Anna Frank geborene Herzer wurde am 25. Juni 1873 als dritte von insgesamt vier Töchtern im badischen Bretten geboren. Dort besaßen ihre Eltern ein Aussteuergeschäft. Der Lebensweg ihrer zweitältesten Schwester führte ebenfalls nach Nürtingen. Frieda Herzer, geboren am 27. August 1870 in Bretten, heiratete am 22. Mai 1895 den Nürtinger Viehhändler Josef Herrmann.

 

Anna Herzer verheiratete sich am 21. April 1898 in ihrem Heimatort mit dem Kaufmann Albert Frank. Schon bald bekamen die beiden zwei Söhne: Leopold (Leo) und Heinrich. Im Jahr 1902 übersiedelte die Familie nach Nürtingen. In ihrem Dialekt unterschied sich Anna Frank noch nach vielen Jahren erkennbar von den eingesessenen Nürtingern.

 

Ein erster schwerer Schicksalsschlag traf Anna Frank, als sich ihr Mann sich am 21. November 1910 in Stuttgart-Cannstatt in der Wohnung seiner Schwiegermutter erschoss.

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Der Erste Weltkrieg traf Anna Frank ebenfalls besonders hart. Im Alter von siebzehn Jahren meldete sich ihr ältester Sohn Leopold als Kriegsfreiwilliger. Nach einer Verwundung erlag er am 19. November 1918 im Lazarett in Freiburg i. Br. einer Rippenfellentzündung. Sein Name ist auf der Gedenktafel für die Toten des Ersten Weltkrieges im alten Nürtinger Friedhof aufgeführt.

 

Auch als Witwe führte Anna Frank das kleine Ladengeschäft weiter, das sich zuerst in der Marktstraße und in der Apothekerstraße befand. Anfang der 20er-Jahre mietete sie sich in der Strohstraße 1 ein. Im Jahr 1928 gab sie ihr Geschäft auf, obwohl sie erst 55 Jahre alt war. Nach der Aufgabe ihres Geschäftes zog Anna Frank 1929 von der Strohstraße in die Katharinenstraße 2 um.

 

Eine aus der Brunnsteige stammende Nürtingerin erinnert sich an Anna Frank: "Sie wohnte in meiner Jugendzeit in der Strohstraße im Dachgeschoss bei einem Friseur Hofholz,... es war ein Geschäftshaus mit Eckeingang. Frau Frank ist nicht ausgewandert in der Nazizeit; sie hatte ein schweres Los, ist später umgezogen, wurde krank, kam fort, dann hörte man nichts mehr von ihr."

 

Dort, schräg gegenüber von ihrer Schwester Frieda Herrmann, bewohnte sie bis 1941 im Haus von Gotthilf Hahn eine Dreizim- merwohnung. In dieser bescheidenen Wohnung führte sie ein karges Witwendasein, so Pinchas Erlanger, früher Peter Erlanger, der sie als Kind besuchte. Nach der Erinnerung von Hedwig Mayer geb. Hahn, der Tochter des damaligen Hauseigentümers, die als junge Frau in der Wohnung über ihr gewohnt hatte, war sie eine „bescheidene, vom Schicksal geschlagene Frau. Bei ihrer Schwester Frieda von gegenüber hat sie noch einen guten Halt gehabt ... Sie konnte so herzhaft lachen, so von innen heraus. Manchmal hat sie Badisch geredet. Dazu ein Beispiel: Um 1930 hat sie ein Zim- mer ihrer Wohnung untervermietet an einen jungen Mann, aus finanziellen Gründen. Sie erzählte uns einmal, er sei nach Mannheim gefahren, um einen Kumpel zu besuchen, und ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie sie sagte: „Er weeß net, wie er heeßt, und weeß net, wo er wohnt, aber g’funna hat er’n doch! Über solche Sachen hat sie so herzlich lachen können… In einem Kurort in der Pfalz, in Bergzabern, hat sie Verwandte gehabt. Da ging sie manchmal hin zu Besuch, und die haben sie wohl auch unterstützt, vielleicht finanziell, vielleicht bloß materiell, genau weiß ich das nicht. Jedenfalls hat sie da zu Weihnachten immer eine Gans bekommen. Wenn sie dann einen guten Braten gemacht hat mit dem Gänseschmalz, hat es bei uns immer so gut gerochen im Treppenhaus. – Sie ging immer in Schwarz und hat oft von ihrem Sohn Leo erzählt, daß er im Krieg gefallen ist…Groß war sie nicht, hatte aber schon ihren Stolz; also selbstbewußt war sie schon. Redlich und ehrlich hat sie sich durchs Leben geschlagen und hat jede Möglichkeit ergriffen, daß sie durchkam. Sie hatte doch ein Kleidergeschäft gehabt. Solange sie bei meinen Eltern wohnte, hat sie noch Gänge gemacht, dahin und dorthin, um noch Guthaben einzutreiben, also das, was die Leute bei ihr angeschrieben hatten. Ja, manchmal hat sie nichts bekommen und manchmal eine Mark oder zwei. Da mußte sie um ihr gutes Recht, um ihr Guthaben betteln…Sie hat viel durchgemacht im Leben.“

 

Eine Nürtingerin, die 1934/35 bei Frieda Herrmann in der Schafstraße 22 ab und zu als Haushaltshilfe tätig war, berichtet: „Siewar eine kleinere Frau. Gleich schräg gegenüber bei Hahns, da hat sie unten gewohnt. Das ist neben dem (heutigen) Elektro-Seybold… Sie ist dann öfters da (bei Herrmanns) gewesen. Sie ist ja bloß über die Straße herübergekommen… Aber wo sie eigentlich dann gelandet ist?... Sie war ein bißchen arm.“

 

Anfang 1937 lebte Anna Frank von monatlich 32,90 Reichsmark Elternrente und Kriegsfürsorge sowie 12 Reichsmark Kleinrentnerunterstützung sowie von Heimarbeit für die Strickwarenfabrik Hermann Lorch, wo sie beispielsweise Knöpfe an Strampelhosen annähte, und hatte höchstens geringe Ersparnisse. Geblieben waren ihr einige wertvolle Eichenmöbel, ein Gobelinsofa und zwei entsprechende Sessel, außerdem weitere Einrichtungsgegenstände gehobenen Standards wie Gobelinbilder, ein Schiedmeyer-Piano und ein Perserteppich sowie Hausrat und Schmuck wie zum Beispiel Garnituren wertvoller gestickter Bett- und Tafelwäsche, ein Hutschenreuther Speise- und Kaffeeservice und WMF- Silberbesteck. Sie entstammte ja einem sehr vermögenden Hause und hatte die Stücke als Aussteuer oder Erbe erhalten gehabt.

 

Bisher schon durch Schicksalsschläge und Leid geprüft, schlug die Keule der NS-Verfolgung bei Anna Frank mehrmals hart – und immer brutaler – zu. In den Schaufenstern und an den Türen der größeren Läden, aber auch an Bäckereien hingen Plakate mit der hässlichen Aufschrift: „Juden unerwünscht“. Unter dieser Schmach, so eine Zeitzeugin, habe Anna Frank sehr gelitten. Wie sie nach Aussage dieser Zeitzeugin behandelt wurde, erhellt folgendes Ereignis, das sich in einer Nürtinger Bäckerei weit vor dem Frühjahr 1938, wohl schon 1935, zutrug: „Ich bin einmal dabei gewesen, da hat sie so geheult. Die sehe ich heute noch vor mir mit ihren Tränen, sie mit ihren grauen Rollenhaaren! Sie war ganz außer sich, hat immer geheult. Anna Frank war abends unter Tränen zur Inhaberin der Bäckerei gekommen und hatte gebeten, ob sie ein Brot haben kann, alle Bäckereien wollten ihr nichts mehr geben“, obwohl sie sie immer dort einkauft hatte. Die Inhaberin erwiderte, bei ihr könne sie immer kommen. „Sie hatte Mitleid.“ Zur Zeitzeugin gewandt – diese war damals wie alle im Bund Deutscher Mädel (BDM) organisiert – bemerkte Frau Frank: „Ihr werdet’s schon noch sehen, wie es euch ergeht, euch Jungen, was da kommt. Das rächt sich. Ihr müßt das mal büßen.“

Seit 1938 musste Anna Frank, wie reichsweit alle Jüdinnen mit nicht eindeutig jüdischen Vornamen, den zusätzlichen Zwangsvornamen Sara führen. Als sie am 11. Januar 1939 die Ausstellung einer Kennkarte beantragte, war diese mit einem großen roten „J“ versehen, damit jeder bei ihrem Gebrauch auf


„Anna Sara Frank Witwe“ – Unterschrift mit dem seit1938 von Jüdinnen zu führenden Zwangsvornamen „Sara“, Januar 1939

 

Seit 1938 musste Anna Frank, wie reichsweit alle Jüdinnen mit nicht eindeutig jüdischen Vornamen, den zusätzlichen Zwangsvornamen Sara führen. Als sie am 11. Januar 1939 die Ausstellung einer Kennkarte beantragte, war diese mit einem großen roten „J“ versehen, damit jeder bei ihrem Gebrauch auf den ersten Blick wußte, dass er es mit einer Jüdin zu tun hatte. Das Bürgermeisteramt Nürtingen lieferte als zuständige Ortspolizeibehörde folgende Personenbeschreibung dazu: „Gestalt: untersetzt, Gesichtsform: schmal, Farbe der Augen: dunkelbraun, Farbe des Haares: weiß.“

 

Im Frühjahr 1939 büsste Anna Frank im Zuge der den Juden auferlegten „Silberabgabe“ wohl ihren gesamten Schmuck sowie ihr Silberbesteck ein. Durch diese Form staatlicher Ausplünderung verlor Anna Frank wertvolle Familienstücke, darunter goldene Uhren, Ringe und Ketten und einen innen vergoldeten Pokal, die sie an die Reichsbank in Stuttgart abliefern mußte.

 

Am 9. Februar 1940 – es näherte sich langsam die Zeit, in der systematisch damit begonnen wurde, die Städte und Dörfer Württembergs, wie es damals hieß, „judenfrei“ zu machen –, meldete der Bürgermeister dem Landrat in Nürtingen, um eine Übersicht über die zur Zeit noch im Kreis Nürtingen vorhandenen Juden zu bekommen: „Auf den Erlass vom 5. des Monats berichte ich, daß in hiesiger Kreisstadt noch folgende Jüdin wohnhaft ist: Anna Frank, verwitwete Heimarbeiterin, geboren 25. 6. 1873 in Bretten/Baden, wohnhaft hier Katharinenstraße“.

„Noch“ war Anna Frank in Nürtingen wohnhaft – „noch“. Die Absicht der Nazis war es, auch Nürtingen „judenfrei“ zu machen – ein zynischer Begriff aus dem Wörterbuch des Unmenschen.

 

Zu dieser Zeit war der Parteimann Walter Klemm seit einem Jahr Bürgermeister bzw. „Gemeindeleiter“, wie es damals hieß, und Helmuth Maier war seit mehr als vier Jahren Landrat. Kreisleiter der NSDAP war Eugen Wahler.

 

Am 23. September 1941 musste Anna Frank für kurze Zeit nochmals ihre Nürtinger Wohnung wechseln und in die Schmidstraße 15 umziehen.

 

In dem kleinen einstöckigen Häuschen im Stadtteil Braike, ihrer neuen Unterkunft, die sie offenbar mit zwei anderen Parteien zu teilen hatte, stand ihr jedenfalls nicht mehr viel Platz zur Verfügung, vermutlich nur noch ein Zimmer. Auf die Mitnahme eines Großteils ihres Hausrates wird sie jetzt bereits verzichtet haben müssen. Dieser Umzug steht wohl nicht zufällig in engem zeitlichem Zusammenhang mit einer weiteren Verfolgungsmaßnahme: Am 19. September 1941 war die Polizeiverordnung in Kraft getreten, nach der fortan alle über sechs Jahre alten Juden in der Öffentlichkeit den sogenannten Judenstern tragen mussten – auf der linken Brustseite etwa in Herzhöhe jederzeit sichtbar und festgenäht. Das Zeichen in Form eines handtellergroßen, sechszackigen, grellgelben Sterns war schwarz umrandet und trug die Aufschrift „Jude“ in schwarzen Buchstaben, die so gestaltet waren, dass sie hebräische Schriftzeichen nachäfften, aber dennoch gut lesbar waren. Mit dem Judenstern gekennzeichnet, durfte Anna Frank ohne polizeiliche Erlaubnis Nürtingen nicht verlassen. Auf die Kennzeichnungspflicht wurde vier Tage vor ihrem Inkrafttreten auch im Nürtinger Tagblatt mit einer kurzen Notiz hingewiesen. Am 27. September erschien dann ein längerer, historisch argumentierender Artikel zur Rechtfertigung dieses Auflebens der düstersten Seiten des Mittelalters. Öffentliche Stigmatisierung und Isolierung sowie Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit gingen dem Abtransport in die Vernichtung auch im Nürtinger Fall der Anna Frank – vor aller Augen – voraus.

 

Knapp einen Monat nach dem Umzug in die Schmidstraße, am 15. Oktober 1941, wurde Anna Frank mit einem Sammeltransport nach Haigerloch gebracht. In der Meldung des Nürtinger Bürgermeisteramtes vom selben Tag liest sich das so, als wäre sie freiwillig umgezogen. „Die bisher hier wohnhafte Jüdin Anna Sara Frank, geboren 25. 7. 1873 in Bretten, hat sich am 13. des Monats hier polizeilich abgemeldet und wird heute nach Haigerloch, Haus 203 verziehen.“ Doch dieser „Wegzug“ war nicht freiwillig, wie die Formulierung vermuten lassen könnte. Er wurde von der NSDAP, der Nazipartei, veranlasst und gefordert, so Bürgermeister Weilenmann in einem Schreiben an den überlebenden Sohn am 18. September 1946.

 

Nürtinger haben jedenfalls Einrichtungsgegenstände aus dem Besitz von Anna Frank im Verlauf der gegen sie eingeleiteten Zwangsmaßnahmen als „günstige Gelegenheit“ erworben. Anna Frank eröffnete bei der Hohenzollerischen Landesbank in Haigerloch ein Konto. Das dabei angelegte Geld wird unter anderem vom Erlös der in Nürtingen verschleuderten Möbel gestammt haben. Von Albert Ullmann, einem in Haigerloch ansässigen Juden, mietete sie – vermutlich zusammen mit ihrer Schwester Sophie Dreifuß- Herzer – eine Räumlichkeit in der Pfleghofgasse 203. Die Pfleghofgasse liegt im Stadtteil Haag, dem so genannten „Judenhaag“, und zieht sich parallel zur Hauptstraße Haigerlochs hin; sie verband auch das Getto Haag mit jener Hauptstraße. Die zwangsweise Umsiedlung nach Haigerloch kam für Anna Frank einem Todesurteil nahe. In dieses Städtchen mit seinem um die Synagoge gelegenen jüdischen Wohnviertel („Judenhaag“) wurden zu dieser Zeit jüdische Einwohner aus der näheren Umgebung, aber auch aus Stuttgart oder Heilbronn gettoartig zusammengelegt. Wie in anderen ländlichen Gemeinden mit noch verhältnismäßig starker jüdischer Bevölkerung wurden sie dort zur Vorbereitung ihrer Deportation verkehrs- und überwa- chungsgünstig konzentriert. Der erste Transport von Haigerloch nach dem Sammelpunkt Stuttgart-Killesberg, dem Anna Frank wegen ihres Alters nicht zugeteilt wurde, erfolgte am 27. November 1941. Von Stuttgart aus wurden vier Tage danach etwa 1000 Juden mit einem Deportationszug nach Riga gebracht. Nur etwa 30 von ihnen haben die Verhältnisse in den Vernichtungslagern bis zum Kriegsende überlebt, meist nur deshalb, weil man aus ihnen noch das Letzte an Arbeitskraft herausquetschen wollte. Bis August 1942 wurden alle in Haigerloch lebenden Juden zur Ermordung in den Osten „deportiert“. Die zuletzt „Deportierten“ wurden am 22. August 1942 nach Theresienstadt deportiert, und ihre Schwester Sophie Dreifuß-Herzer wurde von dort am 26. September 1942 wie ein Stück Vieh erbarmungslos weiter „nach dem Osten“ verfrachtet, wahrscheinlich in das 120 Kilometer nördlich von Warschau gelegene Treblinka – in die Ermordung unter fürchterlichen Umständen.

 

Doch bevor es dazu kam, Anfang März 1942, erlitt Anna Frank in Haigerloch einen schweren Unfall. Bei einem Sturz brach sie sich die Hüfte. Da Juden von sogenannten arischen Ärzten nicht behandelt wurden und es keine jüdischen Ärzte mehr in der Umgebung gab, blieb die 68jährige drei Wochen lang ohne Hilfe. Ihr Sohn Henry teilte nach dem Krieg mit, dass seine Mutter sich durch die Verweigerung der Universitätsklinik in Tübingen eine tödliche Infektion zugezogen habe. Selbst bei Schwerverletzten wurde damals von nichtjüdischen Sanitätern oder Ärzten Hilfe unterlassen oder nur betont oberflächlich und grob geleistet. In bereits sehr kritischem Zustand wurde Anna Frank ins Jüdische Krankenhaus Frankfurt am Main überführt. Ein Sanitätswagen brachte sie von Stuttgart aus mit zwei anderen schwerkranken Frauen dorthin, da in der näheren Umgebung kein anderes jüdisches Krankenhaus bestand. Der Zeitraum von drei Wochen zwischen dem Unfall und dem Abtransport mit dem Sanitätswagen resultierte daraus, dass für eine einzelne jüdische Patientin diese lange Fahrt nicht gemacht wurde.

 

Anna Frank wurde am 3. April 1942 in bereits bewusstlosem Zustand in Frankfurt eingeliefert. Zwei Tage später, am 5. April 1942, dem 18. Nissan, verstarb sie um 19.40 Uhr, ohne ihr Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Die jüdischen Ärzte sagten damals, dass keine Hilfe mehr möglich gewesen sei, weil Anna Frank viel zu spät eingeliefert worden war. Eine jüdische Krankenschwester, die die Schoa überlebt hatte, hat dies später dem Sohn von Anna Frank genau schildern können.

 

Am 10. April 1942 wurde sie auf dem Friedhof Eckenheimer Landstraße 238 begraben.

 

Das jüdische Krankenhaus in Frankfurt am Main, in dem Anna Frank nicht mehr gerettet werden konnte, hatte bei seiner Entstehung 1914 zu den bestausgestatteten Krankenanstalten in der Stadt gehört. Das Krankenhaus in Frankfurt am Main, in dem Anna Frank nicht mehr gerettet werden konnte, hatte bei seiner Entstehung 1914 zu den bestausgestatteten Krankenanstalten in der Stadt gehört. Durch die sogenannten Judenverträge vom 1. April 1939 wurde es den beiden zu einer „jüdischen Gemeinde“ zwangsvereinigten Frankfurter Kultusge- meinschaften genommen, von der Stadt Frankfurt aber pachtweise für die Dauer von drei Jahren nochmals überlassen. Kurz vor dem Eintreffen von Anna Frank, am 31. März 1942, waren die Verträge und die Nutzungsfrist abgelaufen gewesen. Damals lebten in Frankfurt noch 6817 Juden. Am 30. September 1942 waren es noch 817. Im April 1943 ließ Gauleiter Sprenger über den Rundfunk verkünden, dass Frankfurt „judenfrei“ sei. Schon Anfang 1942 hatte der Leiter des städtischen Gesundheitsamtes im Blick auf die Freimachung des Jüdischen Krankenhauses geschrieben: „Der Vertreter der Gestapo hat seine Unterstützung in Aussicht gestellt, daß die Insassen des jüdischen Krankenhauses bei der nächsten Judenaussiedlung erfaßt werden.“ Im Sommer 1942 geschah dies dann auch: Die Insassen wurden in die Ermordung verschleppt. Es wären also auch hier keine günstigen Umstände für eine Versorgung der Patientin Anna Frank mehr gegeben gewesen. Die Ermordung war Programm.

 


Das Schicksal von Anna Frank wurde lange Zeit in Nürtingen nicht, und wenn, dann nur fehlerhaft oder fragmentarisch wahrgenommen. Die 1993 erschienene „Nürtinger Chronik in Daten und Bildern“ etwa verschweigt sie als Opfer der national- sozialistischen Judenverfolgung völlig.

 

Während das Nürtinger Bürgermeisteramt1946 in einem Schreiben an das Landratsamt noch richtigerweise davon sprach, dass Anna Frank 1941 mit einem Sammeltransport nach Haigerloch kam, liest es sich in den städtischen Akten der frühen 60er Jahre so, als ob sie der Neckarstadt im September1941 im Zuge eines regulären und freiwilligen Umzuges den Rücken gekehrt hätte.

 

Auch als die Archivdirektion Stuttgart 1962 ihre landesweite Umfrage nach den jüdischen Opfern der NS-Verfolgung durchführte, übermittelte man seitens der Stadt nur die kargen Daten aus den Melde- und Standesregistern, ohne sich die Mühe zu machen, nähere Auskünfte über die Umstände des Wegzugs von Nürtingen oder gar das weitere Schicksal von Anna Frank einzuholen. Die vorformulierte Frage, ob der Umzug freiwillig war oder es sich um eine Zwangseinweisung in die neue Gemeinde im Zuge der von den nationalsozialistischen Dienststellen verfügten Wohnungszusammenlegung von Juden handelte – genau dies traf ja bei Anna Frank zu –, ließ man einfach offen. Auch ohne eigene Nachforschungen wurde 1967 jedoch der Oberbürgermeister von Henry Frank, dem Sohn von Anna Frank, in Kenntnis gesetzt: „Als Dank dafür (den Patriotis- mus ihrer Söhne im Ersten Weltkrieg) hat meine Mutter, die fast ihr ganzes Leben in Nürtingen verbrachte, im 1000jährigen Reich mit dem Leben bezahlt, nachdem sie als einzige Jüdin  am Platz zwangsweise nach Haigerloch deportiert wurde und dort infolge eines Unfalls durch die Verweigerung der Universitäts-Klinik in Tübingen sich eine tödliche Infektion zuzog. Ich habe eine Zeugin hier in den USA, die beim Tod meiner Mutter anwesend war. Es gilt auch hier wieder die bekannte Entschuldigung: ‚Wir waren keine Nazis.‘ Aber niemand ist für meine Mutter eingetreten, auch von den sogenannten Nicht-Nazis.“

 

Hätte sich jemand für das Schicksal von Anna Frank interessiert, so hätte er schon einige Jahre zuvor in den oben angeführten Fragebögen, nachdem sie von der Archivdirektion Stuttgart um Informationen aus anderen Quellen ergänzt worden waren, Anna Frank als ein Opfer der NS-Verfolgung entdecken können.

 

Erst Dorothea Mahler wertete 1977/78 im Zuge ihrer Zulassungsarbeit über Nürtingen in den Jahren 1933–39 die baden-württembergische Dokumentation der Judenschicksale aus; ihr gebührt in der Nürtinger Ortsgeschichte das große Verdienst, erstes Licht in das trübe Kapitel der Judenverfolgung und damit auch das Schicksal von Anna Frank gebracht zu haben. Da ihre Arbeit jedoch unveröffentlicht blieb, konnte es passieren, dass in den zum 50. Jahrestag der „Reichspogromnacht“ (1988) veröffentlichten ortsgeschichtlichen Artikeln  Anna Frank als Nürtinger Opfer der Judenverfolgung übersehen wurde.

 

Erst das 1989 vom SPD-Ortsverein Nürtingen herausgegebene Buch „Das andere Nürtingen“ stellt Anna Frank dann als zweites Nürtinger Opfer wieder eindeutig neben Josef Herrmann.

 

Auch in Haigerloch fehlt Anna Franks Name auf den Gedenksteinen.