Unsere Motivation für einen DenkOrt

Mehrere Jahre arbeitete die Initiativgruppe an dem Vorhaben, in Nürtingen ein Mahnmal für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus zu erstellen. Vor dem Hintergrund der vorliegenden sehr fundierten Erkenntnisse der Geschehnisse, denen die jüdischen Mitbürger, Sinti-Mitbürger, geistig und körperlich behinderten Menschen, Kommunisten, Zwangsarbeiter und noch weitere ausgeliefert waren und welche Schicksale sie erlitten haben, war es dringend an der Zeit, sie an einer öffentlichen Stelle, an einem Platz in der Stadt, im Gedächtnis zu halten. Die Überlegungen der Initiativgruppe gingen dahin, dass es wünschenswert und anzustreben wäre, ein eigenständiges künstlerisch gestaltetes Objekt aufstellen zu können, das eingebettet sein sollte in eine vor allem auch der jungen Generation zugänglichen und ansprechenden Präsentation und Dokumentation der Geschehnisse hier vor Ort und auf unsere Verantwortung jetzt und in Zukunft verweist. So kam es zu unserem DenkOrt.

 

Das waren unsere Beweggründe, einen DenkOrt zu realisieren:

Barbara Dürr:

"Die Stadt seiner Kindheit, seiner Jugend, darf Eberhard’s Schicksal nicht vergessen! Es ist dringend nötig, eine örtliche Gedenkkultur zu erschaffen, in der den hiesigen Opfern der Nazi-Herrschaft ein würdevolles Gedenken zugestanden wird."

Anne Schaude:

"Es darf nie wieder geschehen, dass Menschen über den Wert oder Un-Wert eines Menschenlebens entscheiden!
In der Zeit des Nationalsozialismus waren vor allem Pflegekräfte am Euthanasieprogramm beteiligt. Durch die unkritische Einstellung zu ihrem Beruf und dem absoluten Gehorsam gegenüber Obrigkeiten, verbunden mit der Einstellung, die Kranken von ihrem Leid erlösen zu wollen, wurde es möglich, die Krankenpflege zu missbrauchen. Schwestern und Pfleger beteiligten sich an der Vorbereitung, Begleitung und Entsorgung von Transporten mit körperlich und geistig behinderten Menschen in die Gaskammern. Sie töteten mit Überdosen von Barbituraten, mit Injektionen von Luft oder Morphium, mit Nahrungsentzug durch die so genannte Hungerkost, und beobachteten die Patienten bis zum Eintritt des Todes.
In meinem Beruf als Krankenschwester wird der pflegebedürftige Mensch in den Mittelpunkt ethischen Handels gestellt; und das nicht erst nach 1945! Der Ethikkodex für Pflegende beinhaltet auch die Achtung der Menschenrechte, einschließlich dem Recht auf Leben, Würde und respektvolle Behandlung der uns Anvertrauten. Ohne Rücksicht auf Alter, Behinderung oder Krankheit, Geschlecht, Glauben, Hautfarbe, Kultur, Nationalität, politische Einstellung, "Rasse" oder den sozialen Status, muss diese berufliche Tätigkeit ausgeführt werden, um Leiden zu lindern, Krankheit zu verhüten und Gesundheit zu fördern."

 

Michaela Saliari:
"Warum und seit wann ich dies tue?
Es gibt keinen Anfang, es gibt nur einen Prozess, eine Entwicklung, einen Weg. Ein Schritt nach dem anderen. Immer wieder neue Fragen, die sich zwangsläufig aus dem ergaben, was vorangegangen war.
Ich befasste mich längere Zeit mit den Fluchtgründen der Roma, die aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien zu uns kamen. Ich stellte mir schließlich irgendwann die Frage, wie es sich mit den deutschen Sinti und Roma verhält? Bei uns? Heute?
Die mich schockierende Erkenntnis, dass diese Menschen bei uns seit 1945 (immer noch!) ein Schattendasein, ein Leben im Verborgenen führen müssen, den selben Anfeindungen und Vorurteilen wie eh und je hartnäckig ausgesetzt sind, war Nährboden für weitere Fragen. Was sind Sinti und Roma und Jenische und …? Warum gibt es diese immer selben inneren Bilder, Assoziationen, wenn ich an Sinti, an Roma, an „Zigeuner“ denke? Wo kommen die her? Gab es Sinti zur Nazi-Zeit in und um Nürtingen? Und davor? Welches war ihr Schicksal? Gibt es Nachfahren?
Vergangenheit reicht bis ins „Eben-war-es-noch“ und Zukunft beginnt immer im nächsten Augenblick. Zukunft und Vergangenheit liegen nah beieinander; das Eine nicht ohne das Andere. Das Jetzt kann ich nur verstehen und für das Morgen ein gutes Saatbett bereiten, wenn das Dunkel der Vergangenheit erhellt, wenn das Zuunterste nach oben, ans Licht und an die Luft gebracht wird. Es ist eine Spurensuche mit dem Ziel, den gequälten, leidenden und ermordeten Menschen ihre Würde, dem Land diese seine Menschen und diesen Menschen ihr Land zurückzugeben.
Mein Dank gilt all den vielen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern!"

Manuel Werner:
"Wenn ich die Gedenkstele aus 15 mm Edelstahl für Paul Jordery an prominentem Platz an der Jordery-Linde sehe, werde ich nachdenklich. Paul Jordery, der in den 60er-Jahren zum Ehrenbürger Nürtingens ernannt wurde, nach dem auch die Paul-Jordery-Straße benannt ist und der Jorderyplatz, dem zudem eine Linde gepflanzt und gewidmet wurde, hat sicherlich Verdienste für die Städtepartnerschaft zwischen Nürtingen und Oullins. Sein Vater ging im KZ Bergen-Belsen an Typhus zugrunde, weil er Mitglied der Front National war, was aber mit dem Ehrenmal nichts zu tun hat. Wieso aber gibt es immer noch kein ähnlich würdiges Gedenkobjekt für die Opfer des Nationalsozialismus in Nürtingen an ähnlich prominenter Stelle? Am Geld kann es also nicht liegen. Im Vergleich finde ich ein solches Mahnmal mehr angebracht, ohne die Verdienste Paul Jorderys schmälern zu wollen.
"Der isch de Kamee nauf!" bekam man in Nürtingen zu hören, wenn man nach dem Schicksal vom "Eberhardle" (Eberhard F.) fragte. Ist das witzig?
"Das ist alles schon so lange her, da muss endlich mal Schluss sein!", hört man auch heute immer wieder. Wieso wird dann aber jedes Jahr der Volkstrauertag für die Opfer der Kriege prominent begangen? Wieso hat bereits der 1950 verstorbene Werner Gross diesen Satz hören müssen, als er hier - wie Peter Härtling dies formulierte - gegen den allgemeinen Gedächtnisverlust anrannte? "Das ist alles schon so lange her, da muss endlich mal Schluss sein!": Wer solches sagt, der hat in der Regel noch gar nicht angefangen.
Doch die Erinnerung braucht uns - und die Zukunft auch

Margret und Reinhard Fuchs:

"Wir leben seit 1972  in Nürtingen. Im Laufe der Jahre haben wir Nürtinger nach den Geschehnissen im Nationalsozialismus vor Ort befragt. Ausführliche Informationen erhielten wir wenig.
Das Buch von Manuel Werner:“Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus“ gab uns erste ausführliche Hinweise“.
Unser Sohn besuchte während seiner Schulzeit die Gedenkstätte Grafeneck bei Münsingen. Er erfuhr, dass in dieser „Anstalt“ im Jahr 1940 eine große Zahl von geistig- körperlich- und psychisch behinderte Menschen vergast wurden.
Er erfuhr nicht, dass auch eine Anzahl von Opfern aus Nürtingen und Umgebung darunter waren.
Wir arbeiten in dieser Gruppe mit, weil wir möchten, dass

  •  die Verfolgung der Menschen aus Nürtingen und Umgebung während des Nationalsozialismus aufgearbeitet wird,
  •  die Opfer durch Nennung ihrer Namen ihre Würde zurückerhalten,
  •  die heutigen Kinder und Jugendlichen einen Zusammenhang zwischen allgemeiner geschichtlicher Aufklärung über die Verbrechen im „Dritten Reich“ und den Geschehnissen in ihrer Stadt herstellen können.

Es müsste sich doch in Nürtingen (wie andernorts auch) ein Ort des Gedenkens an- und der Aufklärung über die Opfer des Nationalsozialismus finden lassen."

Stefan Kneser:
"Die Verbrechen der NS-Zeit beschäftigen mich – wie viele meiner Generation – seit früher Jugend. Wie konnte das passieren? Wer waren die Opfer? Warum machten so viele mit? Warum gab es so wenig Widerstand? Als Geschichtslehrer sehe ich es als eine meiner wichtigsten Aufgaben, das Interesse an diesen Fragen auch bei heutigen Jugendlichen zu wecken. Den Ansatz der Gedenk-Initiative, an die Nürtinger NS-Opfer mit Respekt und Trauer zu erinnern und ihre konkreten Schicksale öffentlich zu machen, finde ich daher gut und richtig und der Unterstützung wert."

Jakob Fuchs:
"Ich bin in Nürtingen geboren und habe hier bis zur zehnten Klasse (2003) das Gymnasium besucht. Schon als Schüler wunderte ich mich, dass die Zeit des Nationalsozialismus erst sehr spät, und dann auch nur sehr allgemein behandelt wurde. Man erfuhr von den Ereignissen in Berlin und München, Dachau und Buchenwald. Über die Zeit Nürtingens im Nationalsozialismus konnte ich dagegen wenig in Erfahrung bringen. Das Thema „1933-1945“ blieb somit abstrakt und ehrlich gesagt aus Schülerperspektive auch ziemlich langweilig.
In meinem Studium in Tübingen tauchten dagegen immer wieder die Namen von Nürtingerinnen und Nürtingern aus dem besagten Zeitraum auf. Wie wäre es, mehr über sie zu erfahren? Nicht, um sie zu glorifizieren oder zu beurteilen, sondern um zu zeigen, dass es unsere Stadt, wie jede andere auch, von 1933-1945 gegeben hat. Welche Hoffnungen und Träume hatten diese Menschen, welches Leid und welche Ängste mussten sie erfahren?
Die Arbeit der neugegründete Gedenkinitiative ist mir also aus einem doppelten Grund wichtig: aus Respekt vor den Verfolgten, denen bislang zu wenig gedacht wurde – und zugleich als Dienst an den späteren Generationen. Wenn wir später Lebenden die NS-Zeit nur aus weit entfernten Erzählungen kennen, ist es wichtig dafür zu sorgen, dass es diese auch über den eigenen Ort gibt und dass sie wahrhaftig erzählt werden."

Und Sie?