicht fällt die Beurteilung schwer, „welches Urteil für die acht Angeklagten ... angemessen gewesen wäre. Davon unabhängig steht die Nachgiebigkeit des Gerichts
gegenüber den Angeklagten in einem eigenartigen Kontrast mit den teilweise deutlichen Formulierungen, ... mit denen die Richter die grauenhaften so genannten Euthanasieverbrechen
charakterisieren. Letztere werden ... eher entpersonalisiert, indem das Gericht zum Beispiel von der ,Tötung von Geisteskranken durch den Nationalsozialismus’ spricht und damit die Angeklagten in
gewisser Weise entlastet.“ (1 S. 47) – Bei der damaligen Zusammensetzung des Landgerichts von drei Berufsrichtern und sechs Laienrichtern, „kann man sich durchaus Beeinflussbarkeit durch
außergerichtlichen Druck vorstellen“ (1 S. 65). Ob eine Beeinflussung der Richter bezüglich der Höhe des Strafmaßes stattgefunden hatte, ist nicht bekannt, bzw. wurde ihnen nicht nachgewiesen.
Immerhin hat sich seitdem etwas geändert: Heutzutage setzt sich das Landgericht aus drei Berufsrichtern und zwei Laienrichtern zusammen. Diese Regelung bringt Vertrauen in eine Justiz und in ihre
Kontrollinstanzen.
Die Öffentlichkeit
Das Schwurgericht hatte den Prozess extra in den Rittersaal des Schlosses Hohentübingen verlegt. Es wollte ausreichend Plätze schaffen für die vielen interessierten Zuhörer, mit denen man
rechnete - aber es kam anders: Die Öffentlichkeit zeigte ein geringes Interesse an diesem Prozess. „In einem Zeitungsbericht aus den Tagen des Prozesses heißt es: ,Der Zuhörerraum im Tübinger
Schloss ist kaum von einem Dutzend Personen besetzt’.“ (1 S. 11) - Aus heutiger Sicht (2009/ J. Kinzig) ist folgender Titel aus dem Schwäbischen Tagblatt vom 9. Juni 1949 kaum nachvollziehbar:
„Der Fall der 10.654 Tötungen hat 35 Zuhörer in den Rittersaal gelockt.“ (1 S. 47) – Hier ein weiteres Zitat aus der „Neue(n) Zeitung, München, vom 18. Juni 1949: „Das Aufgebot der Beteiligten
übersteigt oft die Zahl der Zuhörer, dies in einer alten Universitätsstadt mit einer juristischen und medizinischen Fakultät, für die dieser Prozess von höchstem Interesse sein müßte.“ (1 S.
63)
Einer der Autoren der Gedenkschrift, Hubert Wicker (Staatssekretär im Staatsministerium B-W), resümierte im Jahr 2009: „Scham in der Bevölkerung, das Beschäftigtsein mit dem Wiederaufbau, der
Wunsch zu verdrängen und zu vergessen, aber auch die eigene Verstrickung vieler Juristen standen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik einer wirksamen Aufarbeitung der nationalsozialistischen
Verbrechen im Weg. Auch am Ort des grausamen Geschehens selbst, in Grafeneck, waren über Jahrzehnte hinweg viele kleine Schritte notwendig, bis ... 1990 eine Gedenkstätte entstehen konnte. ...“
(1 S. 12)
Konsequenzen für die Zukunft
Die Menschen, die in Grafeneck, und später an anderen Orten, ermordet wurden, hatten nicht zugestimmt, was mit ihnen geschehen sollte: „Die Taten waren heimtückisch, die Motive niedere. Grafeneck
ist der erste Ort, an dem dies in Deutschland geschah.“(1 S. 59) - Nach dem Krieg wurde das Konzept der Menschenwürde in der Bundesrepublik juristisch auf höchster Ebene verankert.“ Eine
zivilisierte Gesellschaft hat die moralische Pflicht zur Unverhandelbarkeit von Menschenwürde und Menschenrecht. Auch „darf der Gruppennutzen nicht zur verhandelbaren Begrenzung der elementaren
Grundrechte Einzelner führen. ... (1 S. 58f) Vielmehr ist es die Aufgabe eines jeden, da einzutreten, wo die Würde Einzelner beschnitten wird. Das Unrecht von Grafeneck darf sich nie mehr
wiederholen.
Quellen:
Anne Schaude, Januar 2018
Zitiervorschlag: Anne Schaude (2018): In Grafeneck vergast. Auch mindestens zwölf NürtingerInnen unter den Opfern, in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, abgerufen am: XY.YX.20XY.
Quelle:
(1) Thomas Stöckle, Grafeneck 1940, Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Silberburg-Verlag, Tübingen 2002 (Ausgabe im StANT vorrätig)
Mit dem abgebildeten Icon, der funktionell auf dem schwarzen Hintergrund der Website unten ganz rechts zu finden ist, gelangt man mit einem Klick wieder ganz nach oben.
Bildlizenzen:
Manche Fotos auf dieser Unterseite sind unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter
gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert, kurz.
Alle Fotos, bei denen Fotograf oder andere Rechteinhaber angegeben sind, und die nicht einer Creative Commons-Lizenz unterliegen oder in public domain sind, sind anders urheberrechtlich geschützt, alle Rechte vorbehalten!.
Daneben gibt es einige Fotos und Abbildungen, die eine Wikimedia Commons-Lizenz haben (Creative Commons Lizenz). Hierfür sind wir nicht die Rechteinhaber. Sie dürfen unter gewissen Bedingungen von jedem verwendet werden. Die bei den Fotos angegebenen Lizenzen werden über diese Links genauer erklärt: eine CC-BY-SA-Lizenz ist z.B. die Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany oder Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported. Genaueres zur Lizenzierung siehe hier.