Anna F. wurde 56 Jahre alt
"Die 1884 in Nürtingen als Tochter eines Taglöhners geborene Anna F. wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach Diagnose der Ärzte war sie von Geburt an 'schwachsinnig'. Sie
konnte in der Schule 'mit den Altersgenossen nie fortkommen, sondern blieb in den unteren Klassen sitzen, stets als die Letzte'. Seit 1907 war sie im Zufluchtshaus Oberensingen
untergebracht, nachdem sie ihr Bruder – die Eltern waren früh verstorben – nicht mehr versorgen konnte. 1917 wurde sie in die Landesfürsorgeanstalt Reutlingen-Rappertshofen
überwiesen und von dort am" 27. 09. 1940 "nach Grafeneck deportiert".(1)
Anna Maria F., als Tochter eines Taglöhners 1884 in Nürtingen geboren, war nach „Zeugnis des Oberamtsarztes Dr. Romberg von Geburt an geistesschwach“ (2). Ihre Eltern, Georg Gottlieb und
Christina F., geborene Armbruster, waren „früh verstorben“ (1), so dass Anna bei ihrem Bruder Karl, einem Fabrikarbeiter, lebte (1,2). Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, konnte in
der Schule „nie fortkommen, sondern blieb in den unteren Klassen sitzen, stets als die Letzte“ (1). Als Karl Kost und Pflege seiner Schwester nicht mehr leisten konnte, stellte er im
Frühjahr 1907 bei der Nürtinger Armendeputation einen Antrag „auf Übernahme in öffentliche Armenfürsorge“ (3).
Anna Maria F. war „vollständig vermögenslos“ (2), es gab auch keine Angehörigen, die ihre Versorgung hätten gewährleisten können. So beschloss die Armendeputation, „die Anna F. in
eigene Fürsorge zu übernehmen und für ihre Unterbringung in einer geeigneten Anstalt zu sorgen“ (2). Ab 01. 06. 1907 konnte sie für die Dauer von zehn Jahren (1) im Zufluchtshaus
Oberensingen untergebracht werden. Ihr Bruder erhielt für die häusliche Betreuung in den letzten Wochen eine Vergütung von zwanzig Mark aus der Ortsarmenpflege (3). Zu dieser Zeit betrug das
Kostgeld für die Pfleglinge 180 Mark [vermutlich jährlich]. (4)
Das Zufluchtshaus an der Stuttgarter Straße in Oberensingen, das spätere Friederikenheim, war im Jahr 1903 (bis 1987 geführt) eröffnet worden. Angelehnt an die Ziele und Methoden der sogenannten Rettungsbewegung hatten sich christlich handelnde Bürger im Jahr 1871 in Stuttgart zusammengefunden und einen Verein gegründet. Dieser hatte das Ziel, „sittlich gefallenen Mädchen eine andere Startmöglichkeit in das Leben zu ermöglichen“. Die „Rettungsanstalt für ältere Mädchen“ aus Leonberg wollte „denen ein Heim bieten, die sonst nirgends willkommen waren“. Die Idee des Zufluchthauses war, dass sowohl „Personen, die dauernd unfähig sind in der Arbeit des Lebens zu stehen“, als auch solchen, „die nur vorübergehend unfähig sind, in demselben Zuflucht finden“. (1 S. 33).
Das Haus, ein ehemaliges Schlossgebäude aus dem 16. Jahrhundert, lag in „einem schönen, parkähnlichen Garten“, war von allen Seiten mit einer Mauer eingefriedet und von einem etwa vier Morgen großen Ackerland umgeben (1 S. 34). Von 1903 bis 1940 stand die Diakonisse Friederike Stock als Hausmutter dem Zufluchtsheim vor (1 S. 36), weitere Diakonissen der Stuttgarter Diakonissenanstalt unterstützten sie in ihrem wichtigen sozialen Dienst (1 S. 35). Diese Aufbauarbeit wurde als gottgefällige Arbeit im Auftrag des Herrn verstanden: „Der Herr hat uns die Aufgabe vorgelegt, die Gründung eines besonderen Versorgungshauses für die Invaliden ins Auge zu fassen, welche in einem Asyl sich nützlich machen und darüber ihres Lebens noch innerlich froh werden können“ (1 S. 33).
Zu Beginn wurden bis zu 25 ältere Mädchen mit körperlichen und geistigen Behinderungen aufgenommen, die einer längeren Erziehung, dauernden Bewahrung oder Versorgung bedurften (5, S. 34). Später sammelte sich eine „wachsende Zahl solcher Mädchen an“, die „durch starke moralische Defekte gekennzeichnet“ waren. Das waren oft sogenannte „gefallene Mädchen, für die es bisher kaum Hilfe und Unterstützung gab" (5, S. 34) Eine gleichmäßige, sichere Hausordnung mit vielseitigen Arbeitsmöglichkeiten in Haus, Garten und Feld, sollte der meist labilen Gesamthaltung dieser Zöglinge entgegenwirken (5, S. 37). Wie weit es den Diakonissen möglich war und gelingen konnte, die körperlich und geistig behinderten jungen Frauen der Anfangsjahre in einen strukturierten Arbeitsprozess zu integrieren, ist nicht überliefert.
"extr. [extrahiert] Anna F., geb. am 8. April 1884, Tochter des (verst.) Georg Gottlieb F., Taglöhner und der [verst.] Christina geb. Armbruster, ist nach dem
vorliegenden Zeugnis des Oberamtsarztes Dr. Romberg von Geburt an geistesschwach und war bisher bei ihrem Bruder Karl F. Fabrikarbeiter hier. Ihr Zustand ist derart, dass dieser sie nicht mehr
behalten kann. Es ist deshalb ihre Unterbringung in einer Anstalt notwendig.
Die F. besitzt durch Abstammung hier den Unterstützungswohnsitz, ist vollständig vermögenslos und hat keine Alimentationspflichtige Angehörigen.
Nach Beratung wird von der Armendeputation beschlossen:
Die Anna F. in eigene Fürsorge zu übernehmen und für ihre Unterbringung in einer geeigneten Anstalt zu sorgen.
Zur Beurkundung Armendeputation. Es folgen 6 Unterschriften:
Hönes Bauer Gabler Heinzelmann Grözinger Müller
Ratsschreiber [Name unleserlich]"(6)
"Anna F., Tochter des gestorbenen Gottlieb F. Taglöhner hier ist dem Beschluss der Armendeputation vom 25. März 1907, oben §. 176 zufolge vom 1. Juni d.J. an in dem Zufluchtshaus Oberensingen
untergebracht worden. Bis dahin musste sie bei ihrem Bruder Karl F., Fabrikarbeiter, der schon im März d.J. um ihre Übernahme in öffentliche Armenfürsorge nachgesucht hat, in Kost und Pflege
verbleiben, da eine frühere Unterbringung in einer Anstalt nicht möglich war.
Die Armendeputation beschließt:
Dem Karl F, Fabrikarbeiter hier für die Verpflegung seiner Schwester Anna F. bis 1. Juni d.J. eine Vergütung von 20 Mark aus der Ortsarmenpflege zu verwilligen.
Abwesend: J. Benz und F. Blind, beide wegen geschäftl. Verhinderung beziehungsweise Ortsabwesenheit entschuldigt."(7)
"extr. [extrahiert]: Vom Vorstand des Zufluchtshauses Oberensingen, in welchem die Anna F. von hier für Rechnung der Ortsarmenpflege hier untergebracht ist, wird durch Zuschrift vom
10.Mai d.J. mitgeteilt, dass das Kostgeld für die Pfleglinge von 150 M. auf 180 M. erhöht werden musste.
Die Armendeputation beschließt
1. sich mit dieser Erhöhung einverstanden zu erklären, und
2. die Landarmenbehörde Reutlingen hiervon in Kenntnis zu setzen."(8)
Text: Anne Schaude, Nürtingen, Stand: Mai 2013, alle Rechte vobehalten!
Quellen:
(1) Zitiert: R.Tietzen (Hrsg.), Nürtingen 1918 bis 1950, Nürtingen/ Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz, 2011, S. 286, "fett" gesetzte
Hervorhebungen nicht im Original
(2) StaNt: Protokoll der Armendeputation vom 25. 03. 1907, § 176
(3) StaNt Protokoll der Armendeputation vom 07. 06. 1907, § 184
(4) StaNt ..... den 24. Mai 1909 vor der Armendeputation, § 312:
(5) Wir hatten alle eine Vision, Nürtinger Frauen im Fürsorgewesen, Frauenspuren in Nürtingen, Geschichtswerkstatt der vhs, Band 1, Sindlinger-Burchartz, ISBN 3-928812-34-3
(6) (Fotos von Aktenausschnitten): Stadtarchiv Nürtingen (StaNt), Protokolle der Armendeputation 1907.
(7) Stadtarchiv Nürtingen (StaNt), Protokolle der Armendeputation 1907
(8) Stadtarchiv Nürtingen (StaNt), Protokolle der Armendeputation 1907
(9) Stadtarchiv Nürtingen (StaNt), Protokolle der Armendeputation 1907
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