Der Nürtinger Karl Gerber (Jahrgang 1906), der als politisch Verfolgter des NS-Regimes viele Jahre im Polizeigefängnis Esslingen (Einlieferung: 5. Dezember 1939), im Gefängnis in der Büchsenstraße in Stuttgart ("Büchsenschmiere", Einlieferung: Mitte Januar 1940) und in den Konzentrationslagern Welzheim (Einlieferung: 24. Januar 1940), Dachau (Einlieferung: 12. Dezember 1940) und Ravensbrück (Einlieferung: 11. April 1941) verbracht hat und gegen Ende des Zweiten Weltkrieges auch noch zur SS-Sondereinheit Dirlewanger eingezogen wurde, schreibt Mitte der 50er-Jahre in seinen Erinnerungen, er habe im KZ Ravensbrück als "Revierangestellter" versucht, Sinti und Roma von Unterschriften, sich sterilisieren zu lassen, abzuhalten. Die Lagerleitung würde ihr Versprechen, sie dann zu entlassen, nicht halten. Hierbei agierte er als KZ-Häftling. Die Begebenheit wird als ein Beispiel geschildert, inwieweit und inwiefern man in so einer SItuation antifaschistische Aktivitäten entwickeln konnte. Laut eigener Aussage war er von 11. April 1941 bis 11. Januar 1945 im KZ Ravensbrück. Bis März 1944 war er auf einem Außenkommando in Trögen einegsetzt. Wegen eines Krankheitsausbruchs kam er wieder nach Ravensbrück. Als Rekonvaleszent war er im Krankenrevier "so eine Art Revierpfleger und habe Kurven gezeichnet, Puls gemessen".
Über das Männerlager Ravensbrück sagte er aus:
"Ich muß sagen, wir waren ein Lager, das hat man in den Konzentrationslagern so als »Räuberlager« bezeichnet, das angrenzende Männerlager. Das war ein ganz schlechtes Lager. Und dort war ein »Grüner« Lagerältester. Ich war ein Jahr lang der einzige politische Blockälteste. Und bis man da natürlich Verhältnisse hereingebracht hat, die natürlich etwas... Ich wurde dann auch abgelöst, weil ich eben... Nachdem man dahinterkam.
Und dann ging ich ins Strafkommando und auf die Komturei. Ich habe dem Obergruppenführer der Waffen-SS, Oswald Pohl, seine Villa gebaut. Und dann ging es nach Trögen, und von Trögen – dann bin ich zusammengebrochen – ging es ins Lager zurück."(März 1944) Er kam in das Krankenrevier:
"Und das Revier war immer im großen und ganzen in den Händen der »Roten«. Und das war natürlich eine Insel. Solange die »Grünen« im Revier waren, hatten wir jeden Tag einen Toten. Und so hatten wir am Ende noch in drei Monaten einen Toten. Das KZ-Revier unter dem Šíl – das war ein Ritter gegen Tod und Teufel –, das hat wahrscheinlich in der Geschichte der KZs seinesgleichen gesucht. Und dann kam der Doktor Lucas, und Doktor Lucas war natürlich eine Stütze. Der hat unbedingt mit zu den Häftlingen gehalten. Das kann man ruhig sagen. Er kam, und dann sagte er: »Solange ich in Ravensbrück bin, mache ich die Auschwitzer Methoden nicht mit.« Das war seine Grundhaltung."
Von dieser Zeit und in dieser Position und Umgebung muss die Niederschrift über die Sinti und Roma handeln, denn am 1. Januar 1945 kan Karl Gerber zur Sondereinheit Dirlewanger: Er sagte aus:
"Und dann gingen fünf Häftlinge zur Dirlewanger.
Und da wurde ich abends noch aufgerufen, und da hat mich der Doktor Lucas kommen lassen und hat gesagt: »Herr Gerber, wir haben Sie immer frei bekommen wollen«, bei mir war immer etwas im Gange, »aber es ist nicht gelungen, und nun gehen Sie«, was hat er gesagt, »zur Armee« oder zur »Wehrmacht«. Und dann habe ich gesagt: »Ja, Herr Obersturmführer.« Er hat zu mir gesagt: »Sind Sie nicht begeistert?« Dann habe ich gesagt: »Nein, ich bin jetzt fünfeinhalb Jahre im Lager, und ich habe keine Ursache, daß ich noch meine Haut zu Markte trage. Und außerdem bin ich ja krank, da man mich vorher als heeresuntauglich [+ eingestuft hat].« Und dann hat er gesagt: »Sehen Sie zu, daß Sie so schnell wie möglich diese Tore hinter sich bekommen.«»Diese Tore« hat er gesagt. »Ich glaube, wir verstehen uns da.« Dann habe ich zu ihm gesagt, daß der Krieg in einem Vierteljahr oder so aus ist. Es war ja da schon Januar, der 1. Januar."
Am 9. November 1944 war er bei einer Musterung zur Einheit Dirlewanger noch als heeresuntauglich abgelehnt worden.
"Und dann ging ich auf Transport nach Auschwitz. Das waren fünf »Asoziale« und »Grüne«, und da bin ich beigegeben worden."
"Ich bin zur SS-Bewährungssturmbrigade, das war eine Genickschußbrigade, Dirlewanger, die einzige SS-Bewährungsbrigade"
"In Auschwitz ging ich dann am 19. Januar, das war der letzte Tag der Räumung, ging ich in der SS- Uniform..."
"Ja, der eine hat eine SS-Uniform angehabt, der andere eine Wehrmachtsuniform. Ich habe eine italienische (SS, Anm. MW) Uniform gehabt, von einem Patroullienoffizier, ohne Litzen und so. Das war eben so ein Haufen, nicht. Und dann hieß es Kampfschule, es war die Gerichtsabteilung Dirlewanger. Ich war in Guben stationiert. Und danach kamen wir an die Neiße. Das war ein Sammelpunkt zur Auffüllung dieser Brigade. Das war dann die 36. Infanterie- SS-Grenadierdivision, wie es hieß, zum Partisaneneinsatz."
"Herr Gerber, wissen Sie etwas darüber, ob Doktor Lucas in Ravensbrück Sterilisationen an Zigeunern durchgeführt hat?
Zeuge Karl Gerber:
Ich war einmal dabei. Aber ich muß sagen, daß wir mit allen Mitteln dies sabotiert haben. Zunächst einmal waren keine Reinlichkeiten da, es waren keine Betten da. Und ich weiß, daß der Doktor Trommer derjenige war, der darauf gedrängt hat, daß da Differenzen waren und daß der Lucas das nicht gewollt hat und der Šíl auch nicht. Und da war ich einmal Zeuge. Und da muß ich sagen, die Zigeuner sind alle vorgeladen worden vor Suhren
Richter Hotz [unterbricht]:
Wer war Suhren?
Zeuge Karl Gerber:
Der Lagerkommandant von Ravensbrück. Also nicht der Lagerführer, sondern der Lagerkommandant.
Richter Hotz:
Ja. Und?
Zeuge Karl Gerber:
Und der hat ihnen gesagt, sie sollen das überlegen. Sie können herauskommen. Sie kommen zur Wehrmacht, wenn sie sich sterilisieren lassen. Wir haben natürlich zu den Zigeunern gesagt, und zwar vom Revier aus: »Unterschreibt nicht, ihr werdet nicht entlassen. Der Krieg geht aus. Unterschreibt nicht.« Und die Zigeuner haben gesagt: »Nein, wir unterschreiben nicht.« Dann sind sie wieder vorgeladen worden, und dann haben sie unterschrieben. Sie haben also praktisch ihre Sterilisierung dann beantragt, die Zigeuner.
Wir sind auf die Lagergasse gegangen und haben mit ihnen [+ gesprochen], wir haben alles versucht. Und wenn die Zigeuner nicht unterschrieben hätten, wären sie nach meiner Meinung nicht sterilisiert worden. Aber die Zigeuner, die haben dann schließlich auch erfahren, daß man da noch eine Drainage einsetzen kann. Und dann haben die Zigeuner natürlich – das war ja ein kinderfrohes Volk, ihre Kinder haben sie verloren –, dann haben sie an sich auch kein Interesse mehr gehabt. Die Zigeuner waren, um das zu sagen, antipolitische Elemente, die sich an sich für diese Dinge absolut nicht interessiert haben. Ich habe mit vielen Zigeunern in der Lagergasse... Wir haben zunächst einmal da erfahren von Auschwitz [unverständlich]
Richter Hotz [unterbricht]:
Ja, das genügt mir schon, ja.
Zeuge Karl Gerber:
Und die Zigeuner haben da teils auch mitgeholfen, diese Beutesachen abzuräumen und so weiter. Und die haben da teils ein gutes Leben geführt. Und kurzerhand, ich muß selbst sagen, daß die Zigeuner sich teils sogar gedrängt haben. Die wollten sogar die ersten sein, als sie sterilisiert worden sind, weil sie wirklich geglaubt haben, sie kämen heraus. Sie kamen ja nicht heraus.
Richter Hotz [unterbricht]:
Danke schön.
Zeuge Karl Gerber:
Ein paar sind herausgekommen, und dann war es aus.
Vorsitzender Richter:
Von seiten der Staatsanwaltschaft noch Fragen? Herr Rechtsanwalt Ormond? Herr Rechtsanwalt Raabe?
Nebenklagevertreter Raabe:
Herr Zeuge, Sie sagten, daß Sie einmal dabei waren, wie Doktor Lucas Zigeuner sterilisierte. Wie viele Zigeuner wurden damals an diesem Tag sterilisiert?
Zeuge Karl Gerber:
Nach meiner Meinung sechs.
Nebenklagevertreter Raabe:
Sechs. Haben Sie gehört, daß er das öfters machen mußte?
Zeuge Karl Gerber:
Ich war bloß einmal dabei. Das weiß ich nicht. Ich weiß bloß, daß er abgelehnt worden ist wegen seiner Weigerung und wegen seiner Sabotage."
Quelle: 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess
»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63
Landgericht Frankfurt am Main
126. Verhandlungstag, 11.1.1965
Vernehmung des Zeugen Karl Gerber
http://www.auschwitz-prozess.de/download.php?file=Gerber-Karl.pdf
ebenfalls in: http://www.auschwitz-prozess.de/index.php?show=Gerber-Karl
Website des Fritz Bauer Institutes, Geschichte und Wirklung des Holocausts, Tonbandmitschnitt des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses
Startseite: http://www.auschwitz-prozess.de/index.php
Tonbandaufzeichnung hören?
http://www.auschwitz-prozess.de/index.php
Weitere Quelle:
"Für die Widerstandskraft und den Überlebensmut der Häftlinge waren die ganz seltenen Gelegenheiten von ungeheurer Wichtigkeit, in denen sie sich für kurze Zeit einen Freiraum von der lückenlosen Überwachung und Schikane erobern konnten. Karl Gerber schildert mit jener eigenwilligen, teilweise schonungslosen Ironie, die seinen ganzen Bericht prägt, eine für Ravensbrück außerordentliche Begebenheit: In einer "Tingeltangel-Stunde" traten mehrere Rosa-Winkel-Häftlinge auf, die sangen und Opernarien parodierten. Eine Gruppe von Sinti und Roma, denen die SS ihre Instrumente nicht abgenommen hatte, spielte ungarische Tänze und "Weisen ihres Primas Sarasate", wie Gerber berichtet. Vergleichbare Überlieferungen aus Sachsenhausen dokumentieren, wie gefährlich diese kleinen kulturellen Ereignisse für die Häftlinge waren.
Diese für Überlebenskraft und Überlebensmut so unvergleichlich wichtige Episode soll zugleich meine Überleitung sein, in einigen Sätzen auch auf das Schicksal der Sinti und Roma im Männerlager einzugehen.
An den Sinto Franz Geisler erinnern sich Finkelmeier und Gerber gleichermaßen: "Der Lagerjüngste, kaum vier Jahre alt, besuchte uns alle Tage in der Schreibstube [des Reviers]. Er kam zur Tür herein, streckte seine Händchen vor und blieb stumm. Unser kleiner Freund schwieg immer. Wir konnten nichts von ihm erfahren, nicht einmal seinen Namen.," Bei insgesamt 292 Häftlingen findet sich in den Nummernbüchern ihre rassische Verfolgung als Sinto oder Rom vermerkt.
Die Mehrzahl von ihnen war mit dem letzten Transport aus Auschwitz-Birkenau wenige Stunden vor der Ermordung der verbleibenden 2.897 Männer, Frauen und Kinder in den Gaskammern von Auschwitz in der Nach auf den 3. August 1944 nach Ravensbrück überstellt worden. Mit dem gleichen Transport gelangten auch 490 Frauen und Kinder nach Ravensbrück. Es handelte sich dabei um ehemalige Wehrmachtsangehörige mit ihren Familienangehörigen. In Ravensbrück wurden sie getrennt nach Geschlechtern im Frauen- bzw. Männerlager untergebracht. Einige Jungen kamen zuerst mit ihren Müttern ins Frauenlager, wurden aber Ende Oktober ins Männerlager verlegt. Aus dem Männerlager wurde die Mehrzahl der Sinti und Roma im Zuge der "Teilevakuierung" Anfang März nach Sachsenhausen gebracht.
Der weitaus größte Teil der Sinti und Roma war deutscher oder österreichischer Nationalität, eine kleine Zahl stammte aus dem Gebiet der Sowjetunion, aus Ungarn, Polen und Holland; 15 galten als staatenlos. Allerdings war die Gesamtheit der Sinti und Roma, die das Männerlager durchliefen, mit Sicherheit höher, da fast nur die aus Auschwitz kommenden Sinti und Roma in den Nummernbüchern als solche gekennzeichnet wurden. Gerber erwähnt z.B. eine aus Buchenwald gekommene Gruppe und deren Weitertransport nach Mauthausen im Juli 1941."
Quelle: Der Rosa Winkel in Ravensbrück – Homosexuelle im Männerlager. Rede von Eberhard Zastrau zum 61. Jahrestag der Befreiung, in: http://www.rosa-winkel.de/ind, abgerufen am 28. Oktober 2013.
Besser: http://www.rosa-winkel.de/index.php?view=article&id=147
"Die besonders schweren Arbeitsbedingungen – alle Arbeiten mussten im Laufschritt erledigt werden – ließen den aus Dachau hierher verlegten Karl Gerber resümieren: "Wer in diesem Hetzjagen an Dachau zurückdachte, ... verspürte Heimweh.""
Quelle: Der Rosa Winkel in Ravensbrück – Homosexuelle im Männerlager. Rede von Eberhard Zastrau zum 61. Jahrestag der Befreiung, in: http://www.rosa-winkel.de/ind, abgerufen am 28. Oktober 2013.
"Erinnern wir uns ebenso an die "rassisch" Verfolgten in Ravensbrück, die Juden und die Sinti und Roma. Sowohl der jüngste als auch der älteste Häftling des Männerlagers gehörten einer dieser beiden Verfolgtengruppen an. Der Jüngste war der Sinto Franz Geisler, der Anfang August 1944 im Alter von vier Jahren aus dem "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau nach Ravensbrück verschleppt wurde. Seine Spur verliert sich im März 1945 im KZ Sachsenhausen."
Quelle: Gedenkveranstaltung am 17. April 2005, Redebeitrag von Eberhard Zastrau, in: http://www.rosa-winkel.de/index.php?view=article&id=149
dort auch Karl Gerber über einen Homosexuellen
Am 19. April 1945 konnte er aus der SS-Sonderformation desertieren.
Er schreibt dazu über seine Zeit im Revier von Ravensbrück: (ab März 1944 bis 1. Januar 1945) "'Wir haben (...) als Revierangestellte dagegen agitiert, wir haben den Zigeunern erzählt, daß in wenigen Monaten der Krieg zu Ende wäre" und daß sie trotz des Versprechens "der Lagerleitung nach der vollzogenenen Unfruchtbarmachung (...) ja doch nicht entlassen werden würden. (...) Sie haben unterschrieben. (...)" (
Quelle:
Hans-Peter Klausch: Antifaschisten in Uniform: Schicksal und Widerstand der deutschen politischen KZ-Häftlinge, Zuchthaus- und Wehrmachtsgefangenen in der SS-Sonderformation Dirlewanger. Bremen (Edition Temmen) 1993, S. 515. Darin wird als Quelle angegeben: "(Gerber, Karl: Dirlewanger (I. Fassung), Nürtingen o.J. (etwa Mitte der 50er Jahre entstandenes, unveröffentlichtes Manuskript, in Privatarchiv Karl Gerber (Nürtingen)"