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Von Anfang an war der Krieg auch von schlimmen Verbrechen gegen polnische Juden begleitet. Und die deutschen Juden wurden so behandelt, als seien sie Verbündete des Feindes, die in den eigenen Reihen wirkten. Ein nächtliches Ausgehverbot von 20 Uhr abends bis 7 Uhr morgens wurde allen Juden auferlegt. Weiter wurde den jüdischen Heiminsassen unter sagt, im Falle eines Luftangriffes öffentliche Luftschutzräume aufzusuchen. Auf Veranlas sung der Gestapo in Stuttgart suchte derHerrlinger Gendarm am 23. September 1939– es war Jom Kippur – das Altersheim auf und zog die Radios von Josef Herrmann und einem Mitbewohner ein.118 Mit der Beschlag nahme sollte unter anderem das Abhören von sogenannten Feindsendern unmöglich gemacht werden. Für die Altersheimbewoh ner bedeutete dieser Verlust, daß sie von nun an vom äußeren Geschehen weitge hend abgeschnitten waren. Die beschlag nahmten Radiogeräte blieben bis Anfang November 1939 bei der Gendarmerie, bevor sie an die SS abgeliefert wurden. Außerdem wurden die Lebensmittelrationen der Heim bewohner durch die diversen Sonderbestimmungen schrittweise ge kürzt, so daß sich im folgen den die Verpflegungssituati on der Zwangsgemeinschaft immer mehr verschlechter te.119Josef Herrmann, der im Ver gleich zu anderen Heimbe wohnern noch ein rüstiger Rentner war, unternahm häufig längere Spaziergänge in den Wäldern der Umge bung. Allerdings kam es im Herbst 1939 zu massiven Be lästigungen der alten Leute durch Herrlinger Jugendli che.120 Sie beschimpften und verhöhnten die Menschen, die im Alter ihrer Großväter und Großmütter waren, und bewarfen sie sogar mit Stei nen – auch die alten Frauen! Ein Rädelsführer wurde vom Leiter der Volksschule ge deckt. Die eingeschüchter ten und vogelfreien Alters heimbewohner trauten sich nach den Pöbeleien und in famen Tätlichkeiten immer seltener auf die Straße. Au ßerdem mußten die alten Leute die Ausgangssperrebeachten. So lebten die zu Fremdkörpern Degradierten immer zurückgezogener. Josef Herrmanns Kontakte beschränkten sich zwangsläufig auf den Kreis der Schicksalsge nossen.Ende November 1939 kamen für seine noch in Deutschland weilende Tochter Fanny Er langer und deren Familie endlich die lang ersehnten Visa für Palästina. Pinchas Erlan ger schreibt:121 Wir mußten ganz überstürzt abreisen. Der Großvater wollte Deutschland nicht verlassen, obwohl die Möglichkeit da für bestand. Sein Argument: Einen alten Baum ver pflanzt man nicht. Weder er noch wir ahnten, welches Schicksal ihm bevorstand. Wir verabschiedeten uns von ihm auf dem Bahnhof in Ulm. Der Abschied war un säglich schwer, und viele Tränen flossen. Der Abschied war fürs Leben. Geblieben ist die wehmütige Erinnerung an einen lieben und liebenden Großvater, an einen edlen Menschen und einen von den sechs Millio nen . . .Vom 7. März 1940 liegt noch eine hand schriftliche Beschwerde des Josef Israel Herr mann an das Bürgermeisteramt Herrlingen vor.122 Dies ist das letzte mir bekannte Doku ment mit den Schriftzügen Josef Herrmanns. Wie auch andere Heiminsassen beschwerte er sich darüber, daß bei der Erhebung der Bürgersteuer sein Einkommen des Jahres1937 zugrundegelegt worden war. Da es im Hinblick auf den Wandel seiner Vermögens verhältnisse und die Verwendung seines Ver mögens sehr aufschlußreich ist, soll die Be schwerde hier im vollen Wortlaut wiederge geben werden: Der Bürgersteuerbescheid ist begründet auf mein Einkommen im Kalen derjahr 1937. Diese Begründung ist für die heutige Veranlagung nicht zulässig, weil sich mein Einkommen und Vermögen seit dem Kalenderjahr 1937 um die Hälfte ver ringert hat. Mein Vermögen besteht vollstän dig aus Wertpapieren und ist bei der Kreis sparkasse Ravensburg vollständig angelegt im Depot und Girokonto 2501. Das Vermö gen hat im Jahr 1937 circa 36 000 M betra gen und beträgt heute circa 18 500 M und hierdurch mein Einkommen ungefähr die Hälfte vom Jahr 1937. Der Rückgang des Vermögens ist dadurch begründet, daß ich an das Finanzamt Weingarten 8500 M Ju denAbgabe123 bezahlen mußte. Es sind zwei Kinder von mir in dieser Zeit ausgewandert, was mich auch Geld gekostet hat, und reicht mein Zinseinkommen nicht zu meinem Le bensunterhalt. Ich kann aus Gesundheits gründen seit 1933 nicht mehr arbeiten und zehre vom Vermögen. Als Beweis stelle ich Einsichtnahme auf mein Conto bei der Kreissparkasse Ravensburg zur Verfügung. Ich beantrage, Herabsetzung der Bürgersteuer den Vermögensverhältnissen entspre chend. Mit Rücksicht auf sein Alter ermäßig te das Bürgermeisteramt seine Bürgersteuer für das Jahr 1940 auf 20 Reichsmark, die in Raten über die Heimleitung pünktlichst an die Gemeindekasse Herrlingen abzuführen waren.124 Von nun an wurde auf sein Alter allerdings keine Rücksicht mehr genommen. Ab September 1941 mußten auch die Heim bewohner den „Judenstern“ tragen, wenn sie das Haus verließen. 125 Noch mehr mieden sie nun die Öffentlichkeit, denn diese Brand markung lud geradezu zu antisemitischen Angriffen ein. Trotz aller Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit wagten es ehemalige Viehhändler aus dem Altersheim, darunter vielleicht auch Josef Herrmann, bei starkem Nebel den in Klingenstein wohnhaften Land wirt Andreas Münch aufzusuchen.126 Sie sa hen nach dessen erkrankten Kühen – ohne die erforderliche ortspolizeiliche Genehmi gung – und behandelten das erkrankte Vieh mehr als einmal fachkundig. Daß die Familie Münch den deportierten Altersheimbewoh nern später unter falschem Absender Le bensmittelpakete schickte, zeigt, daß das Verhältnis sehr gut und von gegenseitiger Hilfsbereitschaft geprägt war. Auch sonst verhielten sich einige Einwohner Herrlin gens sehr couragiert.127 So lud eine Frau eine Insassin wiederholt zum Abendessen ein. Dies mußte natürlich unbemerkt geschehen. Obwohl von der SS verboten, behandelte der Zahnarzt Dr. Friedrich Kiess die Alters heimbewohner, oft sogar unentgeltlich. Der Herrlinger Bäcker Johannes Schmidt erlaub te dem Altersheim bis zuletzt, für das Backen der Mohnzöpfe seine Backstube zu benut zen, obwohl er deswegen Schwierigkeiten bekam. Doch das Unheil nahm seinen Lauf, oder besser gesagt: Die Unheilvollen bestimmten den Lauf der Dinge. Vielleicht bekamen die Heimbewohner schon etwas mit, als im No vember 1941 mehreren jüngeren Hausbe diensteten „Evakuierungsbescheide“ zuge stellt wurden.128 Vier der jungen Frauenkonnten sich zunächst noch der Erfassung zum Transport, der am 1. Dezember von Stuttgart aus nach Riga erfolgte, durch über stürzten Wegzug von Herrlingen entziehen; der 48jährigen Angestellten Emilie Leonber ger jedoch gelang dies nicht mehr. Sicher mußten sie aber miterleben, daß im April1942 vier Heimbewohner und zwei Ange stellte gezwungen wurden, sich mit nur we nig Gepäck einem „Transport nach dem Osten“ anzuschließen, der am 26. April Stutt gart in Richtung Izbica bei Lublin im „Gene ralgouvernement Polen“ verließ. Von Ah nungslosigkeit oder auch Hoffnung , die den vorigen Transport noch begleitet hatten, war diesmal bei den Deportierten nichts mehr zu spüren. Viele waren verzweifelt und trugen sich mit Selbstmordabsichten.129 Ein lasten des Gefühl akuter Bedrohung machte sich mehr und mehr breit.Seit Ende 1941 liefen die Vorbereitungen zur Auflösung des jüdischen Altersheimes Herr lingen.130 Die Bewohner sollten zusammen mit den verbliebenen Ulmer Juden in das ganz heruntergekommene und nur notdürf tig instandgesetzte Oberstotzinger Schloß eingewiesen werden. Oberstotzingen liegt knapp 30 Kilometer nordöstlich von Herrlin gen im Landkreis Heidenheim. Ab dem 10. Juni 1942 mußten die Heimbewohner Herr lingen verlassen; am 9. Juli kam die Reihe an Josef Herrmann. Wie die anderen Mitbewoh ner konnte er nur sehr wenig persönliches Inventar mitnehmen. Die Verlegung wurde von den Heimbewohnern mit großer Ver zweiflung aufgenommen. Es war ihnen be wußt, daß Oberstotzingen für sie nur eine Übergangsstation darstellen sollte und die Absicht bestand, sie in absehbarer Zeit im„jüdischen Reichsaltersheim“ Theresienstadt anzusiedeln.Bereits am 14. August 1942 verfügte der Leiter der Staatspolizeileitstelle Stuttgart, Friedrich Mußgay, die vollständige Auflö sung unter anderem des Sammellagers im Oberstotzinger Schloß.131 Alle seine Bewoh ner sollten einem Transport mit Juden dem Protektorat zugeteilt werden, der Stutt gart am 22. August 1942 verlassen sollte. In den Tagen vor dem Abtransport wurden alle noch über finanzielle Mittel verfügenden ehemaligen Altersheimbewohner gezwun gen, „Heimeinkaufsverträge“ für Theresien stadt abzuschließen. In Wirklichkeit war dies eine getarnte staatliche Ausplünderung. Jo sef Herrmann müssen auf diese Weise fast15 000 Reichsmark abgepreßt worden sein.132 Mußgay verwies in seinem Erlaß vom14. August im Blick auf das zu beachtende Verfahren auf eine Anweisung, die er bei zwei vorhergehenden Deportationen aus Württemberg und Hohenzollern im Frühjahr1942 erteilt hatte.133 Darin heißt es entlar vend: Die in der letzten Zeit in einzelnen Gebieten durchgeführte Umsiedlung von Ju den nach dem Osten stellt den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark und im Protektorat Böhmen und Mähren dar . . . Ausfälle (durch Selbstmord usw.) sind unverzüglich mitzuteilen. Zweck der Maßnahme sei die Entjudung der einzel nen Kreise. Durch die Ortspolizeibehörde sei eine eingehende Durchsuchung jeder Person unter anderem nach Bargeld, Devi sen und Schmuck vorzunehmen. Zu einem reibungslosen Transport hierher (nach Stutt gart) sind eine entsprechende Anzahl Poli zeibeamter bereitzuhalten. Verschärfend fügte der auch Josef Herrmann betreffende Erlaß vom 14. August diesen Anweisungen hinzu: Ein Ausscheiden eines namhaft ge machten Teilnehmers aus irgendeinem Grunde, Krankheit, Gebrechlichkeit usw. kann nicht erfolgen. Vorkehrungen für den Transport der sogenannten Transportunfä higen sind rechtzeitig zu treffen, so daß sämtliche eingeteilten Juden rechtzeitig in Stuttgart eintreffen. Als Gepäck wurde je dem Betroffenen nur ein Koffer oder Ruck sack zugestanden, der etwas Kleidung, Bett zeug und Eßgeschirr enthalten durfte.Mit den verschleiernden und zynischen Be griffen „Umsiedlung nach dem Osten“, „End lösung der Judenfrage“ und „Entjudung“ wardie planmäßige Deportation und massenhaf te Ermordung gemeint.Am 19. August frühmorgens, noch bei Dun kelheit, wurden die meist gebrechlichen La gerinsassen von Oberstotzinger Dorfbewoh nern mit Fuhrwerken zum Bahnhof in Nie derstotzingen gebracht.134 Die Juden waren sehr verzweifelt und der Abtransport ging keineswegs so still und unbemerkt vonstat ten, wie es sich die Gestapo wohl gewünscht hatte. Ihr Jammern und Wehklagen ging mir durch Mark und Bein. Noch heute habe ich das Schreien der alten Leute in den Ohren und kann es wohl nie wieder vergessen, so erinnerte sich ein Zeitzeuge nach über 50Jahren.135 Dies spricht dafür, daß die alten Menschen eine Ahnung davon hatten, was sie in Theresienstadt erwartete. Was drohte ihnen, wenn sie sogar von den miserablen Verhältnissen im Oberstotzinger Schloß wegverfrachtet wurden? Bis jetzt war es im mer schlechter gekommen, nie besser. Ob Josef Herrmann sich an den Strohhalm der in seinem „Heimeinkaufsvertrag“ vorgegaukel ten gutbürgerlichen Wohnverhältnisse klam merte?Für die Bevölkerung aus der Umgebung galten die Deportierten als auf Nimmerwie dersehen verschwunden, denn sie fiel bald wie ein Heuschreckenschwarm über das unbewohnte Schloß her. Bevor das Finanz amt Heidenheim, wie vorgesehen, die zu rückgelassenen Möbel zu Geld machen konnte, bereicherten sich die Leute aus dem Ort und den umliegenden Dörfern daran. Auf dem Bahnhof Niederstotzingen wiesen Polizisten die Bewohner des Sammellagers Oberstotzingen zwei Eisenbahnzügen zu, die von der Reichsbahndirektion Stuttgart trotz großer kriegsbedingter Probleme zur Verfügung gestellt worden waren.136 Der Ver nichtung der deutschen Juden wurde offen sichtlich die gleiche Priorität zugemessen wie dem Vernichtungskrieg im Osten. Alles war genauestens geplant, man hatte sogar besondere Fahrpläne erstellt. Der eine Zug verließ Niederstotzingen um 5.19 Uhr mitden ersten 45 Juden, erreichte den Ulmer Bahnhof um 6.04 Uhr, hatte dort Aufenthalt bis 8.10 Uhr und erreichte Stuttgart um 11.41Uhr. Der zweite Transport mit den übrigen etwa 50 Juden folgte um 7.35 Uhr, hielt in Ulm vier Stunden von 8.16 Uhr bis 12.15 Uhr und kam in Stuttgart um 14.34 Uhr an.In Stuttgart wurden die Oberstotzinger Ju den, darunter außer Josef Herrmann auch sein Schwager Abraham Preßburger, mit Omnibussen auf den Killesberg gebracht.137Dort wurden sie von der Gestapo übernom men, in die Ausstellungshallen verbracht und einer entwürdigenden Leibesvisitation unterzogen. Sie trafen auf eine große Zahl von Leidensgenossen, die aus anderen Ge meinden Württembergs hierher gebracht worden waren. Die folgenden Nächte muß ten die 1076, vielfach gebrechlichen, Men schen zusammengepfercht unter katastro phalen Umständen zubringen. In der ersten Nacht kamen acht der alten Menschen um. An der Durchführung der Deportation muß te sich die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ beteiligen. Der auf dem Killes berg anwesende Leiter der Stuttgarter Be zirksstelle, Ernst Moos138, hatte wohl den Auftrag erhalten, die Zusammengesperrten zu beruhigen. Nach seinen Erzählungen – so hörten die zur Deportation Vorgesehenen – werde man in Theresienstadt bevorzugt be handelt sowie ein gepflegtes Lager und gute Lebensverhältnisse antreffen. Zweifel daran mußten allerdings sogar die Gutgläubigsten befallen.Am 21. August wurden die Gehbehinderten und Kranken mit Lastwagen zu einem außer halb Stuttgarts gelegenen Güterbahnhof ge bracht und in Viehwaggons verladen, in de nen sie, bewacht durch SS, die folgende Nacht verbringen mußten. (An diesem Tag erhielt wohl auch Josef Herrmann eine Ver fügung der Gestapo, nach der sein ganzes Vermögen zugunsten des Deutschen Rei ches eingezogen wurde.)139 Die als gehfähig Eingestuften mußten am nächsten Tag zum Güterbahnhof marschieren. Der Marsch dervielen hundert erfolgte am hellichten Tag, und die mit dem grellgelben „Judenstern“ Versehenen gingen ihren Weg in glühender Hitze und unter scharfer Bewachung, vor aller Augen. Nach dem „Verladen“ plombier ten die Bewacher die Wag gons, und der Zug setzte sich in Bewegung. Es war der Deptationstransport mit der Bezeichnung XIII/1.Sein Ziel war Theresienstadt. Dort hatte Josef Herrmann nur noch etwas über einen Monat zu leben.Nach dreißigstündiger Fahrt unter Bewa chung von SS und SD kam der Zug mit den Deportierten aus Stuttgart am 23. August in Theresienstadt an.140 Die nach der österrei chischen Herrscherin Maria Theresia be nannte Festung und Militärstadt lag zwi schen Dresden und Prag nahe der Mündung der Eger in die Elbe. Den mit zahlreichen leerstehenden Kasernen ausgestatteten und ringsum befestigten Ort richteten die Natio nalsozialisten im November 1941 als Getto lager ein, in das zunächst böhmischmähri sche Juden deportiert wurden. Auf der Berli ner WannseeKonferenz am 20. Januar 1942, bei der es um die Durchführung des bereits beschlossenen Völkermords an den europäi schen Juden ging, unterrichtete Reinhard Heydrich die Teilnehmer von dem Plan, die über 65 Jahre alten Juden aus dem Reichsge biet nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto zu überstellen.141 Als Ort dafür nannte er Theresienstadt. Auch jüdische Schwerbeschädigte und hochdekorierte Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg, ge gen deren „Evakuierung“ in den Osten Ein gaben von vielen Seiten aus erfolgten, soll ten dort unter Vorspiegelung einer gutenUnterbringung Aufnahme finden. Dabei soll te verborgen werden, daß das Lager von der SS von vornherein als Durchgangsstation gedacht war – als Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtung.Resi Weglein, eine als Krankenschwester eingeteilte Ulmer Jüdin (Jahrgang 1894), diedas Konzentrationslarge Theresienstadüberlebte, berichtet über die Ankunft des Transports aus Stuttgart, dem sie selbst ange hörte:142 Als der Zug hielt, stiegen zuerst die SSMänner mit Sturmbannführer Koch aus. Auf dem Bahnsteig stand Lagerkomman dant Dr. Seidl mit weiteren SSMännern und sehr vielen tschechischen Gendarmen. Junge tschechische Juden übernahmen das Ausla den . . . Zwei sehr schlechte Lastkraftwagen standen zur Beförderung (der) Kranken be reit. Damit ja niemand eine Bequemlichkeit hatte, mußten die Kranken stehen, gleich gültig ob sie dazu in der Lage waren oder nicht. In rasendem Tempo fuhren die Wagen nach Theresienstadt, wo die Menschen halb tot in der sogenannten Schleuse abgeliefert wurden. Eines der Fahrzeuge war in so schlechtem Zustand, daß es Tote und Ver letzte gab, als während der Fahrt die Ladeflä che durchbrach. Der Zug der Gehfähigen: Bei glühender Hitze, beladen mit dem ver schiedenen Handgepäck, marschierten zwi schen 900 und 1000 Menschen nach There sienstadt (bis zum Lager waren es etwa drei Kilometer). Es waren traurige Gestalten, die unter Bewachung der tschechischen Gen darmen (sie unterstanden faktisch der SS) über die Landstraße mehr krochen als gin gen. Viele brachen unterwegs zusammen. Aber unbarmherzig schlugen die Gendarmen mit ihren Reitpeitschen auf die Armen ein, oder sie hetzten ihre großen Schäfer hunde auf sie. Nach zwei stündigem Marsch gelangten die Deportierten am Abend ins eigentliche Gettolager. In der „Schleuse“ hatten sie sich stundenlangen, entwürdi genden Prozeduren zu un terziehen. Alle Habe von ir gendwelchem Wert wurde ihnen abgenommen: Ther mosflaschen, Seifen, Konser ven, Taschenlampen, insbe sondere sämtliche Medika mente. Josef Herrmann aber war auf seine Herzmedizin dringend angewiesen. Die alten Menschen mußten sichnackt ausziehen und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, bei der ihnen oft noch Teile der Kleidung geraubt wurden. Auch ihr Gepäck sahen sie nie wieder. Nach Mitternacht wurden sie zusammengetrieben und in die „Dresdener Kaserne“ gebracht. Angesichts der zukünftigen Unterbringung und des dort herrschenden „Infernos“ bra chen spätestens jetzt alle Hoffnungen zu sammen, die sich vielleicht noch bei dem einen oder anderen an die „Heimeinkaufs verträge“ und ihre Versprechungen geknüpft haben mochten. Der größte Teil der Trans portteilnehmer wurde . . . auf dem Dachbo den untergebracht, d. h. die Leute lagen auf dem Boden, in den ersten Wochen ohne ir gendetwas; nur das, was sie auf dem Leibe hatten. Die Klosetts waren in einem tiefer n Stockwerk, und die wenigsten der alten Men schen konnten sie rechtzeitig er reichen, zu mal die meisten von ihnen in den ersten Tagen an Diarrhoe (Durchfall) erkrankten. Es gab zu der Zeit natürlich keinerlei Desin fektionsmittel, nicht einmal Eimer oder Putztücher. So war es für das Pflegepersonal sehr schwer, den Dachboden sauber zu hal ten. Die alten Leuten erkrankten fast alleund . . . in den ersten Wochen (starben) täg lich zwischen 180 und 200 Menschen!143 So berichtete die Überlebende Johanna Gott schalk, zeitweise einmal stellvertretende Lei terin des Herrlinger Altersheimes und selbst Angehörige des Stuttgarter Transports.Josef Herrmann kam zu einem Zeitpunkt nach Theresienstadt, als die Lebensbedin gungen hier immer katastrophalere Ausma ße annahmen.144 Die Zahl der Menschen im Lager, das als Festungsstadt zuvor einmal7000 Einwohner hatte, stieg seit dem Winter1941/42 monatlich um etwa 6000 an. Im Juli1942 hatte sich dieser Zuwachs auf mehr als25 000 gesteigert. Ende August war folglich die Überfüllung so schlimm, daß für die aus Stuttgart Deportierten nur noch ein Quartier wie der erwähnte Dachboden zur Verfügung stand. Mitte September 1942 erreichte die Belegung des Gettolagers mit über 58 000Menschen ihren absoluten Höchststand. Nach dem Willen Heydrichs hatte sich der Stuttgarter Transport überwiegend aus alten Menschen zusammengesetzt; das Durch schnittsalter etwa der von Oberstotzingen aus Deportierten lag bei fast 70 Jahren. Die wenigsten von ihnen konnten sich selbstversorgen, und das mit ihnen deportierte Pflegepersonal war in dem ungeheuren Cha os hoffnungslos überfordert. Stundenlandes Anstehen für meist verdorbenes Essen war den gebrechlichen Menschen meist nicht mehr möglich. Und selbst wer das noch konnte, litt bei den knappen Rationen unbe schreiblichen Hunger. Der Mangel an Hygie ne führte dazu, daß sich Infektionskrankhei ten wie Typhus und Ruhr rasch ausbreiteten. Unter den deprimierten und schnell verfal lenden alten Menschen setzte ein Massen sterben ein. Von 82 ehemaligen Herrlinger Altersheimbewohnern starb fast jeder Dritte in den ersten Wochen. Hans Günther Adler, der selbst zu den Lagerinsassen gehörte, schreibt über den Sommer 1942:145 Die Men schen starben friedlos und unbehütet, ohne Zuspruch, ohne freundlichen Blick. Dieser Jammer unterschied sich in nichts von dem Verenden im „Revier“ eines jeden Konzen trationslagers – es war ein namenloses Ster ben. Das alles hatte tödliche Methode.146 Die SS, der das Gettolager unterstand, wußte ja, in was für Verhältnisse hinein abertausende Ju den mit immer neuen Transporten absicht lich geschickt wurden; mehr noch: Sie er zeugte bewußt diese todbringenden Zustän de. Resi Weglein erinnert sich:147 Die SS muß te die größte Freude daran haben, uns aus zuhungern. Anders sind alle Vorgänge nicht zu erklären. Ich konnte nie begreifen, daß Menschen soviel Vergnügen daran haben, ihre Mitmenschen leiden zu sehen. Als die Verhältnisse im Lager die Propagandawir kung des „Altersgettos“ Theresienstadt ge fährdeten, sorgte die SS nicht für einen ra schen Stopp der Zugänge, sondern depor tierte vom 19. September bis Ende Oktober1942 in einer großangelegten Aktion etwa21 000 Theresienstädter Gefangene, die we gen ihres Alters und Gesundheitszustandes eine besondere Belastung für das Lager dar stellten, in die neu eingerichteten Massen vernichtungslager im Osten, vor allem nach Treblinka. In Treblinka wurden (seit Juli1942) die Verschleppten in der Regel gleich nach ihrer Ankunft ermordet – in fingierten Duschkammern mit Hilfe der Abgase von Dieselmotoren. Die SS in Theresienstadt ent schied im Einzelfall selbst, wer von den über65 Jahre alten Gefangenen, die sich hatten registrieren lassen müssen, im Lager in der Festung bleiben sollte und wer sofort in die Vernichtung kam, die sie als Verlegung in ein anderes Getto zu tarnen versuchte. Hans Günther Adler bescheibt in seinem Buch über Theresienstadt diese „Alterstransporte“ im Herbst 1942:148 Beim Abtransport spielten sich furchtbare Ereignisse ab, die selbst in der an Unmenschlichkeiten überreichen Ge schichte der Deportationen einmalig sind. Zunächst kamen die deutschen Juden an die Reihe. Diese hilflos verlassenen Menschen wußten nicht, was sie beginnen sollten, und waren gar nicht in der Lage, sich für das Unglück vorzubereiten. Viele lagen in soge nannten Krankenstuben und „Siechenhei men“, in sogenannten Zimmern und auf Dachböden, keiner Entschlüsse und Hand lungen fähig. Viele waren verfallen, krank, verlaust, halb verhungert, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, viele vom Tode gezeichnet, der sie gewiß in wenigen Tagen an Ort und Stelle ereilt hätte. Aber nun mußten sie fort – ein Funke Erbarmens hätte sie hier sterben lassen. Gnadenlos wurden sie eingetrieben und aufgelesen, auf Bahren geschleift, auf Karren wie Abfall geladen. Man schleppte sie mit ihren Lumpenbündeln bei Wind und Wetter auf die jämmerlichen skurrilen Lei chenwagen, die man wenige Monate zuvor aus allen Judengemeinden Böhmens und Mährens als Verkehrsmittel nach Theresien stadt geschafft hatte, und schob die lebende Fracht zur Sammelstelle in der „Schleuse“. Zu tröstlichem Zuspruch war keiner da, die Zeit eilte, und die sogenannte „Transporthil fe“ wie die „Transportleitung“ sahen nur darauf, daß die genaue Anzahl der Opfer pünktlich zur Stelle war. Man dachte gar nicht daran, Halbtote, Schatten menschli cher Wesen in Agonie, wegen „Transportunfähigkeit“ zurückzustellen. Zur Verladung in Vieh oder Personenwagen, 15 bis 20 in ein Abteil gepreßt, schien jeder noch geeig net. Josef Herrmann kam am 26. September 1942 in Theresienstadt ums Leben.149 Am selben Tag ging von hier aus ein solcher Transport nach Treblinka, dem auch Angehörige der Stuttgarter Deportation vom 22. August zu gewiesen worden waren, darunter dieSchwägerin von Josef Herrmann, SophieDreifußHerzer.150 Vielleicht war auch Josef Herrmann für diesen Abtransport in die Er mordung vorgesehen. Kam Josef Herrmann in direktem Zusammenhang mit einer letz ten Verschleppung ums Leben? Starb er an einer Herzattacke, als er von seinem Todes urteil, der Zuweisung zum Transport erfuhr? Oder war er kurz davor friedlos und unbe hütet zugrunde gegangen? Hat ihn noch eine Krankenschwester versorgt? Führten die feh lenden Medikamente zu seinem Tod oder war er verhungert? Wer kann davon berich ten?151Nur wenig mehr als zwei Wochen später, am12. Oktober 1942, kam in Theresienstadt auch der Schwager von Josef Herrmann, Abraham Preßburger, um.Daß Josef Herrmann im Gettolager Theresi enstadt ums Leben gekommen war, davon erfuhr der Nürtinger Bürgermeister Her mann Weilenmann aus einem Brief des Soh nes Ludwig Herrmann vom 11. August1946.152 Liest man unbefangen ein Schreiben des NachNachfolgers von Hermann Weilen mann vom 4. Juni 1962, dann scheint man Anfang der 60er Jahre beim Nürtinger Bür germeisteramt selbst über diesen knappen Kenntnisstand nicht mehr verfügt zu ha ben.153 Auf die Anfrage der Archivdirektion Stuttgart, die sich im Auftrag des Landtags darum bemühte, die Schicksale der jüdi schen Bewohner des Landes in den Jahren1933 bis 1945 aufzuklären, lautete die Ant wort: Irgendwelche Aufzeichnungen den jüdischen Familien sind nicht vorhan den. Die in Frage stehenden Familien Hein rich, Josef Hermann (sic !) sowie Abraham Landauer sind teils 1933, 1936 und 1938 nach Stuttgart bzw. Ravensburg verzogen. Sie leben nun in England und Amerika. Ihre Anschriften sind hier bekannt. Frau Anna Frank, Witwe ist im Oktober 1941 nach Hai gerloch verzogen und dort auch gestorben. Nach den sich lange hinziehenden WiederNach den sich lange hinziehenden Wieder gutmachungsverhandlungne Anfang dermögen von Josef und Heinrich Herrmann betrafen, muß man jedoch über den Tod Josef Herrmanns informiert gewesen sein. An der Aufklärung seines Schicksals wie am Lebensweg aller 1933 in Nürtingen lebenden Juden zeigte das Bürgermeisteramt nach die ser Antwort und dem weiteren Schriftver kehr mit der Archivdirektion nur geringes Interesse, auch wenn man mit der Übermitt lung besonders von Daten aus den Standes amts und Melderegistern schließlich weiter half. Führten hier bürokratisches Denken und Arbeitsüberlastung die Feder, oder han delte es sich um einen Akt der Verdrängung? Hat man sich für das Schicksal eines Mannes wie Josef Herrmann, der als angesehener Bürger über Jahrzehnte in der Stadt lebte, nicht mehr „zuständig“ gefühlt, weil er 1936 von Nürtingen weggezogen war? War die Erinnerung so schnell verblaßt?Wie bei Anna Frank schon angeführt, küm merte sich auch die Nürtinger Heimatge schichte lange nicht um das Schicksal der ehemaligen jüdischen Einwohner, und so auch nicht um das von Josef Herrmann.154Da zudem zwei Brüder von Josef Herrmann in Nürtingen lebten, vermischte sich die Er innerung an seine Person nur zu leicht mit der Erinnerung an diese.155Und als Pinchas Erlanger im Jahr 1984 auf der Suche nach Spuren seiner Großeltern und Erinnerungen an sie Nürtingen besuch te, stieß er auf Unwissenheit: Ich war nur ein einziges Mal in Nürtingen, besuchte auch das Haus in der Schafstraße. Die jetzigen Bewohner – eine katholische Jugendorgani sation. Die Leute hatten keine Ahnung von den ehemaligen jüdischen Besitzern des Hauses. 156 enEi Wiedergutmachungszahlung von 17 000 Mark wegen des Immobilienbesitzes, den Josef Herrmann 1936/37 in Nürtingen hatte aufgeben müssen, mußte Anfang der50er Jahre die Eigentümerin des Hauses Ven delaustraße 46, dem letzten Besitz Josef Herrmanns in der Stadt, leisten. Ein Viertel dieser Summe übernahm die Stadt, die 1936 von Josef Herrmann die Grundstücke in der Ruthmännin erworben hatte, Land, das jetzt in der Nachkriegszeit dringend als Bauland benötigt wurde. (Mehr dazu im Abschnitt über die Wiedergutmachung.)Ludwig Herrmann, Fanny Erlanger sowie Fritz Essinger157, die Erben von Josef Herr mann, erhielten 1959 vom Landesamt für Wiedergutmachung Stuttgart nach langem Hin und Her den Bescheid, daß sie für entzogene Wertgegenstände und . . . Wert papiere gegen das Land BadenWürttemberg einen Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 5178 Mark hätten, wegen Schadens an Freiheit einen solchen in Höhe von 1800Mark.158 1963/64 erhielten sie wegen Scha dens durch Entrichtung von Sonderabga ben . . . hier Judenvermögensabgabe und Heimeinkauf eine Summe von 855 Mark und in einem Ergänzungsbescheid für ent gangene Nutzungen der Wertpapiere einen Anspruch in Höhe von 433 Mark zugespro chen.159Das für Josef Herrmann vorgesehene Grab auf dem israelitischen Friedhof in Cannstatt wurde nicht belegt
Rohtext 2. Teil - Von Ravensburg nach Theresienstadt
Sie wurde in ei nem Doppelgrab des jüdischen Steigfriedho fes in Cannstatt beigesetzt. Das noch zu belegende Reservegrab ließ Josef Herrmann bei dem Israelitischen Gemeinde Vorsteher amt
Stuttgart Cannstatt für sich vorsehen.94Am 23. Juni 1936 übergab der nun auf sich alleine gestellte Josef Herrmann sein bis da hin bei ihm lebendes jüngstes Enkelkind der Tochter Flora Essinger
und ihrem Mann in Ulm und verließ Nürtingen, um in die Nähe seiner zweiten Tochter, Fanny Erlanger, nach Ravensburg Burach überzusiedeln.95 In der Unteren Burachstraße 78 bei den drei Schwestern
Anna, Frieda und Maria Steg mann bezog er ein Zimmer.96 Die Möglich keit, in Nürtingen eine Haushälterin oder andere Unterstützung zu erhalten, bestand für ihn seit den Nürnberger Gesetzen nicht
mehr.97 Am 26. Juni 1936 meldete sich Josef Herrmann in Ravensburg polizeilich an.98Die Familienregister wurden bereits am 9. Juli von Nürtingen nach Ravensburg überge ben. Der Enkel Pinchas
Erlanger erinnert sich:99Der Großvater übersiedelte nach Ravens burg und lebte in einem gemieteten Zimmer in der Nähe unseres Anwesens. (Nach dem Tod seiner Frau) konnte er schon wegen seines
Gesundheitszustandes nicht alleine sein und er entschloß sich, nach Ravensburg in die Nähe seiner Tochter zu ziehen. 15Minuten von unserem Anwesen entfernt mietete er sich bei den Geschwistern
Steg mann ein. Das waren drei unverheiratete Frauen, die einen Kolonialwarenladen be trieben, in dem wir von jeher unsere Lebens mittel kauften. Sie waren streng katholisch, fern von jeglichem
Antisemitismus, bewiesen viel Zivilcourage bei der Vermietung des Zimmers an einen Juden, auch indem sie ihn bis zu unserem letzten Tag in Ravens burg treu bedienten und betreuten. Er machte
seinen täglichen Spaziergang über unseren Hof nach Weingarten, wo er Stammgast zum Nachmittagskaffee in einem der Cafés wurde.Dreieinhalb Monate nach seinem Wegzug teilte Bürgermeister Weilenmann
dem Nür tinger Gemeinderat mit, daß Josef Herrmann von seinen Nutzungsrechten als Gemeinde bürger, einem Allmandteil und dem Bezug des Bürgerholzes, ausgeschlossen sei.100 Juden seien nach der
Deutschen Gemeinde ordnung nicht mehr Gemeindebürger, und deswegen werde den hier ansässigen Juden Josef und Heinrich Herrmann rückwirkend die Holznutzung (auf 1. April 1936) und die
Allmandnutzung (auf 1. Oktober 1936) ent zogen. Im Protokoll heißt es weiter: Die Beigeordneten wie auch die Ratsherren neh men hievon mit Befriedigung Kenntnis. Obwohl er nun in Ravensburg
lebte, kam Josef Herrmann immer wieder in die vertrau te Stadt Nürtingen, an der er wohl gehangen hat. Luise Fischer erinnert sich, ihm öfters auf der Straße begegnet zu sein. Josef Herr mann
hatte in seiner Heimatstadt, in der er als ehemals angesehener und dann verfem ter Bürger gelebt hatte, noch seine Besitz und Vermögensverhältnisse zu ordnen. Ver mutlich hat er auch seinen
Bruder, Heinrich Herrmann, besucht.Vom 7. Dezember 1936 ist im Stadtarchiv Nürtingen ein Kaufvertrag zwischen Hein rich Josef Herrmann, früher Viehhändler, jetzt Privatmann in Ravensburg, untere
Burachstraße 78, handelnd zugleich als Al leinerbe seiner verstorbenen Ehefrau und Bürgermeister Hermann Weilenmann als Vertreter der Stadt erhalten.101 Josef Herr mann verkaufte danach für 26
660 Reichs mark an die Stadtgemeinde Nürtingen seine Wiesen auf Ruthmännin, bestehend aus Parzellen im Umfang von fast einem Hektar. Bereits einen Tag später erwarb er von Mau rermeister Schall
das Gebäude Vendelaustra ße 46 um 20 000 Reichsmark. Am 27. De zember 1937 gab er mit diesem Haus, für das er dann 21 300 Reichsmark erhielt, seinen letzten Nürtinger Besitz auf.102Wofür
verwendete Josef Herrmann dieses Geld? Benötigte er es für sich, für die Pflege kosten? Gab er es seinen Kindern, damit sie auswandern, dem Unheil entkommen konn ten? Wollte er sich seinen
Lebensabend si chern? – Alles zusammen. Doch er wurde schändlich betrogen.Die Atmosphäre in Nürtingen war 1936/37 schon ganz anders als noch 1934, das gehtauch aus der Aussage von Luise Fischer
hervor:103 Wissen Sie, er ist dann hier noch herumgelaufen in Nürtingen. Aber können Sie so einen Mann verstecken? Das will etwas heißen, wenn da eine Frau irgendeinen ver steckt hat. Sie haben
ja nie gewußt, wer da aufpaßt. Die Leute sehen ja weiß was! Also, da hat er mir leid getan, als er da noch da wa r .In Ravensburg wurde Josef Herrmann – ver mutlich am 10. November 1938 im Zusam
menhang mit dem von den Nazis inszenier ten Pogrom – verhaftet, kam aber bald wie der frei.104 Bei der an das Finanzamt Wein garten zu zahlenden Juden Abgabe in Höhe von 8500 Reichsmark, die in
seiner weiter unten zitierten Beschwerde vom 7. März1940 genannt wird, handelte es sich um die sogenannte Sühneleistung für die von den Nazis inszenierten Verwüstungen der Po gromnacht.105 In
einer aller Logik und jegli chem Rechtsempfinden Hohn sprechender Art „baten“ die NS Machthaber ihre Opfer für die von ihnen, den Tätern, inszenierten Schäden und Bosheiten der schändlichen
Novembernacht 1938 auch noch zur Kasse. Der Novemberpogrom verlief nach den Er innerungen seines Enkels Pinchas Erlanger, der allerdings in Ravensburg nicht Augen zeuge war, für Josef Herrmann
offensichtlich vergleichsweise glimpflich:106 Die SA Helden fuhren im Morgengrauen mit abgeblendeten Lichtern auf dem Hof (der Eltern) vor, war fen ein paar Fenster ein und verzogen sich
fluchtartig. Mein Großvater wurde wie alle jüdischen Männer in Ravensburg verhaftet und ins Gestapogefängnis in Ravensburg eingeliefert. Um bei der Wahrheit zu bleiben, war die Behandlung dort
sehr menschlich und keinem der Häftlinge wurde ein Haar gekrümmt. Nach ein paar Tagen wurden die Ravensburger Juden aus der Haft entlassen. Die beiden Praktikanten des Burachhofes jedoch, junge
jüdische Menschen, die sich auf die Auswanderung nach Palästina und eine landwirtschaftliche Tätigkeit dort vor bereiteten, kamen als Auswärtige nach Ulmund von dort als sogenannte
Schutzhäftlinge ins KZ Dachau.Doch auch für Josef Herrmann gingen dieSchikanen weiter. Auf den Namen Josef Israel Herrmann mußte er sich am 19. Dezember 1938 seine Kennkarte ausstellen lassen.
Nicht nur, daß er mit dem Zwangsvornamenbelegt worden war, über die handschriftli chen Eintragungen war ein großes rotes „J“ gestempelt, damit jeder gleich wußte, daß man es mit einem Juden zu
tun hatte. Vom Ravensburger Bürgermeister als Ortspolizei behörde und dem dortigen Landratsamt wurde er genauso überwacht wie zuvor in Nürtingen.107Sein Heimatland, in dem er verwurzelt war, zu
verlassen, war Josef Herrmanns Weg nicht – trotz aller Verfolgungsmaßnahmen. Doch die Auswanderung seiner TochterSo kam Josef Herrmann am 1. August 1939 ins jüdische Altersheim nach
Herrlingen, wenige Kilometer westlich von Ulm.108Das Heim war im Frühjahr 1939 vom Ober rat der Israelitischen Religionsgemeinschani Württemberg an der Stelle eines kurz zuvor
aufgelösten jüdischen Landschulhei mes errichtet worden.109 Es sollte helfen, die zahlreichen alten Menschen aufzunehmen, die nach der Auswander ung ihrer Angehöri gen alleine zurückgeblieben
waren. Viel leicht spielte bei der Gründung aber auch – in einem ganz anderen Sinn – Druck der Gestapo eine Rolle, denn reichsweit gab es damals schon Bestrebungen, Juden in be sonderen Häusern
(„Judenhäusern“) zusam menzupferchen, um die spätere „Entjudung“ der Gemeinden dann einfacher durchführen zu können. Und tatsächlich wurden im Som mer 1939 schon viele alte Menschen ins Heim
aufgenommen, die man nach Aufhe bung des Mieterschutzes für Juden aus ihrenbisherigne hatte. Wohngemeinden ausgewiesen Im Ort Herrlingen selbst gab es im Vorfeld der Einrichtung des
Heims eine Hetzkampa gne gegen die zukünftigen Bewohner.110Bürgermeister Alfons Brielmaier beschwerte sich gegenüber dem Landrat in Ulm, daß die alten Juden, welche den Weltkrieg und den
Zusammenbruch Deutschlands 1918 mit verschuldet haben, nicht zum Lohn dafür als Ruhesitz fürs Alter einen der sonnigsten, landschaftlich hervorragendsten Plätze vor den Toren Ulms erhalten
sollten . . . Die alten Juden sollen büßen für die Verbrechen der Talmud Lehre. Barackenlager in der sump figsten Gegend wären für die alten Juden gerade gut genug; je bälder sie absterben
würden, umso besser.111 Trotz dieser bedroh lichen Atmosphäre dürfte auch Josef Herr mann gehofft haben, sich mit dem Einkauf ins Altersheim einen gewissen Schutz und lebenslängliche Betreuung
erworben zu ha ben.112 In Herrlingen traf Josef Herrmann seinender, wie er, als Viehhändler in Nürtingengearbeitet hatte, bis er 1928 im Ruhestand in seinen Geburtsort Rexingen zurückgekehrt
war. Auch bei ihm lagen die Verhältnisse ähnlich: Da seine Angehörigen – vermutlich die Tochter Hedwig und ihr Mann Julius Steinharter114 – Deutschland verlassen woll ten, brachten sie ihren
pflegebedürftigen Vater nach Herrlingen ins Altersheim, weni ge Tage bevor auch Josef Herrmann dort ankam.115 Sechzehn Tage nach seiner Ankunft in Herr lingen mußte Josef Herrmann wie die
ande ren Heimbewohner einen Vernehmungsbo gen zur Überwachung von Juden ausfül len.116 Die Heimverwaltung gab diese Bögen in doppelter Ausfertigung an das Bürgermei steramt weiter. Ein Exemplar
verblieb bei der Gemeindeverwaltung, das zweite wurde noch am selben Tag dem Landrat in Ulm vorgelegt und war nach Ergänzung der dorti gen „Judenkartei“ zur Weiterleitung an die Gestapo in
Stuttgart bestimmt. Diese hatte hierdurch den landesweiten Überblick und wußte jederzeit über den Aufenthaltsort der jüdischen Einwohner, Vermögensverhältnis se und anderes Bescheid. Genauestens
wur de nach den Namen und dem Aufenthaltsort der nächsten Verwandten gefragt. Zwei vonJosef Herrmanns Kindern waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Sicherheit: Flora Essinger und ihr Mann in Ra
mat Gan, Palästina; Ludwig Herrmann in Kikuyu, Bri tisch Ostafrika. Fanny Erlan ger jedoch wohnte noch auf dem Burachhof bei Ravens burg. Ebenfalls wurde ge fragt, ob der Verhörte arische
Hausgehilfinnen beschäftigt habe. Dies bejahte Josef Herrmann wahrheitsgemäß, gab aber, obwohl auf dem Formblatt vorgesehen, keine Personalien an. Auf eine weitere Frage gab er an, er sei weder
Zionist noch Assi milant. Wahrscheinlich wußte Josef Herr mann, daß die Assimilanten gerade deswe gen, weil sie in erster Linie deutsch sein wollten, von den Nazis als besonders zu bekämpfen
angesehen wurden. Als Besitz gab er etwa 20 000 Reichsmark in Wertpa pieren an, als monatliches Einkommen des vorhergehenden Jahres 90 Reichsmark, jetzt aber nur noch 70 Reichsmark. Der Grund
seines Aufenthaltswechsels sei die Unter bringung in einem geschlossenen Kreis von Juden und die Ver pflegung durch die Ver waltung des Heimes.Nach dem Kriegsbeginn mit dem deutschen Überfall auf
Polen verschärfte sich die Situa tion auch für Josef Herrmann.117 Als Jude galt er nun als Reichsfeind. Von Anfang an war der Krieg auch von schlimmen Verbrechen gegen polnische Juden begleitet.
Und die deutschen Juden wurden so behandelt, als seien sie Verbündete des Feindes, die in den eigenen Reihen wirkten. Ein nächtliches Ausgehverbot von 20 Uhr abends bis 7 Uhr morgens wurde allen
Juden auferlegt. Weiter wurde den jüdischen Heiminsassen unter sagt, im Falle eines Luftangriffes öffentliche Luftschutzräume aufzusuchen. Auf Veranlas sung der Gestapo in Stuttgart suchte
derHerrlinger Gendarm am 23. September 1939– es war Jom Kippur – das Altersheim auf und zog die Radios von Josef Herrmann und einem Mitbewohner ein.118 Mit der Beschlag nahme sollte unter anderem
das Abhören von sogenannten Feindsendern unmöglich gemacht werden. Für die Altersheimbewoh ner bedeutete dieser Verlust, daß sie von nun an vom äußeren Geschehen weitge hend abgeschnitten waren.
Die beschlag nahmten Radiogeräte blieben bis Anfang November 1939 bei der Gendarmerie, bevor sie an die SS abgeliefert wurden. Außerdem wurden die Lebensmittelrationen der Heim bewohner durch die
diversen Sonderbestimmungen schrittweise ge kürzt, so daß sich im folgen den die Verpflegungssituati on der Zwangsgemeinschaft immer mehr verschlechter te.119Josef Herrmann, der im Ver gleich zu
anderen Heimbe wohnern noch ein rüstiger Rentner war, unternahm häufig längere Spaziergänge in den Wäldern der Umge bung. Allerdings kam es im Herbst 1939 zu massiven Be lästigungen der alten
Leute durch Herrlinger Jugendli che.120 Sie beschimpften und verhöhnten die Menschen, die im Alter ihrer Großväter und Großmütter waren, und bewarfen sie sogar mit Stei nen – auch die alten
Frauen! Ein Rädelsführer wurde vom Leiter der Volksschule ge deckt. Die eingeschüchter ten und vogelfreien Alters heimbewohner trauten sich nach den Pöbeleien und in famen Tätlichkeiten immer
seltener auf die Straße. Au ßerdem mußten die alten Leute die Ausgangssperrebeachten. So lebten die zu Fremdkörpern Degradierten immer zurückgezogener. Josef Herrmanns Kontakte beschränkten sich
zwangsläufig auf den Kreis der Schicksalsge nossen.Ende November 1939 kamen für seine noch in Deutschland weilende Tochter Fanny Er langer und deren Familie endlich die lang ersehnten Visa für
Palästina. Pinchas Erlan ger schreibt:121 Wir mußten ganz überstürzt abreisen. Der Großvater wollte Deutschland nicht verlassen, obwohl die Möglichkeit da für bestand. Sein Argument: Einen alten
Baum ver pflanzt man nicht. Weder er noch wir ahnten, welches Schicksal ihm bevorstand. Wir verabschiedeten uns von ihm auf dem Bahnhof in Ulm. Der Abschied war un säglich schwer, und viele
Tränen flossen. Der Abschied war fürs Leben. Geblieben ist die wehmütige Erinnerung an einen lieben und liebenden Großvater, an einen edlen Menschen und einen von den sechs Millio nen . . .Vom 7.
März 1940 liegt noch eine hand schriftliche Beschwerde des Josef Israel Herr mann an das Bürgermeisteramt Herrlingen vor.122 Dies ist das letzte mir bekannte Doku ment mit den Schriftzügen Josef
Herrmanns. Wie auch andere Heiminsassen beschwerte er sich darüber, daß bei der Erhebung der Bürgersteuer sein Einkommen des Jahres1937 zugrundegelegt worden war. Da es im Hinblick auf den Wandel
seiner Vermögens verhältnisse und die Verwendung seines Ver mögens sehr aufschlußreich ist, soll die Be schwerde hier im vollen Wortlaut wiederge geben werden: Der Bürgersteuerbescheid ist
begründet auf mein Einkommen im Kalen derjahr 1937. Diese Begründung ist für die heutige Veranlagung nicht zulässig, weil sich mein Einkommen und Vermögen seit dem Kalenderjahr 1937 um die Hälfte
ver ringert hat. Mein Vermögen besteht vollstän dig aus Wertpapieren und ist bei der Kreis sparkasse Ravensburg vollständig angelegt im Depot und Girokonto 2501. Das Vermö gen hat im Jahr 1937
circa 36 000 M betra gen und beträgt heute circa 18 500 M und hierdurch mein Einkommen ungefähr die Hälfte vom Jahr 1937. Der Rückgang des Vermögens ist dadurch begründet, daß ich an das
Finanzamt Weingarten 8500 M Ju den Abgabe123 bezahlen mußte. Es sind zwei Kinder von mir in dieser Zeit ausgewandert, was mich auch Geld gekostet hat, und reicht mein Zinseinkommen nicht zu
meinem Le bensunterhalt. Ich kann aus Gesundheits gründen seit 1933 nicht mehr arbeiten und zehre vom Vermögen. Als Beweis stelle ich Einsichtnahme auf mein Conto bei der Kreissparkasse
Ravensburg zur Verfügung. Ich beantrage, Herabsetzung der Bürgersteuer den Vermögensverhältnissen entspre chend. Mit Rücksicht auf sein Alter ermäßig te das Bürgermeisteramt seine Bürgersteuer
für das Jahr 1940 auf 20 Reichsmark, die in Raten über die Heimleitung pünktlichst an die Gemeindekasse Herrlingen abzuführen waren.124 Von nun an wurde auf sein Alter allerdings keine Rücksicht
mehr genommen. Ab September 1941 mußten auch die Heim bewohner den „Judenstern“ tragen, wenn sie das Haus verließen. 125 Noch mehr mieden sie nun die Öffentlichkeit, denn diese Brand markung lud
geradezu zu antisemitischen Angriffen ein. Trotz aller Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit wagten es ehemalige Viehhändler aus dem Altersheim, darunter vielleicht auch Josef Herrmann, bei
starkem Nebel den in Klingenstein wohnhaften Land wirt Andreas Münch aufzusuchen.126 Sie sa hen nach dessen erkrankten Kühen – ohne die erforderliche ortspolizeiliche Genehmi gung – und
behandelten das erkrankte Vieh mehr als einmal fachkundig. Daß die Familie Münch den deportierten Altersheimbewoh nern später unter falschem Absender Le bensmittelpakete schickte, zeigt, daß das
Verhältnis sehr gut und von gegenseitiger Hilfsbereitschaft geprägt war. Auch sonst verhielten sich einige Einwohner Herrlin gens sehr couragiert.127 So lud eine Frau eine Insassin wiederholt zum
Abendessen ein. Dies mußte natürlich unbemerkt geschehen. Obwohl von der SS verboten, behandelte der Zahnarzt Dr. Friedrich Kiess die Alters heimbewohner, oft sogar unentgeltlich. Der Herrlinger
Bäcker Johannes Schmidt erlaub te dem Altersheim bis zuletzt, für das Backen der Mohnzöpfe seine Backstube zu benut zen, obwohl er deswegen Schwierigkeiten bekam. Doch das Unheil nahm seinen
Lauf, oder besser gesagt: Die Unheilvollen bestimmten den Lauf der Dinge. Vielleicht bekamen die Heimbewohner schon etwas mit, als im No vember 1941 mehreren jüngeren Hausbe diensteten
„Evakuierungsbescheide“ zuge stellt wurden.128 Vier der jungen Frauenkonnten sich zunächst noch der Erfassung zum Transport, der am 1. Dezember von Stuttgart aus nach Riga erfolgte, durch über
stürzten Wegzug von Herrlingen entziehen; der 48jährigen Angestellten Emilie Leonber ger jedoch gelang dies nicht mehr. Sicher mußten sie aber miterleben, daß im April1942 vier Heimbewohner und
zwei Ange stellte gezwungen wurden, sich mit nur we nig Gepäck einem „Transport nach dem Osten“ anzuschließen, der am 26. April Stutt gart in Richtung Izbica bei Lublin im „Gene ralgouvernement
Polen“ verließ. Von Ah nungslosigkeit oder auch Hoffnung , die den vorigen Transport noch begleitet hatten, war diesmal bei den Deportierten nichts mehr zu spüren. Viele waren verzweifelt und
trugen sich mit Selbstmordabsichten.129 Ein lasten des Gefühl akuter Bedrohung machte sich mehr und mehr breit.Seit Ende 1941 liefen die Vorbereitungen zur Auflösung des jüdischen Altersheimes
Herr lingen.130 Die Bewohner sollten zusammen mit den verbliebenen Ulmer Juden in das ganz heruntergekommene und nur notdürf tig instandgesetzte Oberstotzinger Schloß eingewiesen werden.
Oberstotzingen liegt knapp 30 Kilometer nordöstlich von Herrlin gen im Landkreis Heidenheim. Ab dem 10. Juni 1942 mußten die Heimbewohner Herr lingen verlassen; am 9. Juli kam die Reihe an Josef
Herrmann. Wie die anderen Mitbewoh ner konnte er nur sehr wenig persönliches Inventar mitnehmen. Die Verlegung wurde von den Heimbewohnern mit großer Ver zweiflung aufgenommen. Es war ihnen be
wußt, daß Oberstotzingen für sie nur eine Übergangsstation darstellen sollte und die Absicht bestand, sie in absehbarer Zeit im„jüdischen Reichsaltersheim“ Theresienstadt anzusiedeln.Bereits am
14. August 1942 verfügte der Leiter der Staatspolizeileitstelle Stuttgart, Friedrich Mußgay, die vollständige Auflö sung unter anderem des Sammellagers im Oberstotzinger Schloß.131 Alle seine
Bewoh ner sollten einem Transport mit Juden dem Protektorat zugeteilt werden, der Stutt gart am 22. August 1942 verlassen sollte. In den Tagen vor dem Abtransport wurden alle noch über
finanzielle Mittel verfügenden ehemaligen Altersheimbewohner gezwun gen, „Heimeinkaufsverträge“ für Theresien stadt abzuschließen. In Wirklichkeit war dies eine getarnte staatliche Ausplünderung.
Jo sef Herrmann müssen auf diese Weise fast15 000 Reichsmark abgepreßt worden sein.132 Mußgay verwies in seinem Erlaß vom14. August im Blick auf das zu beachtende Verfahren auf eine Anweisung,
die er bei zwei vorhergehenden Deportationen aus Württemberg und Hohenzollern im Frühjahr1942 erteilt hatte.133 Darin heißt es entlar vend: Die in der letzten Zeit in einzelnen Gebieten
durchgeführte Umsiedlung von Ju den nach dem Osten stellt den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark und im Protektorat Böhmen und Mähren dar . . . Ausfälle (durch
Selbstmord usw.) sind unverzüglich mitzuteilen. Zweck der Maßnahme sei die Entjudung der einzel nen Kreise. Durch die Ortspolizeibehörde sei eine eingehende Durchsuchung jeder Person unter
anderem nach Bargeld, Devi sen und Schmuck vorzunehmen. Zu einem reibungslosen Transport hierher (nach Stutt gart) sind eine entsprechende Anzahl Poli zeibeamter bereitzuhalten. Verschärfend
fügte der auch Josef Herrmann betreffende Erlaß vom 14. August diesen Anweisungen hinzu: Ein Ausscheiden eines namhaft ge machten Teilnehmers aus irgendeinem Grunde, Krankheit, Gebrechlichkeit
usw. kann nicht erfolgen. Vorkehrungen für den Transport der sogenannten Transportunfä higen sind rechtzeitig zu treffen, so daß sämtliche eingeteilten Juden rechtzeitig in Stuttgart eintreffen.
Als Gepäck wurde je dem Betroffenen nur ein Koffer oder Ruck sack zugestanden, der etwas Kleidung, Bett zeug und Eßgeschirr enthalten durfte.Mit den verschleiernden und zynischen Be griffen
„Umsiedlung nach dem Osten“, „End lösung der Judenfrage“ und „Entjudung“ wardie planmäßige Deportation und massenhaf te Ermordung gemeint.Am 19. August frühmorgens, noch bei Dun kelheit, wurden
die meist gebrechlichen La gerinsassen von Oberstotzinger Dorfbewoh nern mit Fuhrwerken zum Bahnhof in Nie derstotzingen gebracht.134 Die Juden waren sehr verzweifelt und der Abtransport ging
keineswegs so still und unbemerkt vonstat ten, wie es sich die Gestapo wohl gewünscht hatte. Ihr Jammern und Wehklagen ging mir durch Mark und Bein. Noch heute habe ich das Schreien der alten
Leute in den Ohren und kann es wohl nie wieder vergessen, so erinnerte sich ein Zeitzeuge nach über 50Jahren.135 Dies spricht dafür, daß die alten Menschen eine Ahnung davon hatten, was sie in
Theresienstadt erwartete. Was drohte ihnen, wenn sie sogar von den miserablen Verhältnissen im Oberstotzinger Schloß wegverfrachtet wurden? Bis jetzt war es im mer schlechter gekommen, nie
besser. Ob Josef Herrmann sich an den Strohhalm der in seinem „Heimeinkaufsvertrag“ vorgegaukel ten gutbürgerlichen Wohnverhältnisse klam merte?Für die Bevölkerung aus der Umgebung galten die
Deportierten als auf Nimmerwie dersehen verschwunden, denn sie fiel bald wie ein Heuschreckenschwarm über das unbewohnte Schloß her. Bevor das Finanz amt Heidenheim, wie vorgesehen, die zu
rückgelassenen Möbel zu Geld machen konnte, bereicherten sich die Leute aus dem Ort und den umliegenden Dörfern daran. Auf dem Bahnhof Niederstotzingen wiesen Polizisten die Bewohner des
Sammellagers Oberstotzingen zwei Eisenbahnzügen zu, die von der Reichsbahndirektion Stuttgart trotz großer kriegsbedingter Probleme zur Verfügung gestellt worden waren.136 Der Ver nichtung der
deutschen Juden wurde offen sichtlich die gleiche Priorität zugemessen wie dem Vernichtungskrieg im Osten. Alles war genauestens geplant, man hatte sogar besondere Fahrpläne erstellt. Der eine
Zug verließ Niederstotzingen um 5.19 Uhr mitden ersten 45 Juden, erreichte den Ulmer Bahnhof um 6.04 Uhr, hatte dort Aufenthalt bis 8.10 Uhr und erreichte Stuttgart um 11.41Uhr. Der zweite
Transport mit den übrigen etwa 50 Juden folgte um 7.35 Uhr, hielt in Ulm vier Stunden von 8.16 Uhr bis 12.15 Uhr und kam in Stuttgart um 14.34 Uhr an.In Stuttgart wurden die Oberstotzinger Ju
den, darunter außer Josef Herrmann auch sein Schwager Abraham Preßburger, mit Omnibussen auf den Killesberg gebracht.137Dort wurden sie von der Gestapo übernom men, in die Ausstellungshallen
verbracht und einer entwürdigenden Leibesvisitation unterzogen. Sie trafen auf eine große Zahl von Leidensgenossen, die aus anderen Ge meinden Württembergs hierher gebracht worden waren. Die
folgenden Nächte muß ten die 1076, vielfach gebrechlichen, Men schen zusammengepfercht unter katastro phalen Umständen zubringen. In der ersten Nacht kamen acht der alten Menschen um. An der
Durchführung der Deportation muß te sich die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ beteiligen. Der auf dem Killes berg anwesende Leiter der Stuttgarter Be zirksstelle, Ernst Moos138, hatte
wohl den Auftrag erhalten, die Zusammengesperrten zu beruhigen. Nach seinen Erzählungen – so hörten die zur Deportation Vorgesehenen – werde man in Theresienstadt bevorzugt be handelt sowie ein
gepflegtes Lager und gute Lebensverhältnisse antreffen. Zweifel daran mußten allerdings sogar die Gutgläubigsten befallen.Am 21. August wurden die Gehbehinderten und Kranken mit Lastwagen zu
einem außer halb Stuttgarts gelegenen Güterbahnhof ge bracht und in Viehwaggons verladen, in de nen sie, bewacht durch SS, die folgende Nacht verbringen mußten. (An diesem Tag erhielt wohl auch
Josef Herrmann eine Ver fügung der Gestapo, nach der sein ganzes Vermögen zugunsten des Deutschen Rei ches eingezogen wurde.)139 Die als gehfähig Eingestuften mußten am nächsten Tag zum
Güterbahnhof marschieren. Der Marsch dervielen hundert erfolgte am hellichten Tag, und die mit dem grellgelben „Judenstern“ Versehenen gingen ihren Weg in glühender Hitze und unter scharfer
Bewachung, vor aller Augen. Nach dem „Verladen“ plombier ten die Bewacher die Wag gons, und der Zug setzte sich in Bewegung. Es war der Deptationstransport mit der Bezeichnung XIII/1.Sein Ziel
war Theresienstadt. Dort hatte Josef Herrmann nur noch etwas über einen Monat zu leben.Nach dreißigstündiger Fahrt unter Bewa chung von SS und SD kam der Zug mit den Deportierten aus Stuttgart am
23. August in Theresienstadt an.140 Die nach der österrei chischen Herrscherin Maria Theresia be nannte Festung und Militärstadt lag zwi schen Dresden und Prag nahe der Mündung der Eger in die
Elbe. Den mit zahlreichen leerstehenden Kasernen ausgestatteten und ringsum befestigten Ort richteten die Natio nalsozialisten im November 1941 als Getto lager ein, in das zunächst böhmisch mähri
sche Juden deportiert wurden. Auf der Berli ner Wannsee Konferenz am 20. Januar 1942, bei der es um die Durchführung des bereits beschlossenen Völkermords an den europäi schen Juden ging,
unterrichtete Reinhard Heydrich die Teilnehmer von dem Plan, die über 65 Jahre alten Juden aus dem Reichsge biet nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto zu überstellen.141 Als Ort
dafür nannte er Theresienstadt. Auch jüdische Schwerbeschädigte und hochdekorierte Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg, ge gen deren „Evakuierung“ in den Osten Ein gaben von vielen Seiten aus
erfolgten, soll ten dort unter Vorspiegelung einer gutenUnterbringung Aufnahme finden. Dabei soll te verborgen werden, daß das Lager von der SS von vornherein als Durchgangsstation gedacht war –
als Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtung.Resi Weglein, eine als Krankenschwester eingeteilte Ulmer Jüdin (Jahrgang 1894), diedas Konzentrationslarge Theresienstadüberlebte,
berichtet über die Ankunft des Transports aus Stuttgart, dem sie selbst ange hörte:142 Als der Zug hielt, stiegen zuerst die SS Männer mit Sturmbannführer Koch aus. Auf dem Bahnsteig stand
Lagerkomman dant Dr. Seidl mit weiteren SS Männern und sehr vielen tschechischen Gendarmen. Junge tschechische Juden übernahmen das Ausla den . . . Zwei sehr schlechte Lastkraftwagen standen zur
Beförderung (der) Kranken be reit. Damit ja niemand eine Bequemlichkeit hatte, mußten die Kranken stehen, gleich gültig ob sie dazu in der Lage waren oder nicht. In rasendem Tempo fuhren die
Wagen nach Theresienstadt, wo die Menschen halb tot in der sogenannten Schleuse abgeliefert wurden. Eines der Fahrzeuge war in so schlechtem Zustand, daß es Tote und Ver letzte gab, als während
der Fahrt die Ladeflä che durchbrach. Der Zug der Gehfähigen: Bei glühender Hitze, beladen mit dem ver schiedenen Handgepäck, marschierten zwi schen 900 und 1000 Menschen nach There sienstadt
(bis zum Lager waren es etwa drei Kilometer). Es waren traurige Gestalten, die unter Bewachung der tschechischen Gen darmen (sie unterstanden faktisch der SS) über die Landstraße mehr krochen als
gin gen. Viele brachen unterwegs zusammen. Aber unbarmherzig schlugen die Gendarmen mit ihren Reitpeitschen auf die Armen ein, oder sie hetzten ihre großen Schäfer hunde auf sie. Nach zwei
stündigem Marsch gelangten die Deportierten am Abend ins eigentliche Gettolager. In der „Schleuse“ hatten sie sich stundenlangen, entwürdi genden Prozeduren zu un terziehen. Alle Habe von ir
gendwelchem Wert wurde ihnen abgenommen: Ther mosflaschen, Seifen, Konser ven, Taschenlampen, insbe sondere sämtliche Medika mente. Josef Herrmann aber war auf seine Herzmedizin dringend
angewiesen. Die alten Menschen mußten sichnackt ausziehen und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, bei der ihnen oft noch Teile der Kleidung geraubt wurden. Auch ihr Gepäck sahen sie
nie wieder. Nach Mitternacht wurden sie zusammengetrieben und in die „Dresdener Kaserne“ gebracht. Angesichts der zukünftigen Unterbringung und des dort herrschenden „Infernos“ bra chen
spätestens jetzt alle Hoffnungen zu sammen, die sich vielleicht noch bei dem einen oder anderen an die „Heimeinkaufs verträge“ und ihre Versprechungen geknüpft haben mochten. Der größte Teil der
Trans portteilnehmer wurde . . . auf dem Dachbo den untergebracht, d. h. die Leute lagen auf dem Boden, in den ersten Wochen ohne ir gendetwas; nur das, was sie auf dem Leibe hatten. Die Klosetts
waren in einem tiefer n Stockwerk, und die wenigsten der alten Men schen konnten sie rechtzeitig er reichen, zu mal die meisten von ihnen in den ersten Tagen an Diarrhoe (Durchfall) erkrankten.
Es gab zu der Zeit natürlich keinerlei Desin fektionsmittel, nicht einmal Eimer oder Putztücher. So war es für das Pflegepersonal sehr schwer, den Dachboden sauber zu hal ten. Die alten Leuten
erkrankten fast alleund . . . in den ersten Wochen (starben) täg lich zwischen 180 und 200 Menschen!143 So berichtete die Überlebende Johanna Gott schalk, zeitweise einmal stellvertretende Lei
terin des Herrlinger Altersheimes und selbst Angehörige des Stuttgarter Transports.Josef Herrmann kam zu einem Zeitpunkt nach Theresienstadt, als die Lebensbedin gungen hier immer katastrophalere
Ausma ße annahmen.144 Die Zahl der Menschen im Lager, das als Festungsstadt zuvor einmal7000 Einwohner hatte, stieg seit dem Winter1941/42 monatlich um etwa 6000 an. Im Juli1942 hatte sich dieser
Zuwachs auf mehr als25 000 gesteigert. Ende August war folglich die Überfüllung so schlimm, daß für die aus Stuttgart Deportierten nur noch ein Quartier wie der erwähnte Dachboden zur Verfügung
stand. Mitte September 1942 erreichte die Belegung des Gettolagers mit über 58 000Menschen ihren absoluten Höchststand. Nach dem Willen Heydrichs hatte sich der Stuttgarter Transport überwiegend
aus alten Menschen zusammengesetzt; das Durch schnittsalter etwa der von Oberstotzingen aus Deportierten lag bei fast 70 Jahren. Die wenigsten von ihnen konnten sich selbstversorgen, und das mit
ihnen deportierte Pflegepersonal war in dem ungeheuren Cha os hoffnungslos überfordert. Stundenlandes Anstehen für meist verdorbenes Essen war den gebrechlichen Menschen meist nicht mehr möglich.
Und selbst wer das noch konnte, litt bei den knappen Rationen unbe schreiblichen Hunger. Der Mangel an Hygie ne führte dazu, daß sich Infektionskrankhei ten wie Typhus und Ruhr rasch
ausbreiteten. Unter den deprimierten und schnell verfal lenden alten Menschen setzte ein Massen sterben ein. Von 82 ehemaligen Herrlinger Altersheimbewohnern starb fast jeder Dritte in den ersten
Wochen. Hans Günther Adler, der selbst zu den Lagerinsassen gehörte, schreibt über den Sommer 1942:145 Die Men schen starben friedlos und unbehütet, ohne Zuspruch, ohne freundlichen Blick. Dieser
Jammer unterschied sich in nichts von dem Verenden im „Revier“ eines jeden Konzen trationslagers – es war ein namenloses Ster ben. Das alles hatte tödliche Methode.146 Die SS, der das
Gettolager unterstand, wußte ja, in was für Verhältnisse hinein abertausende Ju den mit immer neuen Transporten absicht lich geschickt wurden; mehr noch: Sie er zeugte bewußt diese todbringenden
Zustän de. Resi Weglein erinnert sich:147 Die SS muß te die größte Freude daran haben, uns aus zuhungern. Anders sind alle Vorgänge nicht zu erklären. Ich konnte nie begreifen, daß Menschen
soviel Vergnügen daran haben, ihre Mitmenschen leiden zu sehen. Als die Verhältnisse im Lager die Propagandawir kung des „Altersgettos“ Theresienstadt ge fährdeten, sorgte die SS nicht für einen
ra schen Stopp der Zugänge, sondern depor tierte vom 19. September bis Ende Oktober1942 in einer großangelegten Aktion etwa21 000 Theresienstädter Gefangene, die we gen ihres Alters und
Gesundheitszustandes eine besondere Belastung für das Lager dar stellten, in die neu eingerichteten Massen vernichtungslager im Osten, vor allem nach Treblinka. In Treblinka wurden (seit
Juli1942) die Verschleppten in der Regel gleich nach ihrer Ankunft ermordet – in fingierten Duschkammern mit Hilfe der Abgase von Dieselmotoren. Die SS in Theresienstadt ent schied im Einzelfall
selbst, wer von den über65 Jahre alten Gefangenen, die sich hatten registrieren lassen müssen, im Lager in der Festung bleiben sollte und wer sofort in die Vernichtung kam, die sie als Verlegung
in ein anderes Getto zu tarnen versuchte. Hans Günther Adler bescheibt in seinem Buch über Theresienstadt diese „Alterstransporte“ im Herbst 1942:148 Beim Abtransport spielten sich furchtbare
Ereignisse ab, die selbst in der an Unmenschlichkeiten überreichen Ge schichte der Deportationen einmalig sind. Zunächst kamen die deutschen Juden an die Reihe. Diese hilflos verlassenen Menschen
wußten nicht, was sie beginnen sollten, und waren gar nicht in der Lage, sich für das Unglück vorzubereiten. Viele lagen in soge nannten Krankenstuben und „Siechenhei men“, in sogenannten Zimmern
und auf Dachböden, keiner Entschlüsse und Hand lungen fähig. Viele waren verfallen, krank, verlaust, halb verhungert, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, viele vom Tode gezeichnet, der sie gewiß in
wenigen Tagen an Ort und Stelle ereilt hätte. Aber nun mußten sie fort – ein Funke Erbarmens hätte sie hier sterben lassen. Gnadenlos wurden sie eingetrieben und aufgelesen, auf Bahren
geschleift, auf Karren wie Abfall geladen. Man schleppte sie mit ihren Lumpenbündeln bei Wind und Wetter auf die jämmerlichen skurrilen Lei chenwagen, die man wenige Monate zuvor aus allen
Judengemeinden Böhmens und Mährens als Verkehrsmittel nach Theresien stadt geschafft hatte, und schob die lebende Fracht zur Sammelstelle in der „Schleuse“. Zu tröstlichem Zuspruch war keiner da,
die Zeit eilte, und die sogenannte „Transporthil fe“ wie die „Transportleitung“ sahen nur darauf, daß die genaue Anzahl der Opfer pünktlich zur Stelle war. Man dachte gar nicht daran, Halbtote,
Schatten menschli cher Wesen in Agonie, wegen „Transportunfähigkeit“ zurückzustellen. Zur Verladung in Vieh oder Personenwagen, 15 bis 20 in ein Abteil gepreßt, schien jeder noch geeig
net. Josef Herrmann kam am 26. September 1942 in Theresienstadt ums Leben.149 Am selben Tag ging von hier aus ein solcher Transport nach Treblinka, dem auch Angehörige der Stuttgarter
Deportation vom 22. August zu gewiesen worden waren, darunter dieSchwägerin von Josef Herrmann, SophieDreifuß Herzer.150 Vielleicht war auch Josef Herrmann für diesen Abtransport in die Er
mordung vorgesehen. Kam Josef Herrmann in direktem Zusammenhang mit einer letz ten Verschleppung ums Leben? Starb er an einer Herzattacke, als er von seinem Todes urteil, der Zuweisung zum
Transport erfuhr? Oder war er kurz davor friedlos und unbe hütet zugrunde gegangen? Hat ihn noch eine Krankenschwester versorgt? Führten die feh lenden Medikamente zu seinem Tod oder war er
verhungert? Wer kann davon berich ten?151Nur wenig mehr als zwei Wochen später, am12. Oktober 1942, kam in Theresienstadt auch der Schwager von Josef Herrmann, Abraham Preßburger,
um.
Daß Josef Herrmann im Gettolager Theresi enstadt ums Leben gekommen war, davon erfuhr der Nürtinger Bürgermeister Her mann Weilenmann aus einem Brief des Soh nes Ludwig Herrmann vom 11.
August1946.152 Liest man unbefangen ein Schreiben des Nach Nachfolgers von Hermann Weilen mann vom 4. Juni 1962, dann scheint man Anfang der 60er Jahre beim Nürtinger Bür germeisteramt selbst
über diesen knappen Kenntnisstand nicht mehr verfügt zu ha ben.153 Auf die Anfrage der Archivdirektion Stuttgart, die sich im Auftrag des Landtags darum bemühte, die Schicksale der jüdi schen
Bewohner des Landes in den Jahren1933 bis 1945 aufzuklären, lautete die Ant wort: Irgendwelche Aufzeichnungen den jüdischen Familien sind nicht vorhan den. Die in Frage stehenden Familien Hein
rich, Josef Hermann (sic !) sowie Abraham Landauer sind teils 1933, 1936 und 1938 nach Stuttgart bzw. Ravensburg verzogen. Sie leben nun in England und Amerika. Ihre Anschriften sind hier
bekannt. Frau Anna Frank, Witwe ist im Oktober 1941 nach Hai gerloch verzogen und dort auch gestorben. Nach den sich lange hinziehenden Wieder Nach den sich lange hinziehenden Wieder
gutmachungsverhandlungne Anfang dermögen von Josef und Heinrich Herrmann betrafen, muß man jedoch über den Tod Josef Herrmanns informiert gewesen sein. An der Aufklärung seines Schicksals
wie am Lebensweg aller 1933 in Nürtingen lebenden Juden zeigte das Bürgermeisteramt nach die ser Antwort und dem weiteren Schriftver kehr mit der Archivdirektion nur geringes Interesse, auch wenn
man mit der Übermitt lung besonders von Daten aus den Standes amts und Melderegistern schließlich weiter half. Führten hier bürokratisches Denken und Arbeitsüberlastung die Feder, oder han delte
es sich um einen Akt der Verdrängung? Hat man sich für das Schicksal eines Mannes wie Josef Herrmann, der als angesehener Bürger über Jahrzehnte in der Stadt lebte, nicht mehr „zuständig“
gefühlt, weil er 1936 von Nürtingen weggezogen war? War die Erinnerung so schnell verblaßt?Wie bei Anna Frank schon angeführt, küm merte sich auch die Nürtinger Heimatge schichte lange nicht um
das Schicksal der ehemaligen jüdischen Einwohner, und so auch nicht um das von Josef Herrmann.154Da zudem zwei Brüder von Josef Herrmann in Nürtingen lebten, vermischte sich die Er innerung an
seine Person nur zu leicht mit der Erinnerung an diese.155Und als Pinchas Erlanger im Jahr 1984 auf der Suche nach Spuren seiner Großeltern und Erinnerungen an sie Nürtingen besuch te, stieß er
auf Unwissenheit: Ich war nur ein einziges Mal in Nürtingen, besuchte auch das Haus in der Schafstraße. Die jetzigen Bewohner – eine katholische Jugendorgani sation. Die Leute hatten keine
Ahnung von den ehemaligen jüdischen Besitzern des Hauses. 156
enEi Wiedergutmachungszahlung von 17 000 Mark wegen des Immobilienbesitzes, den Josef Herrmann 1936/37 in Nürtingen hatte aufgeben müssen, mußte Anfang der50er Jahre die
Eigentümerin des Hauses Ven delaustraße 46, dem letzten Besitz Josef Herrmanns in der Stadt, leisten. Ein Viertel dieser Summe übernahm die Stadt, die 1936 von Josef Herrmann die Grundstücke in
der Ruthmännin erworben hatte, Land, das jetzt in der Nachkriegszeit dringend als Bauland benötigt wurde. (Mehr dazu im Abschnitt über die Wiedergutmachung.)Ludwig Herrmann, Fanny Erlanger sowie
Fritz Essinger157, die Erben von Josef Herr mann, erhielten 1959 vom Landesamt für Wiedergutmachung Stuttgart nach langem Hin und Her den Bescheid, daß sie für entzogene Wertgegenstände und . . .
Wert papiere gegen das Land Baden Württemberg einen Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 5178 Mark hätten, wegen Schadens an Freiheit einen solchen in Höhe von 1800Mark.158 1963/64 erhielten
sie wegen Scha dens durch Entrichtung von Sonderabga ben . . . hier Judenvermögensabgabe und Heimeinkauf eine Summe von 855 Mark und in einem Ergänzungsbescheid für ent gangene Nutzungen der
Wertpapiere einen Anspruch in Höhe von 433 Mark zugespro chen.159
Das für Josef Herrmann vorgesehene Grab auf dem israelitischen Friedhof in Cannstatt wurde nicht belegt.
Josef Herrmann kam am4. November des Jahres1866 als erstgeborener Sohn des Viehhändlers Leopold
Herrmann und der Fanny geb. Liebmann im badischen Flehingen zur Welt.56 Schon bald übersiedelte er mit seinen Eltern
nach Nürtingen,
Wohnort seinerGroßeltern mütterlicher- seits.Der bürgerliche Vorname von Josef Herrmann lau- tete zunächst Heinrich. Bereits das Schulkind wurde jedoch
Josef geru- fen. Vielleicht war dies sein hebräischer Name,den er seit dem achten Tag nach
seiner Geburt neben dem bürgerlichen trug. 1910 jedenfalls ließ er sich den Namen Josef, mit dem er zuvor schon Schriftstücke
unter- zeichnet hatte, vom Nürtinger Amtsgericht auch amtlich als Rufnamen zuerkennen.57Josef Herrmann besuchte die Volksschule in
Nürtingen, aus der er im Jahr 1874 in das neue Nürtinger Reallyzeum58 überwechselte. Sei- nem Vater Leopold war eine gute
Schulbil- dung der Kinder wichtig. Im Schuljahr 1874/75 ist Josef Herrmann in der Klassenliste der aus 58 Schülern bestehenden Sexta des Real- lyzeums bereits mit seinem „zweiten“
Namen aufgeführt. Er war ein recht guter Schüler. In der Quinta im Schuljahr 1876/77 stand Josef Herrmann unter 36 Mitschülern leistungsmä- ßig an siebter beziehungsweise
im zweiten Halbjahr an achter Stelle.59 Nach der Schule wird er dann aber wohl gleich in den väterli- chen Viehhandelsbetrieb
eingetreten sein.1886–87 diente er, dank seines höheren Bil- dungsabschlusses, als Einjährig-F r eiwillig e r beim Grenadierregiment
Königin Olga Nr. 119. Noch zu Lebzeiten seines Vaters machte sich Josef Herrmann beruflich selb- ständig, nachdem er am22.
Mai 1895 in Bretten die von dort stammendeFrieda Herzer geheiratet hatte. Damit war für den knapp Dreißigjährigen
die letzte Voraussetzung zur Gründung eines eige- nen Hausstandes erfüllt. Aktenkundig ist 1896 die Eröffnung eines Vieh- handelsgeschäfts in der
Laiblinstegstraße auf den Namen von Josef Herrmann.60 Im selben Jahr trat er in den Nürtinger Liederkranz ein, dem zahlreiche Honoratioren der
Stadt angehör- ten: Geschäftsinhaber, Fabrikanten und Männer aus dem Bankwesen ebenso wie Beamte der Stadt und des Oberamtes sowie
Lehrer.61 Josef und Frieda Herrmann beka- men drei Kinder: Flora (geboren 1897), Lud- wig (geboren 1902) und Fanny
(geboren1904). Bis um 1910 wohnte die Familie in der damaligen Laiblinstegstraße 6 (heute Laiblinstegstraße 7–9).621904 beantragte
Josef Herrmann beim Stadt- schultheißenamt die Verlegung der Nürtin- ger Viehmarkttermine.63 Sein Wort hatte of- fensichtlich Gewicht, denn
dem Antrag wur- de stattgegeben. 1906 wurden die Termine der Nürtinger Krämer- und Viehmärkte neu festgelegt, auf jeden dritten
Donnerstag im Monat. Außer auf christliche sollten die Märkte sowenig wie möglich auch auf jüdi- sche Feiertage
fallen.64 Auch der Platz des Viehmarktes wurde nach Josef Herrmanns Vorschlägen verändert, nachdem er sich fol- gendermaßen an die
Stadt gewandt hatte:65Der Viehmarkt wäre auf dem jetzigen Platze zu belassen, jedoch
anders einzuteilen. Wenn jemand heute durch den Markt geht, findet
er, daß das Vieh ineinander eingeteilt
Der Nürtinger Viehmarktplatz zwischen Neckar- brücke, Farrenstall und Turnhalle auf der „Schreibe- re“, 1934
dasteht und ohne Unterschied der Sorten durcheinandersteht, mit Ausnahme der Ochsen. Das
Durchkommen ist oft sehr er- schwert und keinerlei Ordnung vorhanden. Mein
Vorschlag zur Verbesserung ginge da- hin: Ochsen und Zugstiere66 auf
dem jetzi- gen Platz außerhalb der Schreibere-Wiese, wodurch für diese Sorten
Vieh ausreichend Platz geschaffen wäre, so daß sich Menschen und Vieh ausdehnen können
und ein jeder Käufer die Ochsen und Stiere bequem her- ausführen und
mustern kann, ohne wie frü- her die Neckarbrück hiezu benützen zu müssen. Das
Jungvieh sowie Kühe und Kal- beln wären in zwei getrennten Abteilungen auf
der Schreibere-Wiese aufzustellen. Auf dem Platze selbst wären Stangen zu
errich- ten, ähnlich wie in Kirchheim. Dort ist die Einrichtung auf dem Viehmarktplatz
sehr praktisch. Es ist jedem Gelegenheit geboten, sein Tier anzubinden und
können sich die Käufer in den Gängen zwischen den Stangen bequem bewegen.
Dieselbe Einrichtung ist in vielen Städten zu treffen: Biberach, Balingen, Rottweil, Ravensburg etc. Giengen a. d. Brenz ist sogar so
weit gegangen und hat für Kühe eine gedeckte Halle errichtet. Der Platz, welcher heute auf der Schreibere zur Verfügung gestellt ist,
ist vollständig un- zureichend, falls, wie im letzten Jahr häufig der Fall war, von Händlern größere Trans- porte Vieh zu
Markt gebracht werden . . . Auch sonst genoß Josef Herrmann in Nürtin- gen großes Ansehen. Ab 1908 war er Auf-
sichtsratsmitglied der Handwerkerbank Nür- tingen, der späteren Volksbank67 ; seit 1912, wie seine beiden Brüder Ferdinand und
Heinrich Herrmann, Mitglied im Verschöne- rungsverein.68 In der Zeit der Weimarer Re- publik gehörte Josef Herrmann
der Deut- schen Volkspartei (DVP) an, der Partei Gu- stav Stresemanns.69 Die DVP war eine der beiden
liberalen Mittelparteien, die in Würt- temberg jedoch nur eine untergeordnetere Rolle spielte, mit einem durchaus
zwiespälti-
Das 1908 errichtete Gebäude der Handwerkerbank (später Volksbank), deren Aufsichtsrat Josef Herr- mann angehörte
gen Verhältnis zur ersten deutschen Repu- blik. In ihrem Parteiprogramm von 1919 befürwortete sie unter anderem die legale Wiederherstellung des
Kaisertums und be- tonte den nationalen Machtstaatsgedanken.1911 plante Josef Herrmann, für sich undseine
fünfköpfige Familie in der Marienstraße einzweistöcksige Wohn-,Stall und Scheunenge- bäude zu bauen.70 Er ent- schied sich dann
aber da- für, ein schon weitgehend fertiges reines Wohnhaus, Schafstraße 22, auszubau- en.71 Außerdem erwarb er in unmittelbarer Nachbar- schaft davon
das Gebäu- de Kanalstraße 3, wo er in einem 1912 angebauten Stall das Vieh, mit dem er handelte, unterbringen konnte.Die Nürtingerin
FriedelHerrmann, Jahrgang1911, deren Eltern in der Nähe des Stalls von Josef Herrmann eine kleine Landwirtschaft betrieben, erinnert sich,
daß dieserimmer ein paar Worte wechselte, wenn er bei ihnen vorbeikam: 72 Grüß Gott!, Au scho unterwegs?
Wenn die Stalltüre bei ihnen of- fenstand, pflegte er – ganz geschäftstüchti- ger Viehhändler – mit den Worten Gottlieb,
was hasch? hereinzuschauen. Da kann ich mir den Josef noch gut vorstellen. Er taxierte
das Vieh, hat immer sein Spazierstöckle da- beigehabt. Damit hat er dann die Kühe von einer
Seite auf die andere herumdirigiert, mit dem Stöckle, daß sie einen Schritt nach
links oder nach rechts machten, damit er sievon allen Seiten anschauen konnte. Mit der„Komm, schlag ein!“ Aber ihr Vater wollte prinzipiell
keine Geschäfte mit jüdischen Viehhändlern machen. Als ihr Vater im Er- sten Weltkrieg im Feld war, mußte die Fami- lie aus Not wohl oder
übel eine Kuh verkau- fen. Josef Herrmann war der Käufer. Auf einer Fotografie aus dieser Zeit steht er, versehen
mit seiner Uhrkette, im Hinter- grund.73 Mit der (nichtjüdischen) FamilieHerrmann ist auch Frie- del
Herrmann abgebildet. In der Schafstraße 22wohnte Josef Herrmann bis Juni 1936, auch wenn seit 1931 der Kaufmann Wilhelm Stingle
Hausei- gentümer war.74 Die Fa- milie Stingle, die hat un- ten gewohnt. Die Herr- manns
haben oben ge- wohnt. Es war ein gutes Verhältnis.75 Gesprochen haben die Herrmanns wie wir auch, so erinnert sich Luise Fischer, die
1934/35 als Aushilfe im Haushalt der Familie Herrmann tä- tig war. Sie seien gut an- gesehen gewesen und hätten es zu einem gewis- sen
Wohlstand gebracht. So hätten ihnen außer den erwähnten Gebäu-den gute Wiesen am
Fuße des Ersbergs in der „Ruthmännin“ gehört.Im November 1925 verfaßten Josef und Frie- da Herrrmann ihr gemeinschaftliches Testa- ment.76
Einige Wochen vorher hatte die jüng- ste Tochter Fanny, sechs Jahre nach ihrer älteren Schwester Flora, geheiratet, hatte
es„Massel tow!“ („Viel Glück!“) geheißen. Als Beitrag zu einem sicheren Grundstock zur Familiengründung hatten die Eltern Geldbe- träge beigesteuert und waren nun um eine gerechte
Erbregelung bemüht. Die Ehe der Fanny hingegen bekam zehn Monate nach der Hochzeit einen Sohn, den sie
Peter nannten. Zwei Jahre später erblickte Enkel- kind Suse das Licht der Welt. Wie alle Groß- väter war Josef Herrmann stolz
auf seine zwei Enkelkinder, die oft und gerne aus Ravensburg zu Besuch kamen, wo Fanny und ihr Mann Dr. Ludwig Erlanger auf dem Burachhof wohnten.
Peter Erlanger, heute Pinchas Erlanger, erinnert sich:77 Vor dem Haus in der Schafstraße war
in den 30er Jahren eine kleine Anlage mit einem funktio- nierenden Ziehbrunnen, für uns
Kinder na- türlich eine Attraktion. Die Schafstraße be- stand damals
stadteinwärts aus Bauernhö- fen mit Scheunen und Kuhställen. Ochsen dienten als
Zugtiere. Für uns aus dem schwäbischen Oberland, wo man nur Pferde einspannte, war
das etwas Besonderes .. . Der Großvater, wie ich ihn im
Gedächtnis habe, war eine große und stattliche Erschei- nung. Er war ein großer
Patriot und bedau- erte zeitlebens, wegen seines damals schon fortgeschrittenen Alters nicht im Ersten Welt-
krieg gedient zu haben. Stolz trug er die eiserne Uhrkette um den Bauch
mit der In- schrift: „Gold gab ich für Eisen“. Die goldene Kette hatte er 1914
abgeliefert, um die Kriegswirtschaft zu unterstützen . . . Der
Großvater nahm uns oft zum Einkaufen mit und stellte meine Schwester und mich allen Verkäufern vor. Er sorgte dafür,
daß wir im Kolonialwarenladen immer Bonbons und beim Metzger das obligatorische Rädle
Wurst bekamen. Am Bahnübergang versäumten wir nie die Abfahrt des
Neuffen-Bähnleins, und er grüßte den Lokführer mit dem Spa- zierstock an der Hutkrempe.
Wir platzten vor Stolz, wenn der Lokführer diesen Salut erwiderte .Aus Berichten von Zeitzeuginnen weiß man,
daß Josef Herrmann trotz seines beruflichen Kontakts mit Bauern und seiner häufigen Geschäftsreisen kein Schweinefleisch geges- sen hat:78 Der war
da stur! Im „Löwen“ in Sielmingen etwa hatte man sich schon auf ihn und seine jüdischen Kollegen
eingestellt und hielt Siedfleisch für sie bereit. Auch sonst wurden im Hause Josef Herrmann die jüdischen Bräuche gehalten und
die jüdi- schen Feste begangen. Enkel Pinchas Erlan- ger erinnert sich, daß der Großvater jedes Jahr bei
ihnen auf dem Burachhof den Seder gab.79 Das heißt, alljährlich im Frühling zu Beginn des Pesachfestes, im
allgemeinen Sprachgebrauch auch Passah genannt, saß er als Familienoberhaupt am Ehrenplatz desSedertisches. Er leitete
in dieser häuslichen Feier den Ablauf des Abends.80 Besonders eindrücklich ist diese Feier für die Kinder, die vielfältig in dieses fröhliche
Fest der Befreiung einbezogen sind. Auch den„Schabbes“ am Ende jeder Woche segnete Josef Herrmann
nach gutem Brauch am Frei- tagabend ein. Er sprach den Kiddusch81, das Weihegebet über dem Becher mit Wein, und nach dem Abendessen das
Tischgebet. Er erfüllte den verbreiteten jüdischen Spruch mit Leben: Freitag zur Nacht ist jeder
Jude ein König. Das ganze Stübele lacht und die Menschen alle sind fröhlich.Josef Herrmann war deutsch. Und seine
Re- ligion war jüdisch. Für ihn war das selbstver- ständlich kein Gegensatz. Und zu beidem stand er, unerschütterlich wie der
mächtige Baum im Garten des Hauses in der Schafstra- ße. Und er war Viehhändler.Viehhandel aber ist harte Arbeit. Und Josef Herrmann war schon seit einiger Zeit ge-
sundheitlich beeinträchtigt, so daß er um1930 an die Aufgabe seines Geschäftes den- ken mußte. Mit Mitte Sechzig war es ja
auch nicht zu früh für den Ruhestand. Den Stall in der Kanalstraße verkaufte er an seinen lang- jährigen Angestellten Christian Altdörfer. Of- fiziell stellte Josef
Herrmann seinen Betrieb am 31. Juli 1931 ein.82 Auch sein Wohnhaus in der Schafstraße verkaufte Josef Herrmann in
diesem Jahr, die Gründe dafür wissen wir nicht. Auf keinen Fall jedoch hatte dieser Verkauf, der schon vor der Zeit der national- sozialistischen Herrschaft erfolgte, etwas
mit der Ausnutzung einer Notlage zu tun. Der Käufer, Wilhelm Stingle, war Buchhalter beim Sägewerk Löffler und hatte zu diesem Zeitpunkt
mit seiner Frau bereits im Erdge- schoß des Hauses gewohnt.83In der schon erwähnten NS-Broschüre„Deutscher –
kaufe nicht beim Juden!“ aus dem Jahr 1935 ist die Viehhandlung Josef Herrmann noch als zu meidendes Geschäft aufgelistet. Des Rätsels Lösung dürfte darin
liegen, daß die Überwachungsberichte des Nürtinger Bürgermeisters Hermann Weilen- mann und des Landrates Karl Benz ihn
zu jener Zeit noch mit der Berufsbezeichnung„Viehhändler“ führten, auch nachdem sein Betrieb schon eingestellt war. Im Titel der Boykottbroschüre wird
übrigens der falsche Gegensatz von „deutsch“ und „jüdisch“ ver- wandt – Josef Herrmann war beides. Luise Fischer erzählt ebenfalls, Josef Herrmann habe zu dieser
Zeit, anders als sein Bruder Heinrich, ganz gewiß nicht mehr gearbei- tet:84 Der Josef nicht mehr, der war
schon alt. Der Josef ist schon angeschlagen gewesen. Der hat’s am Herz gehabt.
Er war ein biß- chen kleiner, ein bißchen gedrungen. Er hat dann manchmal die Anfälle
gehabt, die Herzanfälle. Da hat er dann (nach Luft) geschnappt. Pinchas
Erlanger (Jahrgang1926) schreibt:85 So lange ich mich erinnern kann, war der
Großvater herzkrank. Die Großeltern fuhren jedes Jahr für ein paar Wochen
zur Kur nach Bad Nauheim. Der Großvater hatte des öfteren Anfälle von An- gina
pectoris. Er legte sich aufs Sofa und rang nach Luft. „Der Opa
schnauft!“ ging der Alarm und die Oma kam schnell mit denTropfneÜbrigens: Geraucht hat er
auch Übrigens: Geraucht hat er auch wie Josef Herrmann gedacht und gefühlt haben, als er im
Nürtinger Tagblatt Zeilen wie die folgenden las: Juden haben die rus- sische Revolution gemacht und
haben den bolschewistischen Staat errichtet mit dem Ziel der
Weltrevolution, zur Unterdrückung der Gojims (Nichtjuden) . . . Ihm (dem Ju- den)
verdanken wir Deutschen den Kriegs- ausgang mit seiner Leidenszeit bis
1933.87Wie muß es für ihn gewesen sein, wenn er lesen mußte, daß Juden schädliche Krank- heitserreger seien, die in
ihren Wirtsvölkern zersetzend wirkten, daß Juden Söhne des Satans seien?88 Gegen solche und andere
antisemitische Hetze konnte er sich nicht mehr zur Wehr setzen. Und Josef Herrmann wird wohl mehr und mehr
klargeworden sein, daß beileibe nicht „nur“ die Ostjuden, sondern auch und gerade Leute wie er ge- meint waren. Was mag er
empfunden haben, als er sich in Nürtingen den Schildern „Juden unerwünscht“ an den vertrauten Läden, an- gebracht von ihm bekannten Geschäftsleu- ten,
gegenübersehen mußte?89Eine Haushaltshilfe aus Reudern, die bei Herrmanns beschäftigt war, wurde als „Ju-denmagd“
bezeichnet.90 Luise Fischer aller- dings kann sich nicht erinnern, daß sie Schwierigkeiten bekommen hätte, als
sie1934/35 im Haushalt von Frieda und Josef Herrmann tätig war: Die Nachbarschaft, die war ja mit denen auch bekannt.
Die waren ja nicht böse, die Leute. Die haben einem ja nichts getan. Auch das Verhältnis zur Familie Stingle war bis
zuletzt gut. Das bezeugt nicht nur Frau Fischer, dafür sprechen auch die Fotografien, die Josef Herrmann den Hausei- gentümern und Mitbewohnern bei seinem Abschied 1936 zur
Erinnerung geschenkt hat.Mehr und mehr ging die Unbefangenheit allerdings verloren, besonders nach den„Nürnberger Rassengesetzen“
vom Septem- ber 1935, die Juden zu Bürgern zweiter Klas- se machten und die seit 1933 schon erfolg- ten Diskriminierungen auf
eine legale Grundlage stellten. Verordnete Bosheiten und persönliche Schicksalsschläge folgten im Leben Josef Herrmanns nun dicht
aufeinander. Die„Mischehe“ seines Sohnes Ludwig wurde – wohl unter dem direkten Eindruck der Nürn- berger Gesetze – bereits
Mitte November1935 geschieden. Viereinhalb Monate später, am 2. April 1936, meldete der Nürtinger Bürgermeister Weilenmann dem
Oberamt anläßlich einer Überwachung von Juden, daß Ludwig Herrmann sein
zweijähriges Kind H.91 bei den Großeltern gelassen habe.92 Kurz darauf, am 12. April, starb Frie- da
Herrmann während eines Besuchs zu Pesach bei der Familie von Tochter Fanny in
Josef Herrmann mit Enkel H. Herrmann vor seinerWohnung in der Schafstraße, Anfang 1936
Burach bei Ravensburg.93 Sie wurde in ei- nem Doppelgrab des jüdischen Steigfriedho- fes in Cannstatt
beigesetzt. Das noch zu belegende Reservegrab ließ Josef Herrmann bei dem
Israelitischen Gemeinde-Vorsteher- amt Stuttgart-Cannstatt für sich vorsehen.94Am 23. Juni 1936 übergab
der nun auf sich alleine gestellte Josef Herrmann sein bis da- hin bei ihm lebendes jüngstes Enkelkind der Tochter Flora
Essinger und ihrem Mann in Ulm und verließ Nürtingen, um in die Nähe seiner zweiten Tochter, Fanny Erlanger, nach Ravensburg-Burach überzusiedeln.95 In
der Unteren Burachstraße 78 bei den drei Schwestern Anna, Frieda und Maria Steg- mann bezog er ein
Zimmer.96 Die Möglich- keit, in Nürtingen eine Haushälterin oder andere Unterstützung zu erhalten, bestand
für ihn seit den Nürnberger Gesetzen nicht mehr.97 Am 26. Juni 1936 meldete sich Josef Herrmann in Ravensburg polizeilich an.98Die Familienregister
wurden bereits am 9. Juli von Nürtingen nach Ravensburg überge- ben. Der Enkel Pinchas Erlanger erinnert
sich:99Der Großvater übersiedelte nach Ravens- burg und lebte in
einem gemieteten Zimmer in der Nähe unseres Anwesens. (Nach dem Tod seiner Frau)
konnte er schon wegen seines Gesundheitszustandes nicht alleine sein
und er entschloß sich, nach Ravensburg in die Nähe seiner Tochter zu ziehen.
15Minuten von unserem Anwesen entfernt mietete er sich bei den
Geschwistern Steg- mann ein. Das waren drei unverheiratete Frauen, die
einen Kolonialwarenladen be- trieben, in dem wir von jeher unsere Lebens- mittel
kauften. Sie waren streng katholisch, fern von jeglichem Antisemitismus, bewiesen
viel Zivilcourage bei der Vermietung des Zimmers an einen Juden, auch
indem sie ihn bis zu unserem letzten Tag in Ravens- burg treu bedienten
und betreuten. Er machte seinen täglichen Spaziergang über
unseren Hof nach Weingarten, wo er Stammgast zum Nachmittagskaffee
in einem der Cafés wurde.Dreieinhalb Monate nach seinem Wegzug teilte Bürgermeister
Weilenmann dem Nür- tinger Gemeinderat mit, daß Josef Herrmann von seinen Nutzungsrechten als Gemeinde- bürger, einem Allmandteil und
dem Bezug des Bürgerholzes, ausgeschlossen sei.100 Juden seien nach der Deutschen Gemeinde- ordnung nicht
mehr Gemeindebürger, und deswegen werde den hier ansässigen Juden Josef und Heinrich Herrmann rückwirkend die
Holznutzung (auf 1. April 1936) und die Allmandnutzung (auf 1. Oktober 1936) ent- zogen. Im Protokoll
heißt es weiter: Die Beigeordneten wie auch die Ratsherren neh- men hievon mit Befriedigung Kenntnis. Obwohl er nun in Ravensburg lebte,
kam Josef Herrmann immer wieder in die vertrau- te Stadt Nürtingen, an der er wohl gehangen hat. Luise Fischer erinnert sich, ihm
öfters auf der Straße begegnet zu sein. Josef Herr- mann hatte in seiner Heimatstadt, in der er als ehemals
angesehener und dann verfem- ter Bürger gelebt hatte, noch seine Besitz- und Vermögensverhältnisse zu ordnen. Ver-
mutlich hat er auch seinen Bruder, Heinrich Herrmann, besucht.Vom 7. Dezember 1936 ist im Stadtarchiv Nürtingen ein Kaufvertrag
zwischen Hein- rich Josef Herrmann, früher Viehhändler, jetzt Privatmann in Ravensburg,
untere Burachstraße 78, handelnd zugleich als Al- leinerbe seiner verstorbenen Ehefrau und Bürgermeister
Hermann Weilenmann als Vertreter der Stadt erhalten.101 Josef Herr- mann verkaufte danach für 26 660
Reichs- mark an die Stadtgemeinde Nürtingen seine Wiesen auf Ruthmännin, bestehend
aus Parzellen im Umfang von fast einem Hektar. Bereits einen Tag später erwarb er von Mau- rermeister Schall das Gebäude Vendelaustra- ße 46 um
20 000 Reichsmark. Am 27. De- zember 1937 gab er mit diesem Haus, für das er dann 21 300 Reichsmark erhielt, seinen letzten
Nürtinger Besitz auf.102Wofür verwendete Josef Herrmann dieses Geld? Benötigte er es für sich, für die Pflege- kosten? Gab er es seinen Kindern, damit sie
auswandern, dem Unheil entkommen konn- ten? Wollte er sich seinen Lebensabend si- chern? – Alles zusammen. Doch er wurde
schändlich betrogen.Die Atmosphäre in Nürtingen war 1936/37 schon ganz anders als noch 1934, das gehtauch aus der
Aussage von Luise Fischer hervor:103 Wissen Sie, er ist dann hier noch herumgelaufen in Nürtingen. Aber können
Sie so einen Mann verstecken? Das will etwas heißen, wenn da eine Frau irgendeinen
ver- steckt hat. Sie haben ja nie gewußt, wer da aufpaßt. Die Leute sehen ja weiß
was! Also, da hat er mir leid getan, als er da noch da wa r .In Ravensburg wurde Josef Herrmann – ver- mutlich am 10.
November 1938 im Zusam- menhang mit dem von den Nazis inszenier- ten Pogrom – verhaftet, kam aber bald wie- der
frei.104 Bei der an das Finanzamt Wein- garten zu zahlenden Juden-Abgabe in Höhe von 8500
Reichsmark, die in seiner weiter unten zitierten Beschwerde vom 7. März1940 genannt wird, handelte es sich um die sogenannte
Sühneleistung für die von den Nazis inszenierten Verwüstungen der Po- gromnacht.105 In einer aller Logik und
jegli- chem Rechtsempfinden Hohn sprechender Art „baten“ die NS-Machthaber ihre Opfer für die von ihnen, den Tätern, inszenierten
Schäden und Bosheiten der schändlichen Novembernacht 1938 auch noch zur Kasse. Der Novemberpogrom verlief nach den Er- innerungen seines Enkels
Pinchas Erlanger, der allerdings in Ravensburg nicht Augen- zeuge war, für Josef Herrmann offensichtlich vergleichsweise glimpflich:106
Die SA-Helden fuhren im Morgengrauen mit abgeblendeten Lichtern auf dem Hof (der Eltern)
vor, war- fen ein paar Fenster ein und verzogen sich fluchtartig. Mein Großvater wurde
wie alle jüdischen Männer in Ravensburg verhaftet und ins Gestapogefängnis
in Ravensburg eingeliefert. Um bei der Wahrheit zu bleiben, war die Behandlung
dort sehr menschlich und keinem der Häftlinge wurde ein Haar gekrümmt. Nach ein paar Tagen wurden die Ravensburger
Juden aus der Haft entlassen. Die beiden Praktikanten des Burachhofes jedoch, junge jüdische Menschen, die
sich auf die Auswanderung nach Palästina und eine landwirtschaftliche Tätigkeit dort vor- bereiteten, kamen als Auswärtige
nach Ulmund von dort als sogenannte Schutzhäftlinge ins KZ Dachau.Doch auch für Josef Herrmann gingen dieSchikanen
weiter. Auf den Namen Josef Israel Herrmann mußte er sich am 19. Dezember 1938 seine Kennkarte
ausstellen lassen. Nicht nur, daß er mit dem Zwangsvornamenbelegt worden war, über die handschriftli- chen Eintragungen war
ein großes rotes „J“ gestempelt, damit jeder gleich wußte, daß man es mit einem Juden zu tun hatte. Vom Ravensburger Bürgermeister als Ortspolizei- behörde
und dem dortigen Landratsamt wurde er genauso überwacht wie zuvor in Nürtingen.107Sein Heimatland, in dem er
verwurzelt war, zu verlassen, war Josef Herrmanns Weg nicht – trotz aller Verfolgungsmaßnahmen.
Doch die Auswanderung seiner TochterSo kam Josef Herrmann am 1. August 1939 ins jüdische
Altersheim nach Herrlingen, wenige Kilometer westlich von Ulm.108Das Heim war im Frühjahr 1939 vom Ober- rat der Israelitischen Religionsgemeinschani Württemberg
an der Stelle eines kurz zuvor aufgelösten jüdischen Landschulhei- mes errichtet worden.109 Es sollte helfen,
die zahlreichen alten Menschen aufzunehmen, die nach der Auswander ung ihrer Angehöri- gen alleine
zurückgeblieben waren. Viel- leicht spielte bei der Gründung aber auch – in einem ganz anderen
Sinn – Druck der Gestapo eine Rolle, denn reichsweit gab es damals schon Bestrebungen, Juden in be- sonderen Häusern („Judenhäusern“) zusam- menzupferchen, um
die spätere „Entjudung“ der Gemeinden dann einfacher durchführen zu können. Und tatsächlich wurden im Som- mer 1939
schon viele alte Menschen ins Heim aufgenommen, die man nach Aufhe- bung des Mieterschutzes für Juden aus
ihrenbisherigne hatte. Wohngemeinden ausgewiesen Im Ort Herrlingen selbst gab es im Vorfeld der Einrichtung des Heims eine
Hetzkampa- gne gegen die zukünftigen Bewohner.110Bürgermeister Alfons Brielmaier beschwerte sich gegenüber dem
Landrat in Ulm, daß die alten Juden, welche den Weltkrieg und den Zusammenbruch Deutschlands 1918 mit- verschuldet haben, nicht
zum Lohn dafür als Ruhesitz fürs Alter einen der sonnigsten, landschaftlich hervorragendsten Plätze
vor den Toren Ulms erhalten sollten . . . Die alten Juden sollen büßen für die
Verbrechen der Talmud-Lehre. Barackenlager in der sump- figsten Gegend wären
für die alten Juden gerade gut genug; je bälder sie absterben würden,
umso besser.111 Trotz dieser bedroh- lichen Atmosphäre dürfte auch Josef Herr- mann gehofft haben,
sich mit dem Einkauf ins Altersheim einen gewissen Schutz und lebenslängliche Betreuung erworben zu ha- ben.112 In Herrlingen
traf Josef Herrmann seinender, wie er, als Viehhändler in Nürtingengearbeitet hatte, bis er 1928 im Ruhestand in seinen
Geburtsort Rexingen zurückgekehrt war. Auch bei ihm lagen die Verhältnisse ähnlich: Da seine Angehörigen –
vermutlich die Tochter Hedwig und ihr Mann Julius Steinharter114 – Deutschland verlassen woll- ten, brachten sie
ihren pflegebedürftigen Vater nach Herrlingen ins Altersheim, weni- ge Tage bevor auch Josef Herrmann dort
ankam.115 Sechzehn Tage nach seiner Ankunft in Herr- lingen mußte Josef Herrmann wie die ande- ren Heimbewohner einen
Vernehmungsbo- gen zur Überwachung von Juden ausfül- len.116 Die
Heimverwaltung gab diese Bögen in doppelter Ausfertigung an das Bürgermei- steramt weiter. Ein Exemplar verblieb bei der
Gemeindeverwaltung, das zweite wurde noch am selben Tag dem Landrat in Ulm vorgelegt und war nach Ergänzung der dorti- gen „Judenkartei“ zur Weiterleitung an die
Gestapo in Stuttgart bestimmt. Diese hatte hierdurch den landesweiten Überblick und wußte jederzeit über den Aufenthaltsort der jüdischen Einwohner,
Vermögensverhältnis- se und anderes Bescheid. Genauestens wur- de nach den Namen und dem Aufenthaltsort der nächsten
Verwandten gefragt. Zwei vonJosef Herrmanns Kindern waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Sicherheit: Flora Essinger und ihr Mann in Ra- mat-Gan, Palästina; Ludwig Herrmann
in Kikuyu, Bri- tisch-Ostafrika. Fanny Erlan- ger jedoch wohnte noch auf dem Burachhof bei Ravens- burg. Ebenfalls wurde ge- fragt, ob der Verhörte
arische Hausgehilfinnen beschäftigt habe. Dies bejahte Josef Herrmann wahrheitsgemäß, gab aber, obwohl auf dem Formblatt vorgesehen, keine Personalien an.
Auf eine weitere Frage gab er an, er sei weder Zionist noch Assi-milant. Wahrscheinlich wußte Josef
Herr- mann, daß die Assimilanten gerade deswe- gen, weil sie in erster Linie deutsch sein wollten, von den
Nazis als besonders zu bekämpfen angesehen wurden. Als Besitz gab er etwa 20 000 Reichsmark in Wertpa- pieren an, als monatliches
Einkommen des vorhergehenden Jahres 90 Reichsmark, jetzt aber nur noch 70 Reichsmark. Der Grund seines
Aufenthaltswechsels sei die Unter- bringung in einem geschlossenen Kreis von Juden
und die Ver pflegung durch die Ver- waltung des Heimes.Nach dem Kriegsbeginn mit dem deutschen
Überfall auf Polen verschärfte sich die Situa- tion auch für Josef Herrmann.117 Als Jude galt er nun als Reichsfeind. Von
Anfang an war der Krieg auch von schlimmen Verbrechen gegen polnische Juden begleitet. Und die deutschen Juden wurden so
behandelt, als seien sie Verbündete des Feindes, die in den eigenen Reihen wirkten. Ein nächtliches Ausgehverbot von 20 Uhr abends bis 7 Uhr morgens wurde allen Juden
auferlegt. Weiter wurde den jüdischen Heiminsassen unter- sagt, im Falle eines Luftangriffes öffentliche Luftschutzräume aufzusuchen. Auf Veranlas- sung der
Gestapo in Stuttgart suchte derHerrlinger Gendarm am 23. September 1939– es war Jom Kippur –
das Altersheim auf und zog die Radios von Josef Herrmann und einem Mitbewohner ein.118 Mit der Beschlag- nahme sollte unter anderem das
Abhören von sogenannten Feindsendern unmöglich gemacht werden. Für die Altersheimbewoh- ner bedeutete dieser Verlust, daß
sie von nun an vom äußeren Geschehen weitge- hend abgeschnitten waren. Die beschlag- nahmten Radiogeräte blieben bis Anfang November 1939 bei
der Gendarmerie, bevor sie an die SS abgeliefert wurden. Außerdem wurden die Lebensmittelrationen der Heim- bewohner durch die diversen
Sonderbestimmungen schrittweise ge- kürzt, so daß sich im folgen- den die Verpflegungssituati- on der Zwangsgemeinschaft immer
mehr verschlechter- te.119Josef Herrmann, der im Ver- gleich zu anderen Heimbe- wohnern noch ein rüstiger Rentner war, unternahm häufig längere
Spaziergänge in den Wäldern der Umge- bung. Allerdings kam es im Herbst 1939 zu massiven Be- lästigungen der alten Leute durch Herrlinger Jugendli- che.120 Sie beschimpften und
verhöhnten die Menschen, die im Alter ihrer Großväter und Großmütter waren, und bewarfen sie sogar mit Stei- nen –
auch die alten Frauen! Ein Rädelsführer wurde vom Leiter der Volksschule ge- deckt. Die eingeschüchter- ten und vogelfreien
Alters- heimbewohner trauten sich nach den Pöbeleien und in- famen Tätlichkeiten immer seltener auf die Straße. Au- ßerdem mußten die
alten Leute die Ausgangssperrebeachten. So lebten die zu Fremdkörpern Degradierten immer zurückgezogener. Josef Herrmanns Kontakte beschränkten sich
zwangsläufig auf den Kreis der Schicksalsge- nossen.Ende November 1939 kamen für seine noch in Deutschland weilende Tochter Fanny Er- langer und deren Familie
endlich die lang ersehnten Visa für Palästina. Pinchas Erlan- ger schreibt:121 Wir mußten ganz überstürzt abreisen. Der
Großvater wollte Deutschland nicht verlassen, obwohl die Möglichkeit da- für
bestand. Sein Argument: Einen alten Baum ver pflanzt man nicht. Weder er
noch wir ahnten, welches Schicksal ihm bevorstand. Wir verabschiedeten uns von ihm
auf dem Bahnhof in Ulm. Der Abschied war un- säglich schwer, und viele Tränen
flossen. Der Abschied war fürs Leben. Geblieben ist die wehmütige Erinnerung an
einen lieben und liebenden Großvater, an einen edlen Menschen und einen
von den sechs Millio- nen . . .Vom 7. März 1940 liegt noch eine hand- schriftliche Beschwerde des Josef Israel Herr-
mann an das Bürgermeisteramt Herrlingen vor.122 Dies ist das letzte mir bekannte Doku- ment mit den Schriftzügen Josef Herrmanns. Wie
auch andere Heiminsassen beschwerte er sich darüber, daß bei der Erhebung der Bürgersteuer sein Einkommen des Jahres1937 zugrundegelegt
worden war. Da es im Hinblick auf den Wandel seiner Vermögens- verhältnisse und die Verwendung seines Ver- mögens sehr aufschlußreich ist, soll die Be- schwerde hier
im vollen Wortlaut wiederge- geben werden: Der Bürgersteuerbescheid ist begründet auf mein Einkommen
im Kalen- derjahr 1937. Diese Begründung ist für die heutige Veranlagung
nicht zulässig, weil sich mein Einkommen und Vermögen seit dem Kalenderjahr
1937 um die Hälfte ver- ringert hat. Mein Vermögen besteht vollstän- dig aus
Wertpapieren und ist bei der Kreis- sparkasse Ravensburg vollständig angelegt im Depot
und Girokonto 2501. Das Vermö- gen hat im Jahr 1937 circa 36 000 M betra- gen und beträgt
heute circa 18 500 M und hierdurch mein Einkommen ungefähr die Hälfte vom
Jahr 1937. Der Rückgang des Vermögens ist dadurch begründet, daß ich an das
Finanzamt Weingarten 8500 M Ju- den-Abgabe123 bezahlen mußte. Es sind zwei Kinder von
mir in dieser Zeit ausgewandert, was mich auch Geld gekostet hat, und reicht mein Zinseinkommen
nicht zu meinem Le- bensunterhalt. Ich kann aus Gesundheits- gründen seit
1933 nicht mehr arbeiten und zehre vom Vermögen. Als Beweis stelle ich Einsichtnahme auf
mein Conto bei der Kreissparkasse Ravensburg zur Verfügung. Ich beantrage,
Herabsetzung der Bürgersteuer den Vermögensverhältnissen entspre- chend.
Mit Rücksicht auf sein Alter ermäßig- te das Bürgermeisteramt seine Bürgersteuer für das Jahr 1940 auf 20
Reichsmark, die in Raten über die Heimleitung pünktlichst an die Gemeindekasse Herrlingen abzuführen waren.124 Von
nun an wurde auf sein Alter allerdings keine Rücksicht mehr genommen. Ab September 1941 mußten auch die Heim- bewohner den „Judenstern“ tragen,
wenn sie das Haus verließen. 125 Noch mehr mieden sie nun die Öffentlichkeit, denn diese Brand- markung lud geradezu zu antisemitischen Angriffen
ein. Trotz aller Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit wagten es ehemalige Viehhändler aus dem Altersheim, darunter vielleicht auch Josef Herrmann, bei starkem
Nebel den in Klingenstein wohnhaften Land- wirt Andreas Münch aufzusuchen.126 Sie sa- hen nach dessen erkrankten Kühen –
ohne die erforderliche ortspolizeiliche Genehmi- gung – und behandelten das erkrankte Vieh mehr als einmal fachkundig. Daß die Familie
Münch den deportierten Altersheimbewoh- nern später unter falschem Absender Le- bensmittelpakete schickte, zeigt, daß das Verhältnis sehr gut und von gegenseitiger
Hilfsbereitschaft geprägt war. Auch sonst verhielten sich einige Einwohner Herrlin- gens sehr couragiert.127 So lud eine Frau eine Insassin wiederholt
zum Abendessen ein. Dies mußte natürlich unbemerkt geschehen. Obwohl von der SS verboten, behandelte der Zahnarzt Dr.
Friedrich Kiess die Alters- heimbewohner, oft sogar unentgeltlich. Der Herrlinger Bäcker Johannes Schmidt erlaub- te dem Altersheim bis zuletzt, für das Backen der
Mohnzöpfe seine Backstube zu benut- zen, obwohl er deswegen Schwierigkeiten bekam. Doch das Unheil nahm
seinen Lauf, oder besser gesagt: Die Unheilvollen bestimmten den Lauf der Dinge. Vielleicht bekamen die Heimbewohner schon etwas mit, als im No- vember
1941 mehreren jüngeren Hausbe- diensteten „Evakuierungsbescheide“ zuge- stellt wurden.128 Vier der jungen Frauenkonnten
sich zunächst noch der Erfassung zum Transport, der am 1. Dezember von Stuttgart aus nach Riga erfolgte, durch über- stürzten Wegzug von
Herrlingen entziehen; der 48jährigen Angestellten Emilie Leonber- ger jedoch gelang dies nicht mehr. Sicher mußten
sie aber miterleben, daß im April1942 vier Heimbewohner und zwei Ange- stellte gezwungen wurden, sich
mit nur we- nig Gepäck einem „Transport nach dem Osten“ anzuschließen, der am 26. April Stutt- gart in Richtung Izbica bei Lublin im „Gene-
ralgouvernement Polen“ verließ. Von Ah- nungslosigkeit oder auch Hoffnung , die den vorigen Transport
noch begleitet hatten, war diesmal bei den Deportierten nichts mehr zu spüren. Viele
waren verzweifelt und trugen sich mit Selbstmordabsichten.129 Ein lasten- des
Gefühl akuter Bedrohung machte sich mehr und mehr breit.Seit Ende 1941 liefen die Vorbereitungen zur Auflösung des jüdischen
Altersheimes Herr- lingen.130 Die Bewohner sollten zusammen mit den verbliebenen Ulmer Juden in das ganz
heruntergekommene und nur notdürf- tig instandgesetzte Oberstotzinger Schloß eingewiesen werden. Oberstotzingen liegt knapp 30 Kilometer
nordöstlich von Herrlin- gen im Landkreis Heidenheim. Ab dem 10. Juni 1942 mußten die Heimbewohner Herr- lingen verlassen; am 9. Juli kam die Reihe
an Josef Herrmann. Wie die anderen Mitbewoh- ner konnte er nur sehr wenig persönliches Inventar mitnehmen. Die Verlegung wurde von den Heimbewohnern
mit großer Ver- zweiflung aufgenommen. Es war ihnen be- wußt, daß Oberstotzingen für sie nur eine Übergangsstation darstellen sollte und die Absicht
bestand, sie in absehbarer Zeit im„jüdischen Reichsaltersheim“ Theresienstadt anzusiedeln.Bereits am 14. August 1942
verfügte der Leiter der Staatspolizeileitstelle Stuttgart, Friedrich Mußgay, die vollständige Auflö- sung unter anderem des Sammellagers im Oberstotzinger
Schloß.131 Alle seine Bewoh- ner sollten einem Transport mit Juden dem Protektorat zugeteilt
werden, der Stutt- gart am 22. August 1942 verlassen sollte. In den Tagen vor dem Abtransport wurden alle
noch über finanzielle Mittel verfügenden ehemaligen Altersheimbewohner gezwun- gen, „Heimeinkaufsverträge“ für Theresien- stadt
abzuschließen. In Wirklichkeit war dies eine getarnte staatliche Ausplünderung. Jo- sef Herrmann müssen auf
diese Weise fast15 000 Reichsmark abgepreßt worden sein.132 Mußgay verwies in seinem Erlaß vom14.
August im Blick auf das zu beachtende Verfahren auf eine Anweisung, die er bei zwei vorhergehenden Deportationen aus Württemberg und
Hohenzollern im Frühjahr1942 erteilt hatte.133 Darin heißt es entlar- vend: Die in der
letzten Zeit in einzelnen Gebieten durchgeführte Umsiedlung von Ju- den nach dem
Osten stellt den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark
und im Protektorat Böhmen und Mähren dar . . . Ausfälle (durch Selbstmord usw.)
sind unverzüglich mitzuteilen. Zweck der Maßnahme sei die Entjudung der einzel- nen
Kreise. Durch die Ortspolizeibehörde sei eine eingehende Durchsuchung jeder Person unter anderem nach
Bargeld, Devi- sen und Schmuck vorzunehmen. Zu einem reibungslosen Transport hierher (nach Stutt- gart) sind
eine entsprechende Anzahl Poli- zeibeamter bereitzuhalten. Verschärfend fügte
der auch Josef Herrmann betreffende Erlaß vom 14. August diesen Anweisungen hinzu: Ein Ausscheiden
eines namhaft ge- machten Teilnehmers aus irgendeinem Grunde,
Krankheit, Gebrechlichkeit usw. kann nicht erfolgen. Vorkehrungen für den
Transport der sogenannten Transportunfä- higen sind rechtzeitig zu treffen,
so daß sämtliche eingeteilten Juden rechtzeitig in Stuttgart eintreffen.
Als Gepäck wurde je- dem Betroffenen nur ein Koffer oder Ruck- sack zugestanden, der etwas Kleidung,
Bett- zeug und Eßgeschirr enthalten durfte.Mit den verschleiernden und zynischen Be- griffen „Umsiedlung nach dem Osten“, „End- lösung der Judenfrage“ und
„Entjudung“ wardie planmäßige Deportation und massenhaf- te Ermordung gemeint.Am 19. August frühmorgens, noch bei Dun- kelheit, wurden die meist
gebrechlichen La- gerinsassen von Oberstotzinger Dorfbewoh- nern mit Fuhrwerken zum Bahnhof in Nie- derstotzingen gebracht.134 Die Juden
waren sehr verzweifelt und der Abtransport ging keineswegs so still und
unbemerkt vonstat- ten, wie es sich die Gestapo wohl gewünscht hatte. Ihr Jammern und Wehklagen
ging mir durch Mark und Bein. Noch heute habe ich das Schreien der alten Leute in den
Ohren und kann es wohl nie wieder vergessen, so erinnerte sich ein Zeitzeuge nach über
50Jahren.135 Dies spricht dafür, daß die alten Menschen eine Ahnung davon hatten, was sie in Theresienstadt erwartete. Was
drohte ihnen, wenn sie sogar von den miserablen Verhältnissen im Oberstotzinger Schloß wegverfrachtet wurden? Bis jetzt war es im- mer schlechter
gekommen, nie besser. Ob Josef Herrmann sich an den Strohhalm der in seinem „Heimeinkaufsvertrag“ vorgegaukel- ten gutbürgerlichen Wohnverhältnisse
klam- merte?Für die Bevölkerung aus der Umgebung galten die Deportierten als auf Nimmerwie- dersehen verschwunden,
denn sie fiel bald wie ein Heuschreckenschwarm über das unbewohnte Schloß her. Bevor das Finanz- amt Heidenheim, wie
vorgesehen, die zu- rückgelassenen Möbel zu Geld machen konnte, bereicherten sich die Leute aus dem Ort und den
umliegenden Dörfern daran. Auf dem Bahnhof Niederstotzingen wiesen Polizisten die Bewohner des Sammellagers Oberstotzingen
zwei Eisenbahnzügen zu, die von der Reichsbahndirektion Stuttgart trotz großer kriegsbedingter Probleme zur Verfügung gestellt
worden waren.136 Der Ver- nichtung der deutschen Juden wurde offen- sichtlich die gleiche Priorität zugemessen wie dem
Vernichtungskrieg im Osten. Alles war genauestens geplant, man hatte sogar besondere Fahrpläne erstellt. Der eine
Zug verließ Niederstotzingen um 5.19 Uhr mitden ersten 45 Juden, erreichte den Ulmer Bahnhof um 6.04 Uhr, hatte dort Aufenthalt bis 8.10 Uhr und
erreichte Stuttgart um 11.41Uhr. Der zweite Transport mit den übrigen etwa 50 Juden folgte um 7.35 Uhr, hielt
in Ulm vier Stunden von 8.16 Uhr bis 12.15 Uhr und kam in Stuttgart um 14.34 Uhr an.In Stuttgart wurden die Oberstotzinger Ju- den, darunter außer
Josef Herrmann auch sein Schwager Abraham Preßburger, mit Omnibussen auf den Killesberg gebracht.137Dort wurden sie von
der Gestapo übernom- men, in die Ausstellungshallen verbracht und einer entwürdigenden Leibesvisitation unterzogen. Sie trafen auf eine große
Zahl von Leidensgenossen, die aus anderen Ge- meinden Württembergs hierher gebracht worden waren. Die folgenden Nächte
muß- ten die 1076, vielfach gebrechlichen, Men- schen zusammengepfercht unter katastro- phalen Umständen zubringen. In
der ersten Nacht kamen acht der alten Menschen um. An der Durchführung der Deportation muß- te sich die
„Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ beteiligen. Der auf dem Killes- berg anwesende Leiter der Stuttgarter Be-
zirksstelle, Ernst Moos138, hatte wohl den Auftrag erhalten, die Zusammengesperrten zu beruhigen. Nach seinen Erzählungen – so hörten
die zur Deportation Vorgesehenen – werde man in Theresienstadt bevorzugt be- handelt sowie ein gepflegtes Lager
und gute Lebensverhältnisse antreffen. Zweifel daran mußten allerdings sogar die Gutgläubigsten befallen.Am 21. August
wurden die Gehbehinderten und Kranken mit Lastwagen zu einem außer- halb Stuttgarts gelegenen Güterbahnhof ge- bracht und in Viehwaggons verladen,
in de- nen sie, bewacht durch SS, die folgende Nacht verbringen mußten. (An diesem Tag erhielt wohl auch
Josef Herrmann eine Ver- fügung der Gestapo, nach der sein ganzes Vermögen zugunsten des Deutschen Rei- ches eingezogen wurde.)139 Die als gehfähig Eingestuften
mußten am nächsten Tag zum Güterbahnhof marschieren. Der Marsch dervielen hundert erfolgte am hellichten Tag, und die mit
dem grellgelben „Judenstern“ Versehenen gingen ihren Weg in glühender Hitze und unter scharfer Bewachung, vor aller Augen.
Nach dem „Verladen“ plombier- ten die Bewacher die Wag gons, und der Zug setzte sich in Bewegung. Es war der
Deptationstransport mit der Bezeichnung XIII/1.Sein Ziel war Theresienstadt. Dort hatte Josef Herrmann nur noch etwas über einen Monat zu
leben.Nach dreißigstündiger Fahrt unter Bewa- chung von SS und SD kam der Zug mit den Deportierten aus Stuttgart am 23. August in Theresienstadt an.140 Die
nach der österrei- chischen Herrscherin Maria Theresia be- nannte Festung und Militärstadt lag zwi- schen
Dresden und Prag nahe der Mündung der Eger in die Elbe. Den mit zahlreichen leerstehenden Kasernen ausgestatteten und ringsum befestigten
Ort richteten die Natio- nalsozialisten im November 1941 als Getto- lager ein, in das zunächst böhmisch-mähri- sche Juden
deportiert wurden. Auf der Berli- ner Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, bei der es um die Durchführung des bereits beschlossenen
Völkermords an den europäi- schen Juden ging, unterrichtete Reinhard Heydrich die Teilnehmer von dem Plan, die über 65 Jahre alten Juden aus dem
Reichsge- biet nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto zu überstellen.141 Als Ort dafür
nannte er Theresienstadt. Auch jüdische Schwerbeschädigte und hochdekorierte Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg, ge- gen deren „Evakuierung“ in den
Osten Ein- gaben von vielen Seiten aus erfolgten, soll- ten dort unter Vorspiegelung einer gutenUnterbringung
Aufnahme finden. Dabei soll- te verborgen werden, daß das Lager von der SS von vornherein als Durchgangsstation
gedacht war – als Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtung.Resi Weglein, eine als Krankenschwester eingeteilte Ulmer
Jüdin (Jahrgang 1894), diedas Konzentrationslarge Theresienstadüberlebte, berichtet über die Ankunft des Transports aus Stuttgart, dem sie selbst ange- hörte:142
Als der Zug hielt, stiegen zuerst die SS-Männer mit Sturmbannführer Koch aus. Auf
dem Bahnsteig stand Lagerkomman- dant Dr. Seidl mit weiteren SS-Männern und sehr
vielen tschechischen Gendarmen. Junge tschechische Juden übernahmen das Ausla- den . . . Zwei
sehr schlechte Lastkraftwagen standen zur Beförderung (der) Kranken be- reit.
Damit ja niemand eine Bequemlichkeit hatte, mußten die Kranken stehen,
gleich- gültig ob sie dazu in der Lage waren oder nicht. In rasendem Tempo fuhren die
Wagen nach Theresienstadt, wo die Menschen halb- tot in der sogenannten
Schleuse abgeliefert wurden. Eines der Fahrzeuge war in so schlechtem Zustand, daß es Tote und
Ver- letzte gab, als während der Fahrt die Ladeflä- che durchbrach. Der Zug der Gehfähigen: Bei glühender
Hitze, beladen mit dem ver- schiedenen Handgepäck, marschierten
zwi- schen 900 und 1000 Menschen nach There- sienstadt (bis zum Lager waren es etwa drei Kilometer). Es waren traurige
Gestalten, die unter Bewachung der tschechischen Gen- darmen (sie unterstanden
faktisch der SS) über die Landstraße mehr krochen als gin- gen. Viele
brachen unterwegs zusammen. Aber unbarmherzig schlugen die Gendarmen
mit ihren Reitpeitschen auf die Armen ein, oder sie hetzten ihre großen
Schäfer- hunde auf sie. Nach zwei- stündigem Marsch gelangten die Deportierten am Abend ins eigentliche Gettolager. In der
„Schleuse“ hatten sie sich stundenlangen, entwürdi- genden Prozeduren zu un- terziehen. Alle Habe von ir- gendwelchem Wert wurde ihnen abgenommen: Ther- mosflaschen, Seifen,
Konser- ven, Taschenlampen, insbe- sondere sämtliche Medika- mente. Josef Herrmann aber war auf seine Herzmedizin dringend angewiesen. Die alten Menschen
mußten sichnackt ausziehen und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, bei der ihnen oft noch
Teile der Kleidung geraubt wurden. Auch ihr Gepäck sahen sie nie wieder. Nach Mitternacht wurden sie zusammengetrieben und in die „Dresdener
Kaserne“ gebracht. Angesichts der zukünftigen Unterbringung und des dort herrschenden „Infernos“ bra- chen spätestens jetzt alle
Hoffnungen zu- sammen, die sich vielleicht noch bei dem einen oder anderen an die „Heimeinkaufs- verträge“ und ihre Versprechungen geknüpft haben mochten. Der
größte Teil der Trans- portteilnehmer wurde . . . auf dem Dachbo- den untergebracht, d. h. die
Leute lagen auf dem Boden, in den ersten Wochen ohne ir- gendetwas; nur das, was sie auf
dem Leibe hatten. Die Klosetts waren in einem tiefer n Stockwerk, und die wenigsten
der alten Men- schen konnten sie rechtzeitig er reichen, zu- mal die meisten
von ihnen in den ersten Tagen an Diarrhoe (Durchfall) erkrankten. Es gab zu der
Zeit natürlich keinerlei Desin- fektionsmittel, nicht einmal Eimer oder Putztücher. So war es
für das Pflegepersonal sehr schwer, den Dachboden sauber zu hal- ten. Die
alten Leuten erkrankten fast alleund . . . in den ersten Wochen (starben) täg- lich
zwischen 180 und 200 Menschen!143 So berichtete die Überlebende Johanna Gott- schalk, zeitweise einmal stellvertretende
Lei- terin des Herrlinger Altersheimes und selbst Angehörige des Stuttgarter Transports.Josef Herrmann kam zu einem Zeitpunkt nach
Theresienstadt, als die Lebensbedin- gungen hier immer katastrophalere Ausma- ße annahmen.144 Die Zahl der Menschen im Lager, das
als Festungsstadt zuvor einmal7000 Einwohner hatte, stieg seit dem Winter1941/42 monatlich um etwa 6000 an. Im Juli1942 hatte sich dieser
Zuwachs auf mehr als25 000 gesteigert. Ende August war folglich die Überfüllung so schlimm, daß für die aus Stuttgart Deportierten nur noch
ein Quartier wie der erwähnte Dachboden zur Verfügung stand. Mitte September 1942 erreichte die Belegung des Gettolagers mit über 58
000Menschen ihren absoluten Höchststand. Nach dem Willen Heydrichs hatte sich der Stuttgarter Transport überwiegend aus alten Menschen
zusammengesetzt; das Durch- schnittsalter etwa der von Oberstotzingen aus Deportierten lag bei fast 70 Jahren. Die wenigsten von ihnen konnten
sich selbstversorgen, und das mit ihnen deportierte Pflegepersonal war in dem ungeheuren Cha- os hoffnungslos überfordert. Stundenlandes Anstehen
für meist verdorbenes Essen war den gebrechlichen Menschen meist nicht mehr möglich. Und selbst
wer das noch konnte, litt bei den knappen Rationen unbe- schreiblichen Hunger. Der Mangel an Hygie- ne führte dazu, daß
sich Infektionskrankhei- ten wie Typhus und Ruhr rasch ausbreiteten. Unter den deprimierten und schnell verfal- lenden alten Menschen setzte ein Massen- sterben ein. Von 82
ehemaligen Herrlinger Altersheimbewohnern starb fast jeder Dritte in den ersten Wochen. Hans Günther Adler, der selbst zu
den Lagerinsassen gehörte, schreibt über den Sommer 1942:145 Die Men- schen starben friedlos und
unbehütet, ohne Zuspruch, ohne freundlichen Blick. Dieser Jammer unterschied sich
in nichts von dem Verenden im „Revier“ eines jeden Konzen- trationslagers – es
war ein namenloses Ster- ben. Das alles hatte tödliche Methode.146 Die SS, der das Gettolager
unterstand, wußte ja, in was für Verhältnisse hinein abertausende Ju- den mit immer neuen Transporten
absicht- lich geschickt wurden; mehr noch: Sie er- zeugte bewußt diese todbringenden Zustän- de. Resi Weglein erinnert
sich:147 Die SS muß- te die größte Freude daran haben, uns aus- zuhungern. Anders sind alle
Vorgänge nicht zu erklären. Ich konnte nie begreifen, daß Menschen
soviel Vergnügen daran haben, ihre Mitmenschen leiden zu sehen. Als die Verhältnisse
im Lager die Propagandawir- kung des „Altersgettos“ Theresienstadt ge- fährdeten, sorgte die SS nicht für einen ra- schen
Stopp der Zugänge, sondern depor- tierte vom 19. September bis Ende Oktober1942 in einer großangelegten
Aktion etwa21 000 Theresienstädter Gefangene, die we- gen ihres Alters und Gesundheitszustandes eine besondere
Belastung für das Lager dar- stellten, in die neu eingerichteten Massen- vernichtungslager im Osten, vor allem nach Treblinka. In Treblinka wurden (seit
Juli1942) die Verschleppten in der Regel gleich nach ihrer Ankunft ermordet – in fingierten Duschkammern mit Hilfe der Abgase von Dieselmotoren. Die SS
in Theresienstadt ent- schied im Einzelfall selbst, wer von den über65 Jahre alten Gefangenen, die sich hatten registrieren lassen müssen, im Lager in der Festung bleiben sollte und wer
sofort in die Vernichtung kam, die sie als Verlegung in ein anderes Getto zu tarnen versuchte. Hans Günther Adler bescheibt in seinem Buch über
Theresienstadt diese „Alterstransporte“ im Herbst 1942:148 Beim Abtransport spielten sich furchtbare
Ereignisse ab, die selbst in der an Unmenschlichkeiten überreichen Ge- schichte
der Deportationen einmalig sind. Zunächst kamen die deutschen Juden an
die Reihe. Diese hilflos verlassenen Menschen wußten nicht, was sie
beginnen sollten, und waren gar nicht in der Lage, sich für das Unglück vorzubereiten.
Viele lagen in soge- nannten Krankenstuben und „Siechenhei- men“, in
sogenannten Zimmern und auf Dachböden, keiner Entschlüsse und Hand- lungen
fähig. Viele waren verfallen, krank, verlaust, halb verhungert, ihrer Sinne
nicht mehr mächtig, viele vom Tode gezeichnet, der sie gewiß in wenigen Tagen
an Ort und Stelle ereilt hätte. Aber nun mußten sie fort – ein Funke Erbarmens hätte sie
hier sterben lassen. Gnadenlos wurden sie eingetrieben und aufgelesen, auf
Bahren geschleift, auf Karren wie Abfall geladen. Man schleppte sie mit ihren
Lumpenbündeln bei Wind und Wetter auf die jämmerlichen skurrilen Lei- chenwagen, die man
wenige Monate zuvor aus allen Judengemeinden Böhmens und Mährens
als Verkehrsmittel nach Theresien- stadt geschafft hatte, und schob die
lebende Fracht zur Sammelstelle in der „Schleuse“. Zu tröstlichem Zuspruch war keiner da,
die Zeit eilte, und die sogenannte „Transporthil- fe“ wie die „Transportleitung“
sahen nur darauf, daß die genaue Anzahl der Opfer pünktlich zur
Stelle war. Man dachte gar nicht daran, Halbtote, Schatten
menschli- cher Wesen in Agonie, wegen „Transportunfähigkeit“ zurückzustellen. Zur
Verladung in Vieh- oder Personenwagen, 15 bis 20 in ein Abteil gepreßt, schien jeder noch
geeig- net. Josef Herrmann kam am 26. September 1942 in Theresienstadt ums Leben.149 Am selben Tag ging von hier
aus ein solcher Transport nach Treblinka, dem auch Angehörige der Stuttgarter Deportation vom 22. August zu- gewiesen worden waren,
darunter dieSchwägerin von Josef Herrmann, SophieDreifuß-Herzer.150 Vielleicht war auch Josef Herrmann für diesen Abtransport in die Er- mordung vorgesehen.
Kam Josef Herrmann in direktem Zusammenhang mit einer letz- ten Verschleppung ums Leben? Starb er an einer
Herzattacke, als er von seinem Todes- urteil, der Zuweisung zum Transport erfuhr? Oder war er kurz davor friedlos
und unbe- hütet zugrunde gegangen? Hat ihn noch eine Krankenschwester versorgt? Führten die feh- lenden Medikamente zu seinem Tod oder war er
verhungert? Wer kann davon berich- ten?151Nur wenig mehr als zwei Wochen später, am12. Oktober 1942, kam in Theresienstadt auch der Schwager von
Josef Herrmann, Abraham Preßburger, um.
Daß Josef Herrmann im Gettolager Theresi- enstadt ums Leben gekommen war, davon erfuhr der Nürtinger Bürgermeister Her-
mann Weilenmann aus einem Brief des Soh- nes Ludwig Herrmann vom 11. August1946.152 Liest man
unbefangen ein Schreiben des Nach-Nachfolgers von Hermann Weilen- mann vom 4. Juni 1962, dann scheint man Anfang der 60er Jahre beim Nürtinger Bür- germeisteramt selbst
über diesen knappen Kenntnisstand nicht mehr verfügt zu ha- ben.153 Auf die Anfrage der Archivdirektion Stuttgart, die sich
im Auftrag des Landtags darum bemühte, die Schicksale der jüdi- schen Bewohner des Landes in den
Jahren1933 bis 1945 aufzuklären, lautete die Ant- wort: Irgendwelche Aufzeichnungen den
jüdischen Familien sind nicht vorhan- den. Die in Frage stehenden Familien Hein-
rich, Josef Hermann (sic !) sowie Abraham Landauer sind teils 1933, 1936 und 1938 nach
Stuttgart bzw. Ravensburg verzogen. Sie leben nun in England und Amerika. Ihre Anschriften
sind hier bekannt. Frau Anna Frank, Witwe ist im Oktober 1941 nach Hai- gerloch
verzogen und dort auch gestorben. Nach den sich lange hinziehenden Wieder-Nach den
sich lange hinziehenden Wieder- gutmachungsverhandlungne Anfang dermögen von Josef und Heinrich Herrmann betrafen, muß man jedoch
über den Tod Josef Herrmanns informiert gewesen sein. An der Aufklärung seines Schicksals wie am Lebensweg aller 1933 in Nürtingen lebenden
Juden zeigte das Bürgermeisteramt nach die- ser Antwort und dem weiteren Schriftver- kehr mit der Archivdirektion nur
geringes Interesse, auch wenn man mit der Übermitt- lung besonders von Daten aus den Standes- amts- und Melderegistern schließlich
weiter- half. Führten hier bürokratisches Denken und Arbeitsüberlastung die Feder, oder han- delte es sich um einen Akt der
Verdrängung? Hat man sich für das Schicksal eines Mannes wie Josef Herrmann, der als angesehener Bürger über Jahrzehnte in der
Stadt lebte, nicht mehr „zuständig“ gefühlt, weil er 1936 von Nürtingen weggezogen war? War die Erinnerung so schnell
verblaßt?Wie bei Anna Frank schon angeführt, küm- merte sich auch die Nürtinger Heimatge- schichte lange nicht um das
Schicksal der ehemaligen jüdischen Einwohner, und so auch nicht um das von Josef Herrmann.154Da zudem zwei Brüder
von Josef Herrmann in Nürtingen lebten, vermischte sich die Er- innerung an seine Person nur zu leicht mit der Erinnerung an
diese.155Und als Pinchas Erlanger im Jahr 1984 auf der Suche nach Spuren seiner Großeltern und
Erinnerungen an sie Nürtingen besuch- te, stieß er auf Unwissenheit: Ich war nur ein einziges Mal
in Nürtingen, besuchte auch das Haus in der Schafstraße. Die
jetzigen Bewohner – eine katholische Jugendorgani- sation. Die Leute hatten keine Ahnung
von den ehemaligen jüdischen Besitzern des Hauses. 156
enEi Wiedergutmachungszahlung von 17 000 Mark wegen des Immobilienbesitzes, den Josef Herrmann 1936/37 in Nürtingen hatte
aufgeben müssen, mußte Anfang der50er Jahre die Eigentümerin des Hauses Ven- delaustraße 46, dem letzten Besitz Josef Herrmanns in der
Stadt, leisten. Ein Viertel dieser Summe übernahm die Stadt, die 1936 von Josef Herrmann die Grundstücke in der Ruthmännin erworben
hatte, Land, das jetzt in der Nachkriegszeit dringend als Bauland benötigt wurde. (Mehr dazu im Abschnitt über die
Wiedergutmachung.)Ludwig Herrmann, Fanny Erlanger sowie Fritz Essinger157, die Erben von Josef Herr- mann, erhielten 1959 vom Landesamt für Wiedergutmachung
Stuttgart nach langem Hin und Her den Bescheid, daß sie für entzogene Wertgegenstände
und . . . Wert- papiere gegen das Land Baden-Württemberg einen Anspruch auf Entschädigung in
Höhe von 5178 Mark hätten, wegen Schadens an Freiheit einen solchen in Höhe von 1800Mark.158
1963/64 erhielten sie wegen Scha- dens durch Entrichtung von Sonderabga- ben
. . . hier Judenvermögensabgabe und Heimeinkauf eine Summe von 855 Mark
und in einem Ergänzungsbescheid für ent- gangene Nutzungen der Wertpapiere einen Anspruch in Höhe von 433 Mark zugespro- chen.159
Das für Josef Herrmann vorgesehene Grab auf dem israelitischen Friedhof in Cannstatt wurde nicht belegt.