Josef Hermann

"Einen alten Baum verpflanzt man nicht..."

von Manuel Werner, Nürtingen

Josef Herrmann, um 1930, Foto: privat, alle Rechte vorbehalten!
Josef Herrmann, um 1930, Foto: privat, alle Rechte vorbehalten!

Josef Herrmann war der erstgeborene Sohn des Viehhändlers Leopold Herrmann und dessen Frau Fanny geborene Liebmann. Er kam am 4. November des Jahres 1866 im badischen Flehingen zur Welt.

 

Von Flehingen nach Nürtingen

 

Flehingen war der Wohnort seiner Großeltern mütterlicherseits. Schon bald übersiedelte Josef Herrmann mit seinen Eltern nach Nürtingen, der Herkunftsstadt seiner Mutter Fanny Herrmann geborene Liebmann.

 

Von Heinrich zu Josef

 

Der bürgerliche Vorname von Josef Herrmann lautete zunächst Heinrich. Bereits als Schulkind wurde er jedoch Josef genannt. Vielleicht war dies sein hebräischer Name, den er seit dem achten Tag nach seiner Geburt neben dem bürgerlichen Namen trug. Im Jahr 1910 jedenfalls ließ er sich den Namen "Josef", mit dem er zuvor schon Schriftstücke unterzeichnet hatte, vom Nürtinger Amtsgericht auch amtlich als Rufnamen zuerkennen.

Ein guter Schüler

 

Josef Herrmann besuchte die Volksschule in Nürtingen. Im Jahr 1874 wechselte er in das neue Nürtinger Reallyzeum über. Seinem Vater Leopold war eine gute Schulbildung der Kinder wichtig. Im Schuljahr 1874/75 ist Josef Herrmann in der Klassenliste der aus 58 Schülern bestehenden Sexta des Reallyzeums bereits mit seinem „zweiten“ Vornamen aufgeführt. Er war ein recht guter Schüler, denn in der Quinta im Schuljahr 1876/77 stand Josef Herrmann unter 36  Mitschülern leistungsmäßig an siebter beziehungsweise im zweiten Halbjahr an achter Stelle. Nach der Schule wird er wohl gleich in den väterlichen Viehhandelsbetrieb eingetreten sein.

 

Freiwillger beim Militär

 

1886–87 diente er, dank seines höheren Bildungsabschlusses, als Einjährig-Freiwilliger beim Grenadierregiment Königin Olga Nr. 119.

 

Viehhandelsgeschäft in der Laiblinstegstraße

 

Noch zu Lebzeiten seines Vaters machte sich Josef Herrmann beruflich selbständig, nachdem er am 22. Mai 1895 in Bretten die von dort stammende Frieda Herzer geheiratet hatte. Damit war für den knapp Dreißigjährigen die letzte Voraussetzung zur Gründung eines eigenen Hausstandes erfüllt. Bald darauf, 1896, eröffnete er ein Viehhandelsgeschäfts in der Laiblinstegstraße.

 

Als einer der Nürtinger Honoratioren Im Liederkranz

 

Im selben Jahr trat er in den Nürtinger Liederkranz ein, dem zahlreiche Honoratioren der Stadt angehörten. Geschäftsinhaber, Fabrikanten und Männer aus dem Bankwesen waren ebenso Mitglieder wie Beamte der Stadt und des Oberamtes sowie Lehrer.

 

Flora, Ludwig und Fanny

 

Josef und Frieda Herrmann bekamen drei Kinder: Flora  (Jahrgang 1897), Ludwig (Jahrgang 1902), und Fanny (Jahrgang 1904). Bis um 1910 wohnte die Familie in der damaligen Laiblinstegstraße 6 (heute Laiblinstegstraße 7–9).

Der Nürtinger Viehmarkplatz zwischen Neckarbrücke, Farrenstall und Turnhalle auf der "Schreibere", 1934, aus WERNER 1998, S. 58
Der Nürtinger Viehmarkplatz zwischen Neckarbrücke, Farrenstall und Turnhalle auf der "Schreibere", 1934, aus WERNER 1998, S. 58

Ein respektierter Viehhändler

 

Im Jahr 1904 beantragte Josef Herrmann beim Stadtschultheißenamt die Verlegung der Nürtinger Viehmarkttermine. Sein Wort hatte offensichtlich Gewicht, denn dem Antrag wurde stattgegeben. 1906 wurden die Termine der Nürtinger Krämer- und Viehmärkte neu festgelegt. Fortan fanden sie jeden dritten Donnerstag im Monat statt. Außer auf christliche sollten die Märkte so wenig wie möglich auf jüdische Feiertage fallen. Auch der Platz des Viehmarktes wurde nach Josef Herrmanns Vorschlägen verändert, nachdem er sich folgendermaßen an die Stadt gewandt hatte: Der Viehmarkt wäre auf dem jetzigen Platze zu belassen, jedoch anders einzuteilen. Wenn jemand heute durch den Markt geht, finde er, dass "das Vieh ineinander eingeteilt dasteht und ohne Unterschied der Sorten durcheinandersteht, mit  Ausnahme der Ochsen. Das Durchkommen ist oft sehr erschwert und keinerlei Ordnung vorhanden. Mein Vorschlag zur Verbesserung ginge da hin: Ochsen und Zugstiere auf dem jetzgen Platz außerhalb der Schreibere-Wiese, wodurch für diese Sorten Vieh ausreichend Platz geschaffen wäre, so daß sich Menschen und Vieh ausdehnen können und ein jeder Käufer die Ochsen und Stiere bequem her ausführen und mustern kann, ohne wie früher die Neckarbrück hiezu benützen zu müssen. Das Jungvieh sowie Kühe und Kalbeln wären in zwei getrennten Abteilungen auf der SchreibereWiese aufzustellen. Auf dem Platze selbst wären Stangen zu errichten, ähnlich wie in Kirchheim. Dort ist die Einrichtung auf dem Viehmarktplatz sehr praktisch. Es ist jedem Gelegenheit geboten, sein Tier anzubinden und können sich die Käufer in den Gängen zwischen den Stangen bequem bewegen. Dieselbe Einrichtung ist in vielen Städten zu treffen: Biberach, Balingen, Rottweil, Ravensburg etc. Giengen a. d. Brenz ist sogar so weit gegangen und hat für Kühe eine gedeckte Halle errichtet. Der Platz, welcher heute auf der Schreibere zur Verfügung gestellt ist, ist vollständig un zureichend, falls, wie im letzten Jahr häufig der Fall war, von Händlern größere Transporte Vieh zu Markt gebracht werden..." 

 

Großes Ansehen

 

Auch sonst genoss Josef Herrmann in Nürtingen großes Ansehen.

 

Aufsichtsratsmitglied der Handwerkerbank (heute Volksbank)

 

War schon die Mitgliedschaft im Nürtinger Liederkranz ein Indiz dafür, dass Josef Herrmann zu den Honoratioren gehörte, so ist seine Funktion als Aufsichtsratsmitglied in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen. Ab 1908 war er Aufsichtsratsmitglied der Handwerkerbank Nürtingen, der späteren Volksbank. Dazu war er auch anderweitig in die Nürtinger Gesellschaft eingebunden.

 

Mitglied im Verschönerungsverein

 

Seit 1912, war er wie seine beiden Brüder Ferdinand und Heinrich Herrmann, Mitglied im Verschönerungsverein.

 

Mitglied der Deutschen Volkspartei

 

In der Zeit der Weimarer Republik gehörte Josef Herrmann der Deutschen Volkspartei (DVP) an, der Partei Gustav Stresemanns. Die DVP war eine der beiden liberalen Mittelparteien, die in Württemberg jedoch nur eine untergeordnetere Rolle spielte, mit einem durchaus zwiespältigen Verhältnis zur ersten deutschen Republik. In ihrem Parteiprogramm von 1919 befürwortete sie unter anderem die legale Wiederherstellung des Kaisertums und betonte den nationalen Machtstaatsgedanken.

Schafstraße 22 um 1935, Josef und Frieda Herrmann bewohnten das erste Obergeschoss, aus WERNER 1998, S. 59
Schafstraße 22 um 1935, Josef und Frieda Herrmann bewohnten das erste Obergeschoss, aus WERNER 1998, S. 59

Umzug in die Schafstraße 22 in der Vendelau/Kirchheimer Vorstadt

 

1911 plante Josef Herrmann, für sich und seine fünfköpfige Familie in der Marienstraße ein zweistöckiges Wohn-, Stall- und Scheunengebäude zu bauen. Er entschied sich dann aber dafür, ein schon weitgehend fertiges reines Wohnhaus, in der Schafstraße 22 auszubauen. Es steht heute noch.

 

Außerdem erwarb er in unmittelbarer Nachbarschaft davon das Gebäude Kanalstraße 3, wo er in einem 1912 angebauten Stall das Vieh, mit dem er handelte, unterbringen konnte.

 

"Gottlieb, was hasch?

 

Die Nürtingerin Friedel Herrmann, Jahrgang 1911, deren Eltern in der Nähe des Stalls von Josef Herrmann eine kleine Landwirtschaft betrieben, erinnert sich, dass dieser immer ein paar Worte wechselte, wenn er bei ihnen vorbeikam: "Grüß Gott!, Au scho unterwegs?" Wenn die Stalltüre bei ihnen offenstand, pflegte er – ganz geschäftstüchtiger Viehhändler – mit den Worten "Gottlieb, was hasch?" (= Gottlieb, was hast Du mir anzubieten?) hereinzuschauen. "Da kann ich mir den Josef noch gut vorstellen. Er taxierte das Vieh, hat immer sein Spazierstöckle da beigehabt. Damit hat er dann die Kühe von einer Seite auf die andere herumdirigiert, mit dem Stöckle, daß sie einen Schritt nach links oder nach rechts machten, damit er sie von allen Seiten anschauen konnte. Mit der ausgestreckten rechten sagte er: 'Komm, schlag ein!'" Aber ihr Vater wollte prinzipiell keine Geschäfte mit jüdischen Viehhändlern machen. Als ihr Vater im Ersten Weltkrieg im Feld war, musste die Familie aus Not wohl oder übel eine Kuh verkaufen. Josef Herrmann war der Käufer. Auf einer Fotografie aus dieser Zeit steht er, versehen mit seiner Uhrkette, im Hintergrund. Mit der (nichtjüdischen) Familie Herrmann ist auch Friedel Herrmann abgebildet. In der Schafstraße 22 wohnte Josef Herrmann bis Juni 1936. Seit 1931 war der Kaufmann Wilhelm Stingle Hauseigentümer.

Frieda und Josef Herrmann in den 1930er-Jahren, aus WERNER 1998, S. 78
Frieda und Josef Herrmann in den 1930er-Jahren, aus WERNER 1998, S. 78

Ein gutes Verhältnis - Gesprochen haben die Herrmann "wie wir auch"

 

"Die Familie Stingle, die hat unten gewohnt. Die Herrmanns haben oben gewohnt. Es war ein gutes Verhältnis." Gesprochen haben die Herrmanns "wie wir auch", so erinnert sich Luise Fischer, die 1934/35 als Aushilfe im Haushalt der Familie Herrmann tätig war. Sie seien gut angesehen gewesen und hätten es zu einem gewissen Wohlstand gebracht gehabt.

 

Gute Wiesen in der „Ruthmännin“ am Fuße des Ersbergs

 

Außer den erwähnten Gebäuden haben Josef Herrmann gute Wiesen am Fuße des Ersbergs in der „Ruthmännin“ gehört. Im November 1925 verfassten Josef und Frieda Herrrmann ihr gemeinschaftliches Testament. Einige Wochen vorher hatte die jüngste Tochter Fanny, sechs Jahre nach ihrer älteren Schwester Flora, geheiratet. Als Beitrag zu einem sicheren Grundstock zur Familiengründung hatten die Eltern Geldbeträge beigesteuert und waren nun offensichtlich um eine gerechte Erbregelung bemüht.

 
Fanny Erlanger geborene Herrmann, eine Tochter von Josef und Frieda Herrmann, 1950er-Jahre, und Pinchas Erlanger (früher: Peter Erlanger), ein Enkel von Frieda und Josef Herrmann, beide in Shavey Zion, Israel, aus WERNER 1998, S. 85
Fanny Erlanger geborene Herrmann, eine Tochter von Josef und Frieda Herrmann, 1950er-Jahre, und Pinchas Erlanger (früher: Peter Erlanger), ein Enkel von Frieda und Josef Herrmann, beide in Shavey Zion, Israel, aus WERNER 1998, S. 85

Die Enkel Peter und Suse - Pinchas und Schoschana

 

Die Ehe der älteren Tochter Flora war kinderlos. Fanny hingegen bekam zehn Monate nach der Hochzeit einen Sohn, Peter. Zwei Jahre später erblickte Enkelkind Suse das Licht der Welt. Später in Israel nannten sie sich Pinchas und Schoschana. Wie alle Großväter war Josef Herrmann stolz auf seine zwei Enkelkinder, die oft und gerne aus Ravensburg zu Besuch kamen, wo Fanny und ihr Mann Dr. Ludwig Erlanger auf dem Burachhof wohnten. Peter Erlanger, heute Pinchas Erlanger, erinnert sich: "Vor dem Haus in der Schafstraße war in den 30er Jahren eine kleine Anlage mit einem funktionierenden Ziehbrunnen, für uns Kinder natürlich eine Attraktion." Hiermit meint er "das Rosengärtle", wo heute ein elektrisches Umspannwerk hinter einer Einfriedung aus Hecken steht. Pinchas Erlanger weiter: "Die Schafstraße bestand damals stadteinwärts aus Bauernhöfen mit Scheunen und Kuhställen. Ochsen dienten als Zugtiere. Für uns aus dem schwäbischen Oberland, wo man nur Pferde einspannte, war das etwas Besonderes... Der Großvater, wie ich ihn im Gedächtnis habe, war eine große und stattliche Erscheinung. Er war ein großer Patriot und bedauerte zeitlebens, wegen seines damals schon fortgeschrittenen Alters nicht im Ersten Weltkrieg gedient zu haben. Stolz trug er die eiserne Uhrkette um den Bauch mit der Inschrift: „Gold gab ich für Eisen“. Die goldene Kette hatte er 1914 abgeliefert, um die Kriegswirtschaft zu unterstützen... Der Großvater nahm uns oft zum Einkaufen mit und stellte meine Schwester und mich allen Verkäufern vor. Er sorgte dafür, daß wir im Kolonialwarenladen immer Bonbons und beim Metzger das obligatorische Rädle Wurst bekamen. Am Bahnübergang versäumten wir nie die Abfahrt des NeuffenBähnleins, und er grüßte den Lokführer mit dem Spazierstock an der Hutkrempe. Wir platzten vor Stolz, wenn der Lokführer diesen Salut erwiderte."

 

Religöse Juden

 

Aus Berichten von Zeitzeuginnen weiß man, dass Josef Herrmann trotz seines beruflichen Kontakts mit Bauern und seiner häufigen Geschäftsreisen kein Schweinefleisch gegessen hat: "Der war da stur!" Im „Löwen“ in Sielmingen etwa hatte man sich schon auf ihn und seine jüdischen Kollegen eingestellt und hielt Siedfleisch für sie bereit. Auch sonst wurden im Hause Josef Herrmann die jüdischen Bräuche gehalten und die jüdischen Feste begangen. Enkel Pinchas Erlanger erinnert sich, dass der Großvater jedes Jahr bei ihnen auf dem Burachhof den Seder abhielt. Das heißt, alljährlich im Frühling zu Beginn des Pesachfestes, im allgemeinen Sprachgebrauch auch Passah genannt, saß er als Familienoberhaupt am Ehrenplatz des Sedertisches. Er leitete in dieser häuslichen Feier den Ablauf des Abends. Besonders eindrücklich ist diese Feier für die Kinder, die vielfältig in dieses fröhliche Fest der Befreiung einbezogen sind. Auch den„Schabbes“ am Ende jeder Woche segnete Josef Herrmann nach gutem Brauch am Freitagabend ein. Er sprach den Kiddusch, das Weihegebet über dem Becher mit Wein, und nach dem Abendessen das Tischgebet. Er erfüllte den verbreiteten jüdischen Spruch mit Leben: "Freitag zur Nacht ist jeder Jude ein König. Das ganze Stübele lacht und die Menschen alle sind fröhlich."

 

Ruhestand und gesundheitliche Beeinträchtigungen

 

Viehhandel ist harte Arbeit. Josef Herrmann war schon seit einiger Zeit gesundheitlich beeinträchtigt, sodass er um 1930 an die Aufgabe seines Geschäftes denken musste. Mit Mitte Sechzig war es ja auch nicht zu früh für den Ruhestand. Den Stall in der Kanalstraße verkaufte er an seinen langjährigen Angestellten Christian Altdörfer. Offiziell stellte Josef Herrmann seinen Betrieb am 31. Juli 1931 ein. Auch sein Wohnhaus in der Schafstraße verkaufte Josef Herrmann in diesem Jahr, die Gründe dafür kennen wir nicht. Dieser Verkauf, der schon vor der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte, hatte nichts mit der Ausnutzung einer Notlage zu tun. Der Käufer, Wilhelm Stingle, war Buchhalter beim Sägewerk Löffler und hatte zu diesem Zeitpunkt mit seiner Frau bereits im Erdgeschoss des Hauses gewohnt. In der schon erwähnten NS-Broschüre „Deutscher – kaufe nicht beim Juden!“ aus dem Jahr 1935 ist die Viehhandlung Josef Herrmann noch als zu meidendes Geschäft aufgelistet. Des Rätsels Lösung dürfte darin liegen, dass die Überwachungsberichte des Nürtinger Bürgermeisters Hermann Weilenmann und des Landrates Karl Benz ihn zu jener Zeit noch mit der Berufsbezeichnung „Viehhändler“ führten, auch nachdem sein Betrieb schon eingestellt war. Im Titel der Boykottbroschüre wird übrigens der falsche Gegensatz von „deutsch“ und „jüdisch“ verwandt – Josef Herrmann war aber beides. Luise Fischer erzählt ebenfalls, Josef Herrmann habe zu dieser Zeit, anders als sein Bruder Heinrich, ganz gewiß nicht mehr gearbeitet: "Der Josef nicht mehr, der war schon alt. Der Josef ist schon angeschlagen gewesen. Der hat’s am Herz gehabt. Er war ein bisschen kleiner, ein bißchen gedrungen. Er hat dann manchmal die Anfälle gehabt, die Herzanfälle. Da hat er dann (nach Luft) geschnappt."

 

"Zweimal zwei sind vier und um eine bescheiß' ich Sie, sind also fünf."

 

Pinchas Erlanger (Jahrgang1926) schreibt in einem Brief an Manuel Werner: "So lange ich mich erinnern kann, war der Großvater herzkrank. Die Großeltern fuhren jedes Jahr für ein paar Wochen zur Kur nach Bad Nauheim. Der Großvater hatte des öfteren Anfälle von Angina pectoris. Er legte sich aufs Sofa und rang nach Luft. 'Der Opa schnauft!' ging der Alarm und die Oma kam schnell mit denTropfen. Übrigens: Geraucht hat er auch mit seiner Angina pectoris... Stolz erzählte er, wie sein arzt ihm das Rauchen verbot, er den Arzt mürbe machte, bis er ihm zwei Zigarren täglich genehmigte. Darauf sagte er zum Arzt: 'Zweimal zwei sind vier und um eine bescheiß' ich Sie, sind also fünf.' Und bei den fünf Zigarren pro Tag ist es dann geblieben."

Die nationalsozialistische Hetze und der sofortige Verlust des Anstands bei den meisten damaligen Nürtingern verletzt Josef Herrmann

 

Was mag sich Josef Herrmann gedacht haben und wie mag er sich gefühlt haben, als er im Nürtinger Tagblatt Zeilen wie die folgenden las: "Juden haben die russische Revolution gemacht und haben den bolschewistischen Staat errichtet mit dem Ziel der Weltrevolution, zur Unterdrückung der Gojims (Nichtjuden)... Ihm (dem Juden) verdanken wir Deutschen den Kriegsausgang mit seiner Leidenszeit bis 1933."

 

Wie muß es für ihn gewesen sein, wenn er lesen musste, dass Juden schädliche Krankheitserreger seien, die in ihren Wirtsvölkern zersetzend wirkten, dass Juden Söhne des Satans seien? Gegen solche und andere antisemitische Hetze konnte er sich nicht mehr zur Wehr setzen. Und Josef Herrmann wird wohl mehr und mehr klargeworden sein, dass beileibe nicht „nur“ die Ostjuden, sondern auch und gerade Leute wie er gemeint waren. Was mag er empfunden haben, als er sich in Nürtingen den Schildern „Juden unerwünscht“ an den vertrauten Läden, an gebracht von ihm bekannten Geschäftsleu ten, gegenübersehen musste?

 

Eine Haushaltshilfe aus Reudern, die bei Herrmanns beschäftigt war, wurde als „Judenmagd“ bezeichnet. Luise Fischer allerdings kann sich nicht erinnern, dass sie Schwierigkeiten bekommen hätte, als sie1934/35 im Haushalt von Frieda und Josef Herrmann tätig war: "Die Nachbarschaft, die war ja mit denen auch bekannt. Die waren ja nicht böse, die Leute. Die haben einem ja nichts getan."

 

Auch das Verhältnis zur Familie Stingle war bis zuletzt gut. Zum Einen bezeugt dies Frau Fischer. Zum Zweiten sprechen auch die Fotografien, die Josef Herrmann den Hauseigentümern und Mitbewohnern bei seinem Abschied 1936 zur Erinnerung geschenkt hat, dafür.

 

Mehr und mehr ging die Unbefangenheit allerdings verloren, besonders nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ vom September 1935, die Juden zu Bürgern zweiter Klasse machten und die seit 1933 schon erfolgten Diskriminierungen auf eine legale Grundlage stellten. Verordnete Bosheiten und persönliche Schicksalsschläge folgten im Leben Josef Herrmanns nun dicht aufeinander. Schmerzhaft war aber auch, wie die meisten Nürtinger nach Beginn der NS-Zeit sofort ihren Anstand Juden gegenüber verloren.

Josef Herrmann mit H., einem der drei Enkelkinder (Name anonymisiert), vor seiner Wohnung in der Schafstraße, Anfang 1936, aus WERNER 1998, S. 62
Josef Herrmann mit H., einem der drei Enkelkinder (Name anonymisiert), vor seiner Wohnung in der Schafstraße, Anfang 1936, aus WERNER 1998, S. 62

Die Frau des Sohnes Lothar verlässt ihn und ihren Sohn H. wegen der Nürnberger Rassengesetze

 

Die„Mischehe“ seines Sohnes Ludwig wurde – wohl unter dem direkten Eindruck der Nürnberger Gesetze – bereits Mitte November 1935 geschieden. Dessen Frau war als nicht jüdisch eingestuft worden, konnte offensichtlich den Druck nicht aushalten und eines Morgens lag der Ehering auf dem Nachttisch, die Ehefrau war weg und Kind wie Mann blieben allein zurück.

 

Viereinhalb Monate später, am 2. April 1936, meldete der Nürtinger Bürgermeister Weilenmann dem Oberamt anläßlich einer  Überwachung von Juden, daß Ludwig Herrmann sein zweijähriges Kind H. (Name annoymisert) bei den Großeltern gelassen habe. 

 

Frieda Herrmann stirbt

Frieda Herrmann mit einem ihrer drei Enkelkinder, H. (Name anonymisiert) in der Schafstraße 22, Anfang 1936, kurz vor ihrem Tod, aus WERNER 1998, S. 83
Frieda Herrmann mit einem ihrer drei Enkelkinder, H. (Name anonymisiert) in der Schafstraße 22, Anfang 1936, kurz vor ihrem Tod, aus WERNER 1998, S. 83

Kurz darauf, am 12. April, starb Frieda Herrmann während eines Besuchs zu Pesach bei der Familie von Tochter Fanny in Burach bei Ravensburg. Sie wurde in einem Doppelgrab des jüdischen Steigfriedhofes in Cannstatt beigesetzt. Das noch zu belegende Reservegrab ließ Josef Herrmann bei dem Israelitischen Gemeinde Vorsteheramt Stuttgart Cannstatt für sich vorsehen. 

 

1936: Josef Herrmann verlässt Nürtingen und zieht nach Ravensburg

 

Am 23. Juni 1936 übergab der nun auf sich alleine gestellte Josef Herrmann sein bis dahin bei ihm lebendes jüngstes Enkelkind der Tochter Flora Essinger und ihrem Mann in Ulm und verließ Nürtingen, um in die Nähe seiner zweiten Tochter, Fanny Erlanger, nach Ravensburg-Burach überzusiedeln.

 

Die Geschwister Stegmann: katholisch, ohne antisemitische Gesinnung und voll Zivilcourage

 

In der Unteren Burachstraße bezog er ein Zimmer bei den drei Schwestern Anna, Frieda und Maria Stegmann. Die Möglichkeit, in Nürtingen eine Haushälterin oder andere Unterstützung zu erhalten, bestand für ihn seit den Nürnberger Gesetzen nicht mehr. Am 26. Juni 1936 meldete sich Josef Herrmann in Ravensburg polizeilich an. Die Familienregister wurden bereits am 9. Juli von Nürtingen nach Ravensburg übergeben. Der Enkel Pinchas Erlanger erinnert sich: „Der Großvater übersiedelte nach Ravensburg und lebte in einem gemieteten Zimmer in der Nähe unseres Anwesens. (Nach dem Tod seiner Frau) konnte er schon wegen seines Gesundheitszustandes nicht alleine sein und er entschloss sich, nach Ravensburg in die Nähe seiner Tochter zu ziehen. Minuten von unserem Anwesen entfernt mietete er sich bei den Geschwistern Stegmann ein. Das waren drei unverheiratete Frauen, die einen Kolonialwarenladen betrieben, in dem wir von jeher unsere Lebensmittel kauften. Sie waren streng katholisch, fern von jeglichem Antisemitismus, bewiesen viel Zivilcourage bei der Vermietung des Zimmers an einen Juden, auch indem sie ihn bis zu unserem letzten Tag in Ravensburg treu bedienten und betreuten. Er machte seinen täglichen Spaziergang über unseren Hof nach Weingarten, wo er Stammgast zum Nachmittagskaffee in einem der Cafés wurde."

 

Ausschluss aus dem Allmandnutzungsrecht

 

Dreieinhalb Monate nach seinem Wegzug teilte Bürgermeister Weilenmann dem Nürtinger Gemeinderat mit, dass Josef Herrmann von seinen Nutzungsrechten als Gemeindebürger, einem Allmandteil und dem Bezug des Bürgerholzes, ausgeschlossen sei. Juden seien nach der Deutschen Gemeindeordnung nicht mehr Gemeindebürger, und deswegen werde den hier ansässigen Juden Josef und Heinrich Herrmann rückwirkend die Holznutzung (auf 1. April 1936) und die Allmandnutzung (auf 1. Oktober 1936) entzogen. Im Protokoll heißt es weiter: „Die Beigeordneten wie auch die Ratsherren nehmen hievon mit Befriedigung Kenntnis“.

 

Immer wieder Nürtingen

 

Obwohl er nun in Ravensburg lebte, kam Josef Herrmann immer wieder in die vertraute Stadt Nürtingen, an der er wohl gehangen hat. Luise Fischer erinnert sich, ihm öfters auf der Straße begegnet zu sein. Josef Herrmann hatte in seiner Heimatstadt, in der er als ehemals angesehener und dann verfemter Bürger gelebt hatte, noch seine Besitz und Vermögensverhältnisse zu ordnen. Vermutlich hat er auch seinen Bruder, Heinrich Herrmann, besucht. Vom 7. Dezember 1936 ist im Stadtarchiv Nürtingen ein Kaufvertrag zwischen Heinrich Josef Herrmann, früher Viehhändler, jetzt Privatmann in Ravensburg, Untere Burachstraße 78, handelnd zugleich als Alleinerbe seiner verstorbenen Ehefrau und Bürgermeister Hermann Weilenmann als Vertreter der Stadt erhalten. Josef Herrmann verkaufte danach für 26 660 Reichsmark an die Stadtgemeinde Nürtingen seine Wiesen auf der Ruthmännin, bestehend aus Parzellen im Umfang von fast einem Hektar. Bereits einen Tag später erwarb er von Maurermeister Schall das Gebäude Vendelaustraße 46 um 20 000 Reichsmark. Am 27. Dezember 1937 gab er mit diesem Haus, für das er dann 21 300 Reichsmark erhielt, seinen letzten Nürtinger Besitz auf. Wofür verwendete Josef Herrmann dieses Geld? Benötigte er es für sich, für die Pflegekosten? Gab er es seinen Kindern, damit sie auswandern, dem Unheil entkommen konnten? Wollte er sich seinen Lebensabend sichern? Doch er wurde schändlich betrogen.

 

Die Atmosphäre in Nürtingen wird eisiger

 

Die Atmosphäre in Nürtingen war 1936/37 schon ganz anders als noch 1934, das geht auch aus der Aussage von Luise Fischer hervor: „Wissen Sie, er ist dann hier noch herumgelaufen in Nürtingen. Aber können Sie so einen Mann verstecken? Das will etwas heißen, wenn da eine Frau irgendeinen versteckt hat. Sie haben ja nie gewusst, wer da aufpasst. Die Leute sehen ja weiß was! Also, da hat er mir Leid getan, als er da noch da war.“

 

Die Pogromnacht in Ravensburg

 

In Ravensburg wurde Josef Herrmann – vermutlich am 10. November 1938 im Zusammenhang mit dem von den Nazis inszenierten Pogrom – verhaftet, kam aber bald wieder frei. Bei der an das Finanzamt Weingarten zu zahlenden Judenabgabe in Höhe von 8500 Reichsmark, die in seiner weiter unten zitierten Beschwerde vom 7. März 1940 genannt wird, handelte es sich um die so genannte Sühneleistung für die von den Nazis inszenierten Verwüstungen der Pogromnacht. In einer aller Logik und jeglichem Rechtsempfinden Hohn sprechender Art „baten“ die NS Machthaber ihre Opfer für die von ihnen, den Tätern, inszenierten Schäden und Bosheiten der schändlichen Novembernacht 1938 auch noch zur Kasse.

 

Der Novemberpogrom verlief nach den Erinnerungen seines Enkels Pinchas Erlanger, der allerdings in Ravensburg nicht Augenzeuge war, für Josef Herrmann offensichtlich vergleichsweise glimpflich: „Die SA-Helden fuhren im Morgengrauen mit abgeblendeten Lichtern auf dem Hof (der Eltern) vor, warfen ein paar Fenster ein und verzogen sich fluchtartig. Mein Großvater wurde wie alle jüdischen Männer in Ravensburg verhaftet und ins Gestapogefängnis in Ravensburg eingeliefert. Um bei der Wahrheit zu bleiben, war die Behandlung dort sehr menschlich und keinem der Häftlinge wurde ein Haar gekrümmt.“ Nach ein paar Tagen wurden die Ravensburger Juden aus der Haft entlassen. Die beiden Praktikanten des Burachhofes jedoch, junge jüdische Menschen, die sich auf die Auswanderung nach Palästina und eine landwirtschaftliche Tätigkeit dort vorbereiteten, kamen als Auswärtige nach Ulm und von dort als sogenannte Schutzhäftlinge ins KZ Dachau. Doch auch für Josef Herrmann gingen die Schikanen weiter.

 

Kennkarte, ausgestellt auf "Josef Israel Herrmann", Dezember 1938, Ausschnitt, aus WERNER 1998, S. 64
Kennkarte, ausgestellt auf "Josef Israel Herrmann", Dezember 1938, Ausschnitt, aus WERNER 1998, S. 64

Zwangsvorname Israel

 

Auf den Namen Josef Israel Herrmann musste er sich am 19. Dezember 1938 seine Kennkarte ausstellen lassen. Nicht nur, dass er mit dem Zwangsvornamen belegt worden war, über die handschriftlichen Eintragungen war ein großes rotes „J“ gestempelt, damit jeder gleich wusste, dass man es mit einem Juden zu tun hatte. Vom Ravensburger Bürgermeister als Ortspolizeibehörde und dem dortigen Landratsamt wurde er genauso überwacht wie zuvor in Nürtingen.

 

Josef Herrmann "emigrierte" nicht

 

Trotz aller Verfolgungsmaßnahmen verließ Josef Herrmann sein Heimatland nicht. Seine in Ravensburg lebende Tochter verließ mit ihrer Familie Deutschland und ging nach Israel. Josef Herrmann blieb zurück.

 

Jüdisches Altersheim Herrlingen

 

Am 1. August 1939 musste er ins jüdische Altersheim nach Herrlingen, wenige Kilometer westlich von Ulm. Das Heim war im Frühjahr 1939 vom Oberrat der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg an der Stelle eines kurz zuvor aufgelösten jüdischen Landschulheimes errichtet worden. Es sollte helfen, die zahlreichen alten Menschen aufzunehmen, die nach der „Auswanderung“ ihrer Angehörigen alleine zurückgeblieben waren. Vielleicht spielte bei der Gründung aber auch – in einem ganz anderen Sinn – Druck der Gestapo eine Rolle, denn reichsweit gab es damals schon Bestrebungen, Juden in besonderen Häusern („Judenhäusern“) zusammenzupferchen, um die spätere „Entjudung“ der Gemeinden dann einfacher durchführen zu können. Und tatsächlich wurden im Sommer 1939 schon viele alte Menschen ins Heim aufgenommen, die man nach Aufhebung des Mieterschutzes für Juden aus ihren bisherigen Wohnungen und Wohngemeinden vertrieben hatte.

 

Hetzkampagne in Herrlingen

 

Im Ort Herrlingen selbst gab es im Vorfeld der Einrichtung des Heims eine Hetzkampagne gegen die zukünftigen Bewohner. Bürgermeister Alfons Brielmaier beschwerte sich gegenüber dem Landrat in Ulm, dass „die alten Juden, welche den Weltkrieg und den Zusammenbruch Deutschlands 1918 mit verschuldet haben, nicht zum Lohn dafür als Ruhesitz fürs Alter einen der sonnigsten, landschaftlich hervorragendsten Plätze vor den Toren Ulms erhalten sollten… Die alten Juden sollen büßen für die Verbrechen der Talmud-Lehre. Barackenlager in der sumpfigsten Gegend wären für die alten Juden gerade gut genug; je bälder sie absterben würden, umso besser.“ Trotz dieser bedrohlichen Atmosphäre dürfte auch Josef Herrmann gehofft haben, sich mit dem Einkauf ins Altersheim einen gewissen Schutz und lebenslängliche Betreuung erworben zu haben.

 

Akribische Überwachung

 

Sechzehn Tage nach seiner  Ankunft in Herrlingen  mußte  Josef  Herrmann wie die anderen Heimbewohner einen Vernehmungsbogen zur Überwachung von     Juden ausfüllen. Die Heimverwaltung gab diese Bögen in doppelter Ausfertigung an das Bürgermeisteramt weiter. Ein Exemplar verblieb bei der Gemeindeverwaltung, das zweite wurde noch am selben Tag dem Landrat in Ulm vorgelegt und war nach Ergänzung der dortigen „Judenkartei“ zur Weiterleitung an die Gestapo in Stuttgart bestimmt. Diese hatte hierdurch den landesweiten Überblick und wusste jederzeit über den Aufenthaltsort der jüdischen Einwohner, Vermögensverhältnisse und anderes Bescheid. Genauestens wurde nach den Namen und dem Aufenthaltsort der nächsten Verwandten gefragt. Zwei von Josef Herrmanns Kindern waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Sicherheit:

 

  • Flora Essinger und ihr Mann lebten bereits in Ramat-Gan, Palästina
  • Ludwig Herrmann war in Kikuyu, Britisch-Ostafrika, der Ort liegt im heutigen Kenia
  • Fanny Erlanger jedoch wohnte noch auf dem Burachhof bei Ravensburg.

 

Ebenfalls wurde gefragt, ob der Verhörte "arische" Hausgehilfinnen beschäftigt habe. Dies bejahte Josef Herrmann wahrheitsgemäß, gab aber, obwohl auf dem Formblatt vorgesehen, keine Personalien an. Auf eine weitere Frage gab er an, er sei weder Zionist noch Assimilant. Wahrscheinlich wusste Josef  Herrmann, dass   die Assimilanten gerade deswegen, weil sie in erster Linie deutsch sein wollten, von den Nazis als besonders zu bekämpfen angesehen wurden. Als Besitz gab er etwa 20 000 Reichsmark in Wertpapieren an, als monatliches Einkommen des vorhergehenden Jahres 90 Reichsmark, jetzt aber nur noch 70  Reichsmark. Der Grund seines Aufenthaltswechsels sei die Unterbringung in einem geschlossenen Kreis von Juden und die Verpflegung durch die Verwaltung des Heimes.

 

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs als "Reichsfeind" eingestuft

 

Nach dem Kriegsbeginn mit dem deutschen Überfall auf Polen verschärfte sich die Situation auch für Josef  Herrmann. Als Jude galt er nun als Reichsfeind. 

Von Anfang an war der Krieg auch von schlimmen Verbrechen gegen polnische Juden begleitet. Die deutschen Juden wurden so behandelt, als seien sie Verbündete des Feindes, die in den eigenen Reihen wirkten. Allen Juden wurde ein nächtliches Ausgehverbot von 20 Uhr abends bis 7 Uhr morgens auferlegt. Die jüdischen Heiminsassen durften im Falle eines Luftangriffes nicht in öffentliche Luftschutzräume flüchten. Auf Veranlassung der Gestapo in Stuttgart suchte der Herrlinger Gendarm am 23. September 1939 – es war Jom Kippur – das Altersheim auf und zog die Radios von Josef Herrmann und einem Mitbewohner ein. Mit der Beschlagnahme sollte unter anderem das Abhören von sogenannten Feindsendern unmöglich gemacht werden. Für die Altersheimbewohner bedeutete dieser Verlust, dass sie von nun an vom äußeren Geschehen weitgehend abgeschnitten waren. Die beschlagnahmten Radiogeräte blieben bis Anfang November 1939 bei der Gendarmerie, bevor sie an die SS abgeliefert wurden. Außerdem wurden die Lebensmittelrationen der Heimbewohner durch die diversen Sonderbestimmungen schrittweise gekürzt, sodass sich im folgenden die Verpflegungssituation der Zwangsgemeinschaft immer mehr verschlechterte.

 

Massive Belästigungen

 

Josef Herrmann, der im Vergleich zu anderen Heimbewohnern noch ein rüstiger Rentner war, unternahm häufig längere Spaziergänge in den Wäldern der Umgebung. Allerdings kam es im Herbst 1939 zu massiven Belästigungen der alten Leute durch Herrlinger Jugendliche. Sie beschimpften und verhöhnten die Menschen, die im Alter ihrer Großväter und Großmütter waren, und bewarfen sie sogar mit Steinen – auch die alten Frauen! Ein Rädelsführer wurde vom Leiter der Volksschule gedeckt. Die eingeschüchterten und vogelfreien Altersheimbewohner trauten sich nach den Pöbeleien und Tätlichkeiten immer seltener auf die Straße. Außerdem mussten die alten Leute die Ausgangssperre beachten. So lebten die zu Fremdkörpern Degradierten immer zurückgezogener. Josef Herrmanns Kontakte beschränkten sich zwangsläufig auf den Kreis seiner Schicksalsgenossen.

 

Tochter Fanny und die Enkel gehen nach Palästina - "Einen alten Baum verpflanzt man nicht."

 

Ende November 1939 kamen für seine noch in Deutschland weilende Tochter Fanny Erlanger und deren Familie endlich die lang ersehnten Visa für Palästina. Pinchas Erlanger schreibt: "Wir mußten ganz überstürzt abreisen. Der Großvater wollte Deutschland nicht verlassen, obwohl die Möglichkeit dafür bestand. Sein Argument: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Weder er noch wir ahnten, welches Schicksal ihm bevorstand. Wir verabschiedeten uns von ihm auf dem Bahnhof in Ulm. Der Abschied war unsäglich schwer, und viele Tränen flossen. Der Abschied war fürs Leben. Geblieben ist die wehmütige Erinnerung an einen lieben und liebenden Großvater, an einen edlen Menschen und einen von den sechs Millionen."

Aus einer nach der NS-Zeit durchgeführten Auflistung der Schicksale der von Stuttgart aus nach Theresienstadt Deportierten, aus WERNER 1998, S. 70
Aus einer nach der NS-Zeit durchgeführten Auflistung der Schicksale der von Stuttgart aus nach Theresienstadt Deportierten, aus WERNER 1998, S. 70

Das "jüdische Altersheim" wird aufgelöst, die Einwohner nach Oberstotzingen überführt

 

Seit Ende 1941 liefen die Vorbereitungen zur Auflösung des jüdischen Altersheimes Herrlingen. Die Bewohner sollten zusammen mit den verbliebenen Ulmer Juden in das ganz heruntergekommene und nur notdürftig instandgesetzte Oberstotzinger Schloss eingewiesen werden. Oberstotzingen liegt knapp 30 Kilometer nordöstlich von Herrlingen im Landkreis Heidenheim. Ab dem 10. Juni 1942 mußten die Heimbewohner Herrlingen verlassen. Am 9. Juli kam die Reihe an Josef Herrmann. Wie die anderen Mitbewohner konnte er nur sehr wenig persönliches Inventar mitnehmen. Die Verlegung wurde von den Heimbewohnern mit großer Verzweiflung aufgenommen. Es war ihnen bewusst, dass Oberstotzingen für sie nur eine Übergangsstation darstellen sollte und die Absicht bestand, sie in absehbarer Zeit im „jüdischen Reichsaltersheim“ Theresienstadt anzusiedeln.

 

"Entjudung": Das Sammellager Oberstotzingen wird aufgelöst

 

Bereits am 14. August 1942 verfügte der Leiter der Staatspolizeileitstelle Stuttgart, Friedrich Mußgay, die vollständige Auflösung des Sammellagers im Oberstotzinger Schloß. Alle seine Bewohner sollten einem Transport mit Juden "dem Protektorat" zugeteilt werden, der Stuttgart am 22. August 1942 verlassen sollte. In den Tagen vor dem Abtransport wurden alle noch über finanzielle Mittel verfügenden ehemaligen Altersheimbewohner gezwungen, „Heimeinkaufsverträge“ für Theresienstadt abzuschließen. In Wirklichkeit war dies eine getarnte staatliche Ausplünderung. Josef Herrmann müssen auf diese Weise fast 15 000 Reichsmark abgepresst worden sein. Mußgay verwies in seinem Erlaß vom14. August im Blick auf das zu beachtende Verfahren auf eine Anweisung, die er bei zwei vorhergehenden Deportationen aus Württemberg und Hohenzollern im Frühjahr1942 erteilt hatte. Darin heißt es entlarvend: "Die in der letzten Zeit in einzelnen Gebieten durchgeführte Umsiedlung von Juden nach dem Osten stellt den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark und im Protektorat Böhmen und Mähren dar... Ausfälle (durch Selbstmord usw.) sind unverzüglich mitzuteilen." Zweck der Maßnahme sei die "Entjudung der einzelnen Kreise." Durch die Ortspolizeibehörde sei eine eingehende Durchsuchung jeder Person unter anderem nach Bargeld, Devisen und Schmuck vorzunehmen. Zu einem reibungslosen Transport hierher (nach Stuttgart) sind eine entsprechende Anzahl Polizeibeamter bereitzuhalten. Verschärfend kam die Anweisung hinzu: "Ein Ausscheiden eines namhaft ge machten Teilnehmers aus irgendeinem Grunde, Krankheit, Gebrechlichkeit usw. kann nicht erfolgen. Vorkehrungen für den Transport der sogenannten Transportunfähigen sind rechtzeitig zu treffen, so daß sämtliche eingeteilten Juden rechtzeitig in Stuttgart eintreffen." Als Gepäck wurde je dem Betroffenen nur ein Koffer oder Rucksack zugestanden, der etwas Kleidung, Bettzeug und Essgeschirr enthalten durfte. Mit den verschleiernden und zynischen Begriffen „Umsiedlung nach dem Osten“, „Endlösung der Judenfrage“ und „Entjudung“ wardie planmäßige Deportation und massenhafte Ermordung gemeint.

 

Jammern und Wehklagen

 

Am 19. August frühmorgens, noch bei Dunkelheit, wurden die meist gebrechlichen Lagerinsassen von Oberstotzinger Dorfbewohnern mit Fuhrwerken zum Bahnhof in Nie derstotzingen gebracht.134 Die Juden waren sehr verzweifelt und der Abtransport ging keineswegs so still und unbemerkt vonstatten, wie es sich die Gestapo wohl gewünscht hatte. Ihr Jammern und Wehklagen ging mir durch Mark und Bein. Noch heute habe ich das Schreien der alten Leute in den Ohren und kann es wohl nie wieder vergessen, so erinnerte sich ein Zeitzeuge nach über 50 Jahren. Dies spricht dafür, dass die alten Menschen eine Ahnung davon hatten, was sie in Theresienstadt erwartete.

 

Wie ein Heuschreckenschwarm

 

Für die Bevölkerung aus der Umgebung galten die Deportierten als auf Nimmerwiedersehen verschwunden, denn sie fiel bald wie ein Heuschreckenschwarm über das unbewohnte Schloss her. Bevor das Finanzamt Heidenheim, wie vorgesehen, die zurückgelassenen Möbel zu Geld machen konnte, bereicherten sich die Leute aus dem Ort und den umliegenden Dörfern daran.

 

Von Niederstotzingen nach Stuttgart

 

Auf dem Bahnhof Niederstotzingen wiesen Polizisten die Bewohner des Sammellagers Oberstotzingen zwei Eisenbahnzügen zu, die von der Reichsbahndirektion Stuttgart trotz großer kriegsbedingter Probleme zur Verfügung gestellt worden waren. Der Vernichtung der deutschen Juden wurde offen sichtlich die gleiche Priorität zugemessen wie dem Vernichtungskrieg im Osten. Alles war genauestens geplant, man hatte sogar besondere Fahrpläne erstellt. Der eine Zug verließ Niederstotzingen um 5.19 Uhr mit den ersten 45 Juden, erreichte den Ulmer Bahnhof um 6.04 Uhr, hatte dort Aufenthalt bis 8.10 Uhr und erreichte Stuttgart um 11.41Uhr. Der zweite Transport mit den übrigen etwa 50 Juden folgte um 7.35 Uhr, hielt in Ulm vier Stunden von 8.16 Uhr bis 12.15 Uhr und kam in Stuttgart um 14.34 Uhr an.

 

Auf den Killesberg

 

In Stuttgart wurden die Oberstotzinger Ju den, darunter außer Josef Herrmann auch sein Schwager Abraham Preßburger, mit Omnibussen auf den Killesberg gebracht. Dort wurden sie von der Gestapo übernom men, in die Ausstellungshallen verbracht und einer entwürdigenden Leibesvisitation unterzogen. Sie trafen auf eine große Zahl von Leidensgenossen, die aus anderen Gemeinden Württembergs hierher gebracht worden waren. Die folgenden Nächte muß ten die 1076, vielfach gebrechlichen, Menschen zusammengepfercht unter katastrophalen Umständen zubringen. In der ersten Nacht kamen acht der alten Menschen um. An der Durchführung der Deportation musste sich die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ beteiligen. Der auf dem Killesberg anwesende Leiter der Stuttgarter Bezirksstelle, Ernst Moos, hatte wohl den Auftrag erhalten, die Zusammengesperrten zu beruhigen. Nach seinen Erzählungen – so hörten die zur Deportation Vorgesehenen – werde man in Theresienstadt bevorzugt behandelt sowie ein gepflegtes Lager und gute Lebensverhältnisse antreffen. Zweifel daran mußten allerdings sogar die Gutgläubigsten befallen. Am 21. August wurden die Gehbehinderten und Kranken mit Lastwagen zu einem außerhalb Stuttgarts gelegenen Güterbahnhof gebracht und in Viehwaggons verladen, in denen sie, bewacht durch SS, die folgende Nacht verbringen mussten. Die als gehfähig Eingestuften mußten am nächsten Tag zum Güterbahnhof marschieren. Der Marsch der vielen hundert erfolgte am hellichten Tag, und die mit dem grellgelben „Judenstern“ Versehenen gingen ihren Weg in glühender Hitze und unter scharfer Bewachung, vor aller Augen.

 

Von Stuttgart nach Theresienstadt

 

Nach dem „Verladen“ plombierten die Bewacher die Waggons, und der Zug setzte sich in Bewegung. Es war der Deptationstransport mit der Bezeichnung XIII/1. Sein Ziel war Theresienstadt. Dort hatte Josef Herrmann nur noch etwas über einen Monat zu leben. Nach dreißigstündiger Fahrt unter Bewachung von SS und SD kam der Zug mit den Deportierten aus Stuttgart am 23. August in Theresienstadt an. Die nach der österreichischen Herrscherin Maria Theresia benannte Festung und Militärstadt lag zwischen Dresden und Prag nahe der Mündung der Eger in die Elbe. Den mit zahlreichen leerstehenden Kasernen ausgestatteten und ringsum befestigten Ort richteten die Nationalsozialisten im November 1941 als Gettolager ein, in das zunächst böhmische und mährische Juden deportiert wurden.

 

"Unbarmherzig schlugen die Gendarmen mit ihren Reitpeitschen auf die Armen ein"

 

Resi Weglein, eine als Krankenschwester eingeteilte Ulmer Jüdin (Jahrgang 1894), die das Konzentrationslarge Theresienstadt überlebte, berichtet über die Ankunft des Transports aus Stuttgart, dem sie selbst angehörte: "Als der Zug hielt, stiegen zuerst die SS-Männer mit Sturmbannführer Koch aus. Auf dem Bahnsteig stand Lagerkommandant Dr. Seidl mit weiteren SS-Männern und sehr vielen tschechischen Gendarmen. Junge tschechische Juden übernahmen das Ausladen... Zwei sehr schlechte Lastkraftwagen standen zur Beförderung (der) Kranken bereit. Damit ja niemand eine Bequemlichkeit hatte, mußten die Kranken stehen, gleichgültig ob sie dazu in der Lage waren oder nicht. In rasendem Tempo fuhren die Wagen nach Theresienstadt, wo die Menschen halb tot in der sogenannten Schleuse abgeliefert wurden. Eines der Fahrzeuge war in so schlechtem Zustand, daß es Tote und Verletzte gab, als während der Fahrt die Ladefläche durchbrach. Der Zug der Gehfähigen: Bei glühender Hitze, beladen mit dem verschiedenen Handgepäck, marschierten zwi schen 900 und 1000 Menschen nach Theresienstadt (bis zum Lager waren es etwa drei Kilometer). Es waren traurige Gestalten, die unter Bewachung der tschechischen Gendarmen (sie unterstanden der SS) über die Landstraße mehr krochen als gingen. Viele brachen unterwegs zusammen. Aber unbarmherzig schlugen die Gendarmen mit ihren Reitpeitschen auf die Armen ein, oder sie hetzten ihre großen Schäferhunde auf sie."

 

Nach zwei stündigem Marsch gelangten die Deportierten am Abend ins eigentliche Gettolager. In der „Schleuse“ hatten sie sich stundenlangen, entwürdigenden Prozeduren zu unterziehen. Alle Habe von irgendwelchem Wert wurde ihnen abgenommen: Thermosflaschen, Seifen, Konserven, Taschenlampen, insbesondere sämtliche Medikamente. Josef Herrmann aber war auf seine Herzmedizin dringend angewiesen. Die alten Menschen mußten sich nackt ausziehen und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, bei der ihnen oft noch Teile der Kleidung geraubt wurden. Auch ihr Gepäck sahen sie nie wieder. Nach Mitternacht wurden sie zusammengetrieben und in die „Dresdener Kaserne“ gebracht. Angesichts der zukünftigen Unterbringung und des dort herrschenden „Infernos“ brachen spätestens jetzt alle Hoffnungen zu sammen, die sich vielleicht noch bei dem einen oder anderen an die „Heimeinkaufs verträge“ und ihre Versprechungen geknüpft haben mochten.

 

"Die Leute lagen auf dem Boden"

 

 

Die Überlebende Johanna Gottschalk, zeitweise einmal stellvertretende Leiterin des Herrlinger Altersheimes und selbst Angehörige des Stuttgarter Transports, berichtete.

"Der größte Teil der Transportteilnehmer wurde ... auf dem Dachboden untergebracht, d. h. die Leute lagen auf dem Boden, in den ersten Wochen ohne irgendetwas; nur das, was sie auf dem Leibe hatten. Die Klosetts waren in einem tieferen Stockwerk, und die wenigsten der alten Menschen konnten sie rechtzeitig erreichen, zumal die meisten von ihnen in den ersten Tagen an Durchfall erkrankten. Es gab zu der Zeit natürlich keinerlei Desinfektionsmittel, nicht einmal Eimer oder Putztücher. So war es für das Pflegepersonal sehr schwer, den Dachboden sauber zu halten. Die alten Leuten erkrankten fast alle und ... in den ersten Wochen (starben) täg lich zwischen 180 und 200 Menschen!"

 

Josef Herrmann kam zu einem Zeitpunkt nach Theresienstadt, als die Lebensbedin gungen hier immer katastrophalere Ausmaße annahmen. Die Zahl der Menschen im Lager, das als Festungsstadt zuvor einmal 7000 Einwohner hatte, stieg seit dem Winter 1941/42 monatlich um etwa 6000 an. Im Juli 1942 hatte sich dieser Zuwachs auf mehr als 25 000 gesteigert. Ende August war folglich die Überfüllung so schlimm, daß für die aus Stuttgart Deportierten nur noch ein Quartier wie der erwähnte Dachboden zur Verfügung stand. Mitte September 1942 erreichte die Belegung des Gettolagers mit über 58000 Menschen ihren absoluten Höchststand. Nach dem Willen Heydrichs hatte sich der Stuttgarter Transport überwiegend aus alten Menschen zusammengesetzt; das Durch schnittsalter etwa der von Oberstotzingen aus Deportierten lag bei fast 70 Jahren. Die wenigsten von ihnen konnten sich selbst versorgen, und das mit ihnen deportierte Pflegepersonal war in dem ungeheuren Chaos hoffnungslos überfordert. Stundenlandes Anstehen für meist verdorbenes Essen war den gebrechlichen Menschen meist nicht mehr möglich. Und selbst wer das noch konnte, litt bei den knappen Rationen unbeschreiblichen Hunger. Der Mangel an Hygiene führte dazu, daß sich Infektionskrankhei ten wie Typhus und Ruhr rasch ausbreiteten. Unter den deprimierten und schnell verfal lenden alten Menschen setzte ein Massen sterben ein. Von 82 ehemaligen Herrlinger Altersheimbewohnern starb fast jeder Dritte in den ersten Wochen.

 

"Die Menschen starben friedlos"

 

Hans Günther Adler, der selbst zu den Lagerinsassen gehörte, schreibt über den Sommer 1942: "Die Menschen starben friedlos und unbehütet, ohne Zuspruch, ohne freundlichen Blick. Dieser Jammer unterschied sich in nichts von dem Verenden im „Revier“ eines jeden Konzen trationslagers – es war ein namenloses Sterben. Das alles hatte tödliche Methode. Die SS, der das Gettolager unterstand, wusste ja, in was für Verhältnisse hinein abertausende Juden mit immer neuen Transporten absichtlich geschickt wurden; mehr noch: Sie erzeugte bewusst diese todbringenden Zustände.

 

"Ich konnte nie begreifen, daß Menschen soviel Vergnügen daran haben, ihre Mitmenschen leiden zu sehen."

 

Resi Weglein erinnert sich: "Die SS mußte die größte Freude daran haben, uns aus zuhungern. Anders sind alle Vorgänge nicht zu erklären. Ich konnte nie begreifen, daß Menschen soviel Vergnügen daran haben, ihre Mitmenschen leiden zu sehen."

 

Treblinka

 

Als die Verhältnisse im Lager die Propagandawirkung des „Altersgettos“ Theresienstadt gefährdeten, sorgte die SS nicht für einen raschen Stopp der Zugänge, sondern deportierte vom 19. September bis Ende Oktober1942 in einer großangelegten Aktion etwa 21 000 Theresienstädter Gefangene, die wegen ihres Alters und Gesundheitszustandes eine besondere Belastung für das Lager dar stellten, in die neu eingerichteten Massenvernichtungslager im Osten, vor allem nach Treblinka. In Treblinka wurden (seit Juli1942) die Verschleppten in der Regel gleich nach ihrer Ankunft ermordet – in fingierten Duschkammern mit Hilfe der Abgase von Dieselmotoren.

 

Die SS in Theresienstadt entschied im Einzelfall selbst, wer von den über 65 Jahre alten Gefangenen, die sich hatten registrieren lassen müssen, im Lager in der Festung bleiben sollte und wer sofort in die Vernichtung kam, die sie als Verlegung in ein anderes Getto zu tarnen versuchte.

 

"Furchtbare Ereignisse"

 

Hans Günther Adler bescheibt in seinem Buch über Theresienstadt diese „Alterstransporte“ im Herbst 1942: "Beim Abtransport spielten sich furchtbare Ereignisse ab, die selbst in der an Unmenschlichkeiten überreichen Geschichte der Deportationen einmalig sind. Zunächst kamen die deutschen Juden an die Reihe. Diese hilflos verlassenen Menschen wußten nicht, was sie beginnen sollten, und waren gar nicht in der Lage, sich für das Unglück vorzubereiten. Viele lagen in sogenannten Krankenstuben und „Siechenheimen“, in sogenannten Zimmern und auf Dachböden, keiner Entschlüsse und Handlungen fähig. Viele waren verfallen, krank, verlaust, halb verhungert, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, viele vom Tode gezeichnet, der sie gewiß in wenigen Tagen an Ort und Stelle ereilt hätte. Aber nun mußten sie fort – ein Funke Erbarmens hätte sie hier sterben lassen. Gnadenlos wurden sie eingetrieben und aufgelesen, auf Bahren geschleift, auf Karren wie Abfall geladen. Man schleppte sie mit ihren Lumpenbündeln bei Wind und Wetter auf die jämmerlichen skurrilen Leichenwagen, die man wenige Monate zuvor aus allen Judengemeinden Böhmens und Mährens als Verkehrsmittel nach Theresien stadt geschafft hatte, und schob die lebende Fracht zur Sammelstelle in der „Schleuse“. Zu tröstlichem Zuspruch war keiner da, die Zeit eilte, und die sogenannte „Transporthilfe“ wie die „Transportleitung“ sahen nur darauf, daß die genaue Anzahl der Opfer pünktlich zur Stelle war. Man dachte gar nicht daran, Halbtote, Schatten menschlicher Wesen in Agonie, wegen „Transportunfähigkeit“ zurückzustellen. Zur Verladung in Vieh oder Personenwagen, 15 bis 20 in ein Abteil gepreßt, schien jeder noch geeignet."

 

Josef Herrmann kommt ums Leben

 

Josef Herrmann kam am 26. September 1942 in Theresienstadt ums Leben. Am selben Tag ging von hier aus ein solcher Transport nach Treblinka, dem auch Angehörige der Stuttgarter Deportation vom 22. August zu gewiesen worden waren, darunter die Schwägerin von Josef Herrmann, SophieDreifußHerzer. Vielleicht war auch Josef Herrmann für diesen Abtransport in die Ermordung vorgesehen. Kam Josef Herrmann in direktem Zusammenhang mit einer letzten Verschleppung ums Leben? Starb er an einer Herzattacke, als er von seinem Todes urteil, der Zuweisung zum Transport erfuhr? Oder war er kurz davor friedlos und unbe hütet zugrunde gegangen? Hat ihn noch eine Krankenschwester versorgt? Führten die feh lenden Medikamente zu seinem Tod oder war er verhungert? Wer kann davon berich ten?

 

Nur wenig mehr als zwei Wochen später, am12. Oktober 1942, kam in Theresienstadt auch der Schwager von Josef Herrmann, Abraham Preßburger, um.

 

Dass Josef Herrmann im Gettolager Theresienstadt ums Leben gekommen war, davon erfuhr der Nürtinger Bürgermeister Hermann Weilenmann aus einem Brief des Sohnes Ludwig Herrmann vom 11. August 1946.

 

Alle waren lediglich "verzogen"

 

Liest man unbefangen ein Schreiben des Nach-Nachfolgers von Hermann Weilenmann vom 4. Juni 1962, dann scheint man Anfang der 60er Jahre beim Nürtinger Bürgermeisteramt selbst über diesen knappen Kenntnisstand nicht mehr verfügt zu haben. Auf die Anfrage der Archivdirektion Stuttgart, die sich im Auftrag des Landtags darum bemühte, die Schicksale der jüdischen Bewohner des Landes in den Jahren1933 bis 1945 aufzuklären, lautete die Antwort: "Irgendwelche Aufzeichnungen den jüdischen Familien sind nicht vorhanden. Die in Frage stehenden Familien Heinrich, Josef Hermann (sic !) sowie Abraham Landauer sind teils 1933, 1936 und 1938 nach Stuttgart bzw. Ravensburg verzogen. Sie leben nun in England und Amerika. Ihre Anschriften sind hier bekannt. Frau Anna Frank, Witwe ist im Oktober 1941 nach Haigerloch verzogen und dort auch gestorben."

 

Fehlendes Interesse

 

Nach den sich lange hinziehenden Wieder gutmachungsverhandlungne Anfang dermögen von Josef und Heinrich Herrmann betrafen, muss man jedoch über den Tod Josef Herrmanns informiert gewesen sein. An der Aufklärung seines Schicksals wie am Lebensweg aller 1933 in Nürtingen lebenden Juden zeigte das Bürgermeisteramt nach dieser Antwort und dem weiteren Schriftverkehr mit der Archivdirektion nur geringes Interesse, auch wenn man mit der Übermittlung besonders von Daten aus den Standesamts und Melderegistern schließlich weiter half. Führten hier bürokratisches Denken und Arbeitsüberlastung die Feder, oder handelte es sich um einen Akt der Verdrängung? Hat man sich für das Schicksal eines Mannes wie Josef Herrmann, der als angesehener Bürger über Jahrzehnte in der Stadt lebte, nicht mehr „zuständig“ gefühlt, weil er 1936 von Nürtingen weggezogen war? War die Erinnerung so schnell verblasst?

 

Wie bei Anna Frank schon angeführt, kümmerte sich auch die Nürtinger Heimatgeschichte lange nicht um das Schicksal der ehemaligen jüdischen Einwohner, und so auch nicht um das von Josef Herrmann. Da zudem zwei Brüder von Josef Herrmann in Nürtingen lebten, vermischte sich die Erinnerung an seine Person nur zu leicht mit der Erinnerung an diese.

 

"Keine Ahnung"

 

Als Pinchas Erlanger im Jahr 1984 auf der Suche nach Spuren seiner Großeltern und Erinnerungen an sie Nürtingen besuchte, stieß er auf Unwissenheit: "Ich war nur ein einziges Mal in Nürtingen, besuchte auch das Haus in der Schafstraße. Die jetzigen Bewohner – eine katholische Jugendorganisation. Die Leute hatten keine Ahnung von den ehemaligen jüdischen Besitzern des Hauses."

Text: Manuel Werner, Nürtingen, Stand: 25. Juli 2013

 

Grundlegende Quelle und empfohlene Literatur:

 

  • Manuel Werner: Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 1998, 159 Seiten, illustriert; 25 cm , ISBN 3-928812-18-1. EUR 13,50, S. 57-74 sowie 77-86..
    Hinweis für Schüler: Dieses Buch kann in der Stadtbücherei Nürtingen entliehen werden, Signatur und dortiger Standort: 
    BaWü 438 (also nicht bei NS-Zeit, Judentum etc., sondern ganz oben, im Lesezimmer gegenüber den Zeitschriften.