Euthanasie – der „Gnadentod“ von Menschen, die es nicht mehr wert waren zu leben, wurde ein mörderisches Programm im Nazi-Deutschland. Am 18. August 1939, kurz vor Kriegsbeginn erging aus Berlin ein Runderlass, den Hebammen, ärztliche Leiter von Entbindungsanstalten und Gesundheitsämtern, zur Kenntnis erhielten. Damit war der Kreis der betroffenen Kinder und die Art und Weise, wie sie erfasst werden sollten, festgelegt. Gemeldet werden mussten den Gesundheitsämtern „idiotische“ und missgebildete, aber auch gelähmte Neugeburten und Kinder, anfänglich bis zum Alter von drei Jahren, später bis zum 16. Lebensjahr.(1)
Entsprechende Meldungen gingen auf den Ämtern nur zögernd ein. Die Amtsärzte hatten die eingehenden Meldungen zwar zu überprüfen, sie leiteten sie in der Regel jedoch ohne Nachuntersuchung an den Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden weiter. Die angegebene Anschrift diente als Schein-Briefkasten. In Wirklichkeit kamen die Meldungen in der Abteilung IIb der Kanzlei des Führers an, wo die beiden Nicht-Mediziner Hefelmann und von Hegener eine grobe Vorauswahl trafen. Anschließend gingen die Meldungen im Umlaufverfahren an drei Gutachter, die entschieden, ohne die Kinder selbst gesehen zu haben. Ein Plus- oder ein Minuszeichen bedeuteten Tod oder Lebenlassen. (1)
Im gesamten Reichsgebiet wurden etwa 25 „Kinderfachabteilungen“ in psychiatrischen Kliniken und seltener in Kinderkrankenhäusern eingerichtet. „Häufig erst nach einer längeren Zeit der Beobachtung töteten Ärzte, auch viele Ärztinnen und Krankenschwestern die Kinder mit Hilfe überdosierter Beruhigungsmittel, insbesondere mit Luminal.“(2) Die meisten Kinder starben aber nicht in den Fachabteilungen, von denen 1940 Brandenburg-Görden, Niedermarsberg, Steinhof in Wien und Eglfing-Haar (in Bayern) schon existierten, sondern in den sechs offiziellen Tötungsanstalten wie zum Beispiel in Grafeneck. Die Kinder wurden, da sie zumeist Anstaltsbewohner waren, mit der T4-Aktion erfasst und von der Gekrat (Gemeinnützige Krankentransport GmbH) abtransportiert. (1) Neueren Forschungen zufolge sollen „etwa 4.500 Kinder und Jugendliche in den Gaskammern der Aktion T4 erstickt“ worden sein. Insgesamt verloren durch den Gnadentod im Rahmen der Kinder-Euthanasie „zwischen 1939 und 1945 deutlich mehr als Zehntausend körperlich und geistig behinderte Kinder“ ihr Leben. (2)
Es gab nur wenige Eltern, die ihr Kind „erlöst“ haben wollten. Sie wurden mit dem „Lockmittel“ einer neuzeitlichen Therapie getäuscht. Im internen Schriftverkehr bedeuteten „behandeln“ oder „Therapie“ den Tötungsauftrag. Die Tötung wurde mittels überdosierter Medikamente so gesteuert, dass die Opfer eines scheinbar natürlichen Todes starben. Im Jahr 1941 wurde das Alter der in Frage kommenden Kinder auf 16 Jahre erhöht; anschließend wurden auch Erwachsene einbezogen. (1)
Quellen:
Runderlass-Ausführungen auch im Nürtinger Gesundheitsamt?
Nach den im Münsinger Amtsgericht vorliegenden Strafprozessakten von 1948 (heute im Staatsarchiv Sigmaringen) soll das Gesundheitsamt Nürtingen, das für den ganzen Altkreis zuständig war, in den Jahren 1940 bis 1944 dem Innenministerium in Stuttgart etwa 14 Kinder gemeldet haben.(1a) Allerdings wurden 1948 „trotz eingehenden und zeitraubenden Suchens ... in der Registratur unseres Gesundheitsamtes keine Unterlagen über Kindereuthanasie“ gefunden. „Möglicherweise sind die betreffenden Akten vor dem Einmarsch der Alliierten verbrannt worden.“ (1b)
Im Beisein des stellvertretenden Amtsarztes Dr. Dengler (Vorname hier nicht aufgeführt) fand daraufhin eine zweite Suchaktion statt. Es wurde ein „Aktenstück“ mit Meldungen an den Württembergischen Innenminister gefunden, das unter dem Namen „missgestaltete usw. neugeborene Kinder“ geführt worden war. Ob hiermit die Euthanasie-Akte gemeint war, bleibt unklar. Bei diesem „Aktenstück“ handelte sich wohl um eine Liste mit den Namen von 45 Kindern, für den selben Zeitraum wie oben angegeben. „Um die Namen der 45 Kinder zu erfahren, müssten ca. 20.000 Karteikarten durchgesehen werden, da angeblich auf der Karteikarte vermerkt wurde, was mit den missgestalteten usw. Neugeborenen geschah, bezw. ob diese dem Innenminister gemeldet wurden.“ Von der zeitintensiven Durchsicht der Karteikarten wurde daraufhin Abstand genommen. (1c)
Tätig im hiesigen Gesundheitsamt und für den ganzen Altkreis Nürtingen waren zwischen 1940 und 1945 auch zuständig:
Med. Rat Dr. Walther Wiegand
Von seiner hiesigen Tätigkeit als Leitender Amtsarzt wurde er im Herbst 1939 bis Januar 1943 nach auswärts (Anm. AS: sein Aufenthaltsort geht aus den Unterlagen nicht hervor) abgeordnet. Während seiner Abwesenheit wurde er von drei Kollegen vertreten, sagte er im Juni 1948 im Rahmen seiner Vernehmung aus. Dienstlich, so unterstrich er, habe er weder „mit der Kindereuthanasie noch mit der Aktion Grafeneck etwas zu tun gehabt“. Zudem habe er sogar seinen „sämtlichen Angestellten und Schwestern gegenüber erklärt“, dass die auf dem Gesundheitsamt liegenden Erbgesundheitsakten nicht vernichtet werden dürfen, da diese weiterhin von großer Wichtigkeit seien.(1d)
Med. Rat Dr. Beyerle (Vorname nicht aufgeführt)
Er wurde von Sommer 1941 ein Jahr lang als stellvertretender Amtsarzt vom Gesundheitsamt Balingen nach Nürtingen abgeordnet. Auch er konnte sich, in einer Anfrage des Polizeiamts Nürtingen, 1948 nicht mehr daran erinnern, „ob überhaupt und wie viel Anzeigen über mißgestaltete Kinder ... von Ärzten und Hebammen“ im Amt eingegangen waren. Zudem bestätigte er, dass er keine Kenntnis davon hatte, welche Mitarbeiter welche Akten zu dieser Zeit bearbeiteten.(1e)
Gesundheitspflegerin Anna Bräuninger
Sie war von 1941 bis November 1945 in Nürtingen tätig und machte 1948 auf dem Polizeiamt in Mühlacker folgende Aussage: „Die Listenführung über missgestaltete Kinder ... habe ich selbst geführt. ... Die Kinder habe ich ... wie sie mir von den Hebammen ... gemeldet wurden in eine Liste eingetragen und ... vom Gesundheitsamt aus weiter gemeldet. ... Ich glaube ..., die Meldung wurde an irgendeinen Reichsausschuß weiterberichtet. Die Hebammen waren verpflichtet die Meldung zu erstatten und ich habe nichts weiter unternommen, als über den zuständigen Amtsarzt die Meldung weitergegeben.“ In ihrer Aussage war sie außerdem der Meinung, dass hier bei Kriegsende keine Akten vernichtet worden waren. Sie ergänzte, sie könne sich nicht daran erinnern, dass jemals ein Kind aus dem Kreis weggebracht wurde. Zudem sei sie im Innendienst tätig gewesen und habe somit angeblich keinen Kontakt zu den Kindern und deren Eltern gehabt. (1f)
Gesundheitspflegerin Helene Riek
Sie war von 1940 bis 1943 im Nürtinger Gesundheitsamt tätig. Sie sagte 1948 aus: „Ich selbst war im Besitz einer handgeschriebenen Liste, in der die uns gemeldeten Kinder aufgeführt wurden. Diese Liste habe ich bei meinen Handakten verwahrt.“ Sie gab an, nicht mehr genau zu wissen, wie viele Kinder gemeldet wurden, aber mehr als zehn seien es nicht gewesen, „keinesfalls waren dies über 45 Kinder“. So lange sie in Nürtingen tätig war, „ist mir nur ein einziger derartiger Fall bestimmt in Erinnerung“.(1g) Dieser so genannte „Fall“ war ein Mädchen mit Missbildung an der Halswirbelsäule, das den Krieg überlebte und möglicherweise heute noch in Nürtingen wohnt.
Diese kleine Nürtingerin wurde im Herbst 1941 geboren und ihre Missbildung dem hiesigen Gesundheitsamt gemeldet. Die eingegangene Meldung wurde vom Gesundheitsamt, gemäß dem bereits bekannten Erlass, nach Stuttgart weitergeleitet. Ein Dr. Klein (Vorname nicht aufgeführt) vom Berliner „Reichsausschuß zur Erfassung von erb- u. anlagebedingten schweren Leiden“ schrieb einige Wochen später in einem Brief dem Nürtinger Gesundheitsamt: ... „teile ich Ihnen nach eingehender fachärztlicher Überprüfung des Falles mit, dass ich im Einvernehmen mit dem Reichsminister die Heil-u.Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Haar vor München ... zur Aufnahme des Kindes bestimmt habe. Hier kann auf Grund der durch den Reichsausschuß getroffenen Einrichtungen die beste Pflege und im Rahmen des Möglichen neuzeitliche Therapie durchgeführt werden.“ (1h)
Im Frühling 1942 brachte die Gesundheitspflegerin Helene Riek das Baby nach Eglfing-Haar. „Die Fahrt ist zu diesem Zeitpunkt notwendig, da das Kind ... dringend der ärztlichen Behandlung ... bedarf“, teilte Dr. Beyerle vom Gesundheitsamt, vermutlich in einem Begleitschreiben, mit. Vier Wochen blieb die Kleine dort, dann konnte sie von den Eltern nach Hause zurückgeholt werden. Helene Riek sagte 1948 aus: „dem Gesundheitsamt ... wurde schriftlich mitgeteilt, das die Heilungsaussichten bei dem Kind ... günstig seien und wenn das Kind ein Alter von 4 Jahren erreicht habe, solle es zu einem Spezialisten nach München ... zur Operation gebracht werden.“(1h)
Dieser „Fall“ endete glücklich! Der verantwortungsbewusste Arzt Dr. Oberniedermayr (Vorname nicht aufgeführt) von der Universitäts-Kinderklinik in München gab den Heilungschancen dieser Kleinen eine gute Prognose, obwohl ihr Name schon auf der Meldeliste gestanden hatte.(1h) Andere Familien hatten nicht so viel Glück: Durch die Gräueltaten des NS-Regimes widerfuhr ihnen großes Leid. Von 87 erfassten Kindern aus Württemberg starben im Rahmen des Runderlasses „59 in Eichberg, sechs in Ansbach, sieben in Eglfing-Haar, elf in Kaufbeuren und vier in Wiesloch.“(2) Aus dem Altkreis Nürtingen sind bis heute keine Todesopfer im Rahmen der Kinder-Euthanasie bekannt.
Quellen:
Text: Anne Schaude, November 2013
Zitiervorschlag. Anen Schaude (2013): "Gnadentod" auch schon für Kinder?, in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 24. November 2013, abgerufen am: XY.YX.20XY.
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